Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Lesebuch“

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Lesebuch

Wunderlichstes Buch der Bücher
Ist das Buch der Liebe;
Aufmerksam hab’ ich’s gelesen:
Wenig Blätter Freuden, Ganze Hefte Leiden,
Einen Abschnitt macht die Trennung.
Wiedersehn! ein klein Kapitel
Fragmentarisch. Bände Kummers
Mit Erklärungen verlängert,
Endlos ohne Maas.
O! Nisami! – doch am Ende
Hast den rechten Weg gefunden;
Unauflösliches wer löst es?
Liebende sich wiederfindend.

1816

 

Konnotation

Im Januar 1816 entstanden, bildet dieses Gedicht den poetischen Nukleus des „Buchs der Liebe“ in Goethes West-Östlichem Divan. Der Leser des „wunderlichsten Buchs der Bücher“ gelangt hier zu einer traurigen Erkenntnis: Im „Buch der Liebe“ sind viel mehr Kapitel und Blätter dem Liebesleid, der Enttäuschung und der Trennung gewidmet als dem ersehnten Glück. Der Kummer ist der Protagonist in diesem „Buch“.
Die Bilanz der Lektüre erfolgt in dicht gedrängten Stichworten. Was wie freie Rhythmen anmutet, sind in Wahrheit drei- und viertaktige Trochäen. Goethe (1749–1832) hat sich hier am Gedicht eines türkischen Autors orientiert. Seine bewundernde Reminiszenz gilt indes dem großen persischen Dichter Nisami aus dem 12. Jahrhundert. Der Schlussvers setzt dann – gegen die Dominanz des Kummers – ein Zeichen der Hoffnung. Die Goethe-Forschung hat das Gedicht vor dem Hintergrund seiner Begegnungen mit Marianne von Willemer 1814/1815 gelesen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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