MAX DAUTHENDEY
Drinnen im Strauß
Der Abendhimmel leuchtet wie ein Blumenstrauß,
Wie rosige Wicken und rosa Klee sehen die Wolken aus.
Den Strauß umschließen die grünen Bäume und Wiesen,
Und leicht schwebt über der goldnen Helle
Des Mondes Sichel wie eine silberne Libelle.
Die Menschen aber gehen versunken tief drinnen im Strauß,
Wie die Käfer trunken und finden nicht mehr heraus.
um 1890
Der literarische Weltreisende Max Dauthendey (1867–1918) war ein Enthusiast der Farben. Der Sohn eines berühmten Fotografen, der in Würzburg aufwuchs, wollte das Werk seines Vaters nicht fortsetzen und nomadisierte statt dessen als Maler und Dichter in einem unruhigen Wander- und Reiseleben über alle Kontinente. Seine Gedichte entwerfen opulente Stimmungsbilder, oft ornamentiert durch ein impressionistisches Farben-Mosaik.
Das Bild des Abendhimmels wird hier gleichgesetzt mit den einzelnen Bestandteilen eines gewaltigen Blumenbuketts. Die Naturzeichen werden in positive Farbwerte aufgelöst – und mit einem gleich viermal strapazierten „wie“-Vergleich in ein leuchtendes Panorama eingefügt. Das melancholische Ende setzt einen starken Kontrast zur Farbfreudigkeit des Bildes. Denn hier artikuliert sich ein Gefühl der Weltverlorenheit – mitten im leuchtenden „Strauß“ bewegen sich die Menschen wie orientierungslos taumelnde Käfer.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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