KARL KROLOW
Vorgang
Liebe ist Addition
von Angst und Gier.
Spürst du, wie der Hohn
wächst zwischen dir und mir?
So oder so ist’s recht.
Genug ist nie genug.
Dringt Geschlecht in Geschlecht:
Lust ist wie Selbstbetrug.
Bitter der Liebesschrei,
kurz wie ein Spermastoß,
Angst und Gier sind dabei
Zeugen des Vorgangs bloß.
nach 1990
aus: Karl Krolow: Die zweite Zeit. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1995
Mit fortschreitendem Alter wuchs die Neigung des Lyrikers Karl Krolow (1915–1999) zum harten Sarkasmus. Besonders im Genre des Liebesgedichts spezialisierte sich Krolow auf die kalte Desillusionierung der Glücksempfindung. Als gehe es darum, seinen Lesern jede noch so süße Rest-Illusion auszutreiben, rubriziert der Dichter die Liebe als recht übles Gefühls-Amalgam.
Der Liebesakt wird zum bloßen biologischen „Vorgang“ reduziert. Was auch immer die Liebe als Passion auszeichnen könnte – etwa Hingabe oder Leidenschaft – wird vom Dichter kühl negiert, er registriert ausschließlich „Angst“, „Gier“ und „Selbstbetrug“. Unbarmherziger ist selten über die Liebe geschrieben worden als in diesem Gedicht aus dem Spätwerk Krolows. Hier spricht möglicherweise – man könnte Kategorien der psychoanalytischen Literaturbetrachtung bemühen – ein verletzter Narziss, dem die Liebe nur Enttäuschungen bot.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
Schreibe einen Kommentar