Ilse Aichingers Gedicht „Gebirgsrand“

ILSE AICHINGER

Gebirgsrand

Denn was täte ich,
wenn die Jäger nicht wären, meine Träume,
die am Morgen
auf der Rückseite der Gebirge
niedersteigen, im Schatten.

1978

aus: Ilse Aichinger: Verschenkter Rat, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1978

 

Konnotation

Damit die Wörter wieder notwendig werden“, hat die 1921 in Wien geborene Ilse Aichinger in einem ihrer Essays notiert, „müssen sie ihre Lautlosigkeit zurückgewinnen“. In einem Zeitalter, „in dem alles erzählt und nichts angehört wird“, müsse man sich in der „genauesten Art des Beobachtens“ üben, dem „Nur Zuhören“.
Die in der Gruppe 47 berühmt gewordene Autorin hat sich seit den 1960er Jahren auf eine Poetik des Schweigens berufen. Auch ihr Gedicht vom „Gebirgsrand“ siedelt sich an in dieser Lautlosigkeit, nahe bei den Träumen und einem verborgenen Schattenreich, das auf „der Rückseite der Gebirge“ liegt, den schnellen Blicken und Definitionen entzogen. Das Ich kann offenbar wieder Hoffnung schöpfen, wenn die „Jäger“ aus der Sichtbarkeit heraus treten und von den Gipfeln „niedersteigen“. Aber kann sich das Ich, das sich auf seine Träume besinnt, wirklich in Sicherheit wiegen? In den schönen Paradoxien des Gedichtbandes Verschenkter Rat (1978), in dem man „Gebirgsrand“ findet, bleibt vieles offen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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