Jürgen Theobaldys Gedicht „Blues aus Bayern“

JÜRGEN THEOBALDY

Blues aus Bayern

Mein Großvater war ein rollender Stein
er rollte die Alpen herab
zog eine breite Spur durch München
pflanzte keinen Baum las kein gutes Buch
tötete seinen ärgsten Feind nicht
machte sieben Kinder und verschwand
hinter dem Bodensee in der Schweiz
in einem kahlen ausgeräumten Zimmer
mit nichts als einer Menge Bierflaschen
auf dem Boden neben der Matratze

1975

aus: Jürgen Theobaldy: Zweiter Klasse. Gedichte. Rotbuch Verlag, Berlin 1975

 

Konnotation

Das amerikanische Soul-Quintett The Temptations landete im Jahr 1972 einen Welthit mit dem Titel „Papa was a rolling stone“. Der im Song apostrophierte Vater erweist sich dort als ungebundener Nomade und Streuner, ein treuloser Geselle, der sich wenig um die eigene Familie kümmert. Nebenbei zeugt er noch außereheliche Kinder. Diese Geschichte eines kaum greifbaren (Groß)Vaters greift der 1944 geborene Alltagsdichter Jürgen Theobaldy in einem „Blues“ auf.
Theobaldys um 1974 entstandener „Blues aus Bayern“ verfügt über alle Tugenden des alltäglichen Erlebnisgedichts, das in den 1970er Jahren als Poesie der „Neuen Subjektivität“ reüssierte. Ein Ton nahe der Umgangssprache verbindet sich mit dem Rückgriff auf Themen und Motive der Pop-Kultur und einem dezidiert erzählerisch-kommunikativen Gestus. Es ist ein gewöhnliches Nachkriegsschicksal, das vom lyrischen Ich in diesem lässigen „Blues“ besungen wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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