PETER RÜHMKORF
Drei Variationen über das Zeitgedicht
Das Zeitgedicht, das Zeitgedicht,
ist schon ein Tutmirleidgedicht,
mit Kunst geschliffen und gefeilt,
entgeht ihm, wie die Zeit enteilt,
ojeh!
Das Zeitgedicht, das Zeitgedicht,
so schnell wie Zeitung kann es nicht,
weil wo es sich mit Sinn verfaßt,
ist prompt der Drucktermin verpaßt,
oweh!
Das Zeitgedicht, das Zeitgedicht,
hat nur ein kurzes Lebenslicht,
und wenn es auch die Wahrheit spricht,
man dankt’s ihm nicht!
Olé!
nach 2005
aus: Peter Rühmkorf: Paradiesvogelschiß, Rowohlt Verlag, Reinbek 2008
In den 1960er Jahren hatte Peter Rühmkorf (1929–2008) für einen „modernen nachbrechtischen Typus des Aufklärungsgedichts“ plädiert. Schroffe Kritik übte er damals schon an kurzschlüssig-aktualitätsversessenen Gedichten, in denen die Sprache zum „didaktischen Demonstrationsmedium“ schrumpfe. Der späte Rühmkorf, inspiriert durch die Volksliedstrophen Heinrich Heines und das lockere Parlando des „Stabreimmediziners“ Gottfried Benn, setzte seine ironischen Abgesänge auf die Erkenntnisanstrengungen des „Zeitgedichts“ fort.
Auch auf die Gefahr hin, „noch ein paar weitere Zentimeter unter Niveau (zu) gehen“, hatte sich Rühmkorf in seinem letzten Band Paradiesvogelschiß (2008) eine Poetik der absoluten Simplizität verordnet. Diese Verheißung lyrischer Schlichtheit gehörte indes zu den Finten eines Autors, der in seine wie beiläufig gesprochenen Lässigkeiten stets dialektische Volten und unbotmäßige politische Pointen einzuschmuggeln vermochte. Über die geringe Haltbarkeit politisch motivierter Dichtung machte er sich dabei keine Illusionen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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