MARION POSCHMANN
Der deutsche Nadelbaum
Fieberkurven, verrußt, spitzten sich zu, der Berg
setzte Tarnkappen auf, färbte die Wipfel nach,
schwärzer ragten sie, Warndreiecke, über dir,
schärfer gingst du im Gegenlicht,
ausgeschnitten, die Nacht brach schon durch dich hindurch,
Dunkelziffer der Wald, reizbare Zickzackluft,
Schatten gruben sich tief, nadelte Dämmerung
auf die Äste, ins Unterholz.
Waren Bäume erlaubt, waren sie unerlaubt?
Trug man Papptannen, trug Pesthüte fort? Ich sah,
du verzweigtest dich, bogst, breitetest Arme aus.
Wind strich über die Gipfel hin.
2001/2002
aus: Marion Poschmann: Grund zu Schafen. Frankfurter Verlags-Anstalt, Frankfurt a.M. 2004
Die 1969 geborene Dichterin Marion Poschmann weiß um die technisch-ernüchterten Ausgangsbedingungen moderner Naturpoesie. In ihrem Gedichtband Grund zu Schafen (2004) demonstriert sie sehr kunstvoll, wie ein Naturgedicht in klassischer Odenstrophe unter modernen Erkenntnisbedingungen aussehen könnte. Hier werden alte naturlyrische Motive – wie das „Rasenstück“ oder der „deutsche Nadelbaum“ – heraufgerufen, aber die traditionelle Verschmelzung von Subjekt und Natur findet nicht statt: Zu detailliert ist das Wissen um die technische Instrumentalisierung der einst unversehrten Landschaft.
Das schon von Bertolt Brecht (1898–1956) skeptisch begrübelte „Gespräch über Bäume“ wird hier fortgesetzt, aber jedwede romantisierende Haltung wird durch Fragen und durch die Nennung von Details aus der industriellen Lebenswelt konterkariert. Der Nadelbaum ist nicht mehr zu denken ohne „Warndreiecke“ und „Dunkelziffern“ – gleichwohl besteht im „Waldinneren“ (eine Kapitelüberschrift bei Poschmann) seine suggestive Macht fort, denn seine dichten Verzweigungen erinnern an „Tarnkappen“ und „Pesthüte“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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