Katharina Hackers Gedicht „Namen I“

KATHARINA HACKER

Namen I

die Uhr ist stehengeblieben und
eine Spinne schickt sich an
die Wand zu überqueren früh
am Morgen ein Vogel zwitschert
aber die Stille ist vollkommen
sie geht weiter als alles
was wir befürchteten oder hofften
über die Namen hinaus die wir riefen
als wir vor dem Haus warteten und
einer sagte ich gehe jetzt ich
will nicht länger warten
und für einen Augenblick zieht sich
die Zeit in sich selbst zurück
als wollte der Körper selbst
uns beim Namen nennen
solange wir leben
ins Buch des Lebens eingetragen

nach 2000

aus: Katharina Hacker: Überlandleitung. Prosagedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2007

 

Konnotation

Ein Augenblick des Übergangs, des Innehaltens zwischen zwei Lebensabschnitten. Die ansonsten unaufhaltsam vorwärtsschreitende Zeit scheint in diesem lyrischen Moment suspendiert, die alte Welt des lyrischen „Wir“ ist ins Wanken geraten. Katharina Hacker (geb. 1967), die als Romanautorin bekannt geworden ist, spricht in diesem Prosagedicht von der elementaren Wirkung einer Stille, die eine andere Wahrnehmung der Welt ermöglicht.
Nachdem der Augenblick der Erfahrung der Stille kurz umrissen ist, verwandelt sich die Szene in ein Mysterium. Es kommt die Magie der Namen im Spiel, ein emphatisches Sagen der Namen, das zum Lebensursprung des Subjekts zurückführt. Die Wahrnehmung der Stille hat einen neuen Erfahrungsraum eröffnet. Am Ende steht als Reflexion auf die Vergänglichkeit ein sehr religiöses Hinweis auf das Eingetragensein im „Buch des Lebens“. Diese jüdische wie christliche Denkfigur geht von der Vorstellung eines göttlichen Archivs aus, in dem die Namen aller Gott wohlgefälligen Menschen eingetragen sind.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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