Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Großer Vogel“

JOACHIM RINGELNATZ

Großer Vogel

Die Nachtigall ward eingefangen,
Sang nimmer zwischen Käfigstangen.
Man drohte, kitzelte und lockte.
Gall sang nicht. Bis man die Verstockte
In tiefsten Keller ohne Licht
Einsperrte. – Unbelauscht, allein
Dort, ohne Angst vor Widerhall,
Sang sie
Nicht – –,
Starb ganz klein
Als Nachtigall.

1933

 

Konnotation

Verlorener, erbarmungswürdiger kann eine Kreatur kaum sein. Einem der gewaltigsten Sänger, der Nachtigall als „Königin der Nacht“, wird die Freiheit geraubt – so verstummt der Vogel für immer. Innerhalb eines reichen Repertoires an skurrilen, gelassen-heiteren Versen nimmt dieses bewegende Gedicht des virtuosen Reimkünstlers und modernen Bänkelsängers Joachim Ringelnatz (1878–1934) eine Ausnahmestellung ein.
Dem gefangenen Vogel bleibt nur der Akt der Verweigerung. Man kann nicht umhin, dieses 1933 entstandene Gedicht als erschütterndes Sinnbild der verzweifelten Lage der Poesie im „Dritten Reich“ zu lesen. Ringelnatz’ Theater-Auftritte waren schon ab 1930 von pöbelnden SA-Trupps gestürmt worden. Nach Hitlers Triumph wusste Ringelnatz, was er zu erwarten hatte. Er reagierte wie seine Nachtigall – durch Tonlosigkeit. Nachdem ihm die Nazis Auftrittsverbot erteilt hatten, starb er völlig verarmt am 16. November 1934.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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