PETER HACKS
Schneezeit
Was soll Materie, wo Menschen hausen?
Das Wasser fror zu Schmutz. Der Winter war,
Schon als ich jung war, mir ein rechtes Grausen.
Die Hochbahn klappert laut und sonderbar.
Die Fußabtreter miefen auf den Treppen,
Unten ums Eck weiß ich ein Biercafé.
Ein Kind läßt sich auf einem Schlitten schleppen.
Ein Moppel riecht erfreut am feuchten Schnee.
Ein Wirt hat mir ein kaltes Bier gezapft.
Vor einem Himmel, hell mit Rauch verhangen,
Stehn wie aus schwarzem Glas, weiß überfangen,
Die kahlen Bäume. Trotzig blickend stapft
Der Proletarier mit vergrabnen Händen
Die Gas-AG schreibt fette Dividenden.
nach 1990
aus: Peter Hacks: Werke In fünfzehn Bänden. Bd. 1 – Die Gedichte. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2003
Über den Dichter und Dramatiker Peter Hacks (1928–2003), den letzten Repräsentanten einer kommunistischen Ästhetik in Deutschland, hat sein Konkurrent und „Hauptfeind“ Heiner Müller (1929–1995) einmal gesagt: „Ihm war zeit seines Lebens kalt.“ Ein Befund, der durch die trostlose Winterszene dieses Gedichts verifiziert wird. Schmutz und Lärm, Matsch und Mief bilden hier eine Wintertags-Kulisse, der nur noch mit Trotz oder mit Gelassenheit zu entkommen ist. Aber selbst in der „Schneezeit“, die für Hacks nach dem Untergang der DDR angebrochen war, fand er Grund genug für grimmige Ironie.
Bleicher und unattraktiver kann ein neu vereinigtes Land kaum sein als in diesem nach 1990 entstandenen Gedicht. Selbst die „Materie“ tritt den Menschen feindselig gegenüber. Der anachronistisch gewordene Held des Sozialismus, der „Proletarier mit vergrabnen Händen“, wendet sich ab. Die letzte Zeile liefert dann wie zum Hohn eine antikapitalistische Pointe: „Die Gas-AG schreibt fette Dividenden.“ Selbst die Stillung der Grundbedürfnisse unterliegt also dem kapitalistischen Verwertungszwang.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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