RAINER MARIA RILKE
Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz
Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz,
an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen;
du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen,
du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen,
du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen,
du dunkles Netz,
darin sich flüchtend die Gefühle fangen.
Du hast dich so unendlich groß begonnen
an jenem Tage, da du uns begannst, –
und wir sind so gereift in deinen Sonnen,
so breit geworden und so tief gepflanzt,
daß du in Menschen, Engeln und Madonnen
dich ruhend jetzt vollenden kannst.
Laß deine Hand am Hang der Himmel ruhn
und dulde stumm, was wir dir dunkel tun.
1899
Das große Rätsel dieses Gedichts ist sein Adressat, das nicht näher bestimmte „Du“. Wem gilt die Liebeserklärung in Rainer Maria Rilkes (1875–1927) Stundenbuch von 1905? Ist es eine göttliche Instanz oder ist es die Sprache und ihr Verzauberungspotential? Rilke selbst, der das Gedicht am 26.9.1899 niederschrieb, hat im Stundenbuch folgendes dazu vermerkt: „An einem Tage, da des Regens kein Ende war, Pilze mit seltsam großen Köpfen im Walde um alle Stämme standen und kaum soviel Licht war über der Welt, um Glanz auf den nassen Blättern des blutroten, welken Weines zu sehen.“
Im „Buch vom mönchischen Leben“, dem ersten Teil des Stundenbuchs, richtet sich das lyrische Subjekt sehr häufig an ein „Du“, das in verschiedensten Kontexten mit dem Namen Gottes bezeichnet wird. Es gibt tatsächlich viele gute Gründe dafür, dieses „Du“ als einen Schöpfergott zu identifizieren. Anhänger der strukturalistischen Literaturbetrachtung erkennen dagegen im „Du“ eine sprachliche Macht, die mit dem „formalen Potential des Signifikanten“ (Paul de Man) in Verbindung zu bringen sei.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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