Matthias Claudius’ Gedicht „Die Sternseherin Lise“

MATTHIAS CLAUDIUS

Die Sternseherin Lise

Ich sehe oft um Mitternacht,
Wenn ich mein Werk getan
Und niemand mehr im Hause wacht,
Die Stern am Himmel an.

Sie gehn da hin und her zerstreut
Als Lämmer auf der Flur;
In Rudeln auch, und aufgereiht
Wie Perlen auf der Schnur

Und funkeln alle weit und breit,
Und funkeln rein und schön;
Ich sah die große Herrlichkeit,
Und kann mich satt nicht sehn…

Dann saget unterm Himmelszelt
Mein Herz mir in der Brust:
„Es gibt was Bessers in der Welt
Als all ihr Schmerz und Lust.“

Ich werf mich auf mein Lager hin
Und liege lange wach;
Und suche es in meinem Sinn
Und sehne mich darnach.

um 1800

 

Konnotation

Das Lesen in den Gestirnen des Nachthimmels entwickelte sich schon in der menschlichen Frühgeschichte zu einer Kultur der Weissagung. Bereits die „Weisen aus dem Morgenland“, von denen die christlichen Evangelien berichten, entdeckten in den Konstellationen der Sterne das Außerordentliche, so auch den Aufgang des Sterns, der vom „neugeborenen König der Juden“ zeugt. Auch die „Sternseherin Lise“, die der fromme Pastorensohn und Dichter Matthias Claudius (1740–1815) erfunden hat, entziffert die Sterne am „Himmelszelt“ als Zeichen für etwas Größeres.
Die Sternbilder verweisen in diesem um 1800 entstandenen Gedicht auf eine höhere Ordnung, auf eine „Herrlichkeit“, die jenseits irdischer Empfindungen von „Schmerz und Lust“ liegt. Das Staunen über die astralen Erscheinungen ist eine religiöse Urszene. Der Blick zu den Sternen weckt die zunächst noch unbestimmte Sehnsucht nach der Einkehr in ein „Besseres“ – von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zum religiösen Erweckungserlebnis.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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