INA SEIDEL
Die lange Übung
Du wirst vielleicht durch lange Übung langsam
die ersten Zeilen des Gebetes lernen.
Wenn du sie kannst, wird er sich dann entfernen
aus dem Bereich der leicht gesagten Worte. –
Und diese ersten Zeilen des Gebetes
sind alles was du mitnimmst auf die Reise.
Sie bleiben die nie aufgezehrte Speise
für dich an dem von ihm bestimmten Orte.
Du wirst die ersten Zeilen des Gebetes
mitbringen, wenn du wiederkehrst von drüben,
und ihrer mächtig wirst du weiter üben –
und einmal wird Gebet sein ohne Worte. –
nach 1920
aus: Ina Seidel: Gedichte. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1955
Wer die Gedichte Ina Seidels (1885–1974) in den Blick nimmt, der kann nicht absehen von der politischen Hypothek, die auf diesem Werk liegt. In schwer erklärbarer Naivität hat die Nicht-Nationalsozialistin Seidel dereinst den Triumph des Regimes begrüßt: „Wo wir heute als Deutsche stehen, als Väter und Mütter der Jugend und der Zukunft unseres Reiches, da fühlen wir heute unser Streben und unsere Arbeit dankbar und demütig aufgehen im Werk des Auserwählten der Generation – Adolf Hitler.“ Es gibt also gute Gründe, sie als „eine Wegbereiterin der völkisch-ideologischen Anschauung des Nationalsozialismus“ zu disqualifizieren.
Ina Seidel auf eine Rolle als NS-Poetin festlegen zu wollen, würde indes den substanziell-religiösen Teil ihres Frühwerks ausblenden. Diese christologisch-empfindsamen Gedichte der ersten Werkphase sprechen von einer Innigkeit der Gottesnähe und der Wahlverwandtschaft von Gedicht und Gebet.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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