Rainer Maria Rilkes Gedicht „SIE WAR:“

RAINER MARIA RILKE

SIE WAR:

Ein unerwünschtes Kind, verstoßen
auch aus der Mutter Nachtgebet,
und ewig fern von jenem Großen,
das gebend durch die Zeiten geht.

Sie wünschte wenig – und nur selten
kam wie ein Weinen über sie
nach einem Land mit Purpurzelten,
nach einer fremden Melodie,

nach weißen Wegen, die nicht stauben –
dann bog sie Rosen sich ins Haar,
und konnte doch nie Liebe glauben,
auch wenn es tief im Frühling war.

1898

 

Konnotation

In Rainer Maria Rilkes (1875–1926) Frühwerk Advent (1898) findet sich das anrührende Porträt einer Frau, die das Leben nur als einen einzigen großen Liebesentzug erfahren hat. Für das „unerwünschte“, selbst von der eigenen Mutter verstoßene Kind bleibt nur das Akzeptieren des eigenen Unglücks, der Rückzug in die Wunschlosigkeit. Dann sind es nur noch die Träume, die ein Refugium in Aussicht stellen – irgendwo in einem fernen Land mit „Purpurzelten“. Die Liebe erscheint indes für die anonyme Unglückliche unerreichbar.
Im Frühjahr 1897 hatte Rilke die deutsch-russische Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé (1861–1937) kennengelernt, die er zuvor schon mit einer Flut anonymer Briefe und pathetischer Gedichte bestürmt hatte. Seine Liebeswerbung wurde erhört, ohne dass Andreas-Salomé, die zuvor schon die Muse des Philosophen Friedrich Nietzsche ( 1844–1900) gewesen war, je die Kontrolle über die Situation verloren hätte. In dieser Zeit der großen Leidenschaft ist Rilkes Frauenporträt entstanden – fast liest es sich wie ein psychoanalytisches Dokument.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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