LIOBA HAPPEL
Der Morgen
Immer wieder dem schwarz Verknoteten entkommen
Immer wieder Licht über der ausgezogenen Haut
Dieses zärtliche Tier steht als eine Jungfrau im Fenster
Hält ihr glänzendes neugeborenes Kind feil
1990er Jahre
aus: Der Schlaf überm Eis. Schöffling &Co., Frankfurt a.M. 1995
Der Anbruch eines neuen Tages kann von innerer Bedrückung und notorischem Fatalismus entlasten, das Licht des Morgens zu einer neuen, helleren Perspektive des eigenen Lebens verhelfen. Das lyrische Subjekt im Gedicht von Lioba Happel (geb. 1957) scheint sich zu dieser Gelöstheit vorarbeiten zu wollen, um das „schwarz Verknotete“ der Existenz hinter sich lassen zu können.
Aber „der Morgen“, der in diesem Gedicht aus den 1990er Jahren heraufdämmert, ist belastet mit ambivalenten mythischen Zeichen, die es kaum erlauben, Atem zu holen in der existenziellen „Verknotung“. Die Rede von der „ausgezogenen Haut“ ist ein Bild des Schmerzes. Und auch wenn in den beiden folgenden Zeilen die biblischen Figuren des neugeborenen Jesuskinds und der Gottesmutter aufgerufen werden, dann wird in diesem kryptischen Vierzeiler doch keine Heilsperspektive sichtbar.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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