Peter Rühmkorfs Gedicht „So müde, matt, kapude“

PETER RÜHMKORF

So müde, matt, kapude

So müde, matt, kapude,
dem Abtritt nicht mehr fern –
Da steht der Abendjude
mit seinem goldnen Stern

Von seinem Schächerorden
fällt ihm ein Licht voraus:
Auf Erden nichts geworden,
im Himmel nicht zuhaus.

Uns Um-und-Umgescheuchten
scheint das vertrauter Schein –
Im Dunkel ist gut leuchten,
am Morgen – was wird sein?

Da ziehen die Sprücheklopfer
zu Felde wie gewohnt,
da sagen die Täter, die Opfer
hätten sich doch gelohnt.

Kommt, laßt uns an den Särgen
die Wahrheit messen bis sie paßt –
Was du hierzuland zu verbergen
ist was du zum Rausschreien hast.

1986

aus: Peter Rühmkorf: Einmalig wie wir alle, Rowohlt Verlag, Reinbek 1989

 

Konnotation

In einem 1986 geführten Briefwechsel mit dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki bekam der Dichter Peter Rühmkorf allerlei freundliche Worte über sein Gedicht „So müde, matt, kapude“ zu hören, das kurz davor entstanden war: Das Gedicht sei charmant, gleichwohl nicht ganz verständlich und nicht ganz überzeugend, konstatierte der Kritiker im Blick auf Rühmkorfs Version der unheilvollen Geschichte vom Ewigen Juden.
Die süße Melodie der Volksliedstrophe und die melancholische Leier des Bänkelsängers deuten auf historische Schrecknisse: Das Bild vorn ruhelos wandernden „Abendjuden“, dem der „goldene Stern“ anhaftet, verweist auf den „gelben Stern“, das tödliche Symbol für antisemitische Ausgrenzung. In den letzten beiden Strophen liefert Rühmkorf, Jahrgang 1929, eine explizite politische Ausdeutung der Szene. Der epochale Shoah-Film von Claude Lanzmann, so Rühmkorf in seiner Antwort an Reich-Ranicki, hat den Anstoß für dieses Gedicht geliefert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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