ROBERT GERNHARDT
Hiob im Diakonissenkrankenhaus
Ihr habt mir tags von Gott erzählt,
nachts hat mich euer Gott gequält.
Ihr habt laut eures Gotts gedacht,
mich hat er stumm zur Sau gemacht.
Ihr habt gesagt, daß Gott mich braucht –
braucht Gott wen, den er nächtens schlaucht?
Ihr habt erklärt, daß Gott mich liebt –
liebt Gott den, dem er Saures gibt?
1996/97
aus: Robert Gernhardt: Gesammelte Gedichte 1954–2006. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008
Die unsäglichen Leiden des Hiob, der laut der biblischen Erzählung trotz seiner Frömmigkeit in ein tiefes Unglück gestürzt wird und allen seinen Besitz und seine zehn Kinder verliert, überträgt der eher als poetischer Humorist bekannte Robert Gernhardt (1937–2006) auf die Leiden eines schwerkranken Krankenhauspatienten. Das Ergebnis ist ein Stück bitteren Agnostizismus. Das lyrische Ich zeigt seine Unversöhnlichkeit gegenüber dem Verursacher der Schmerzen – dem Schöpfer selbst.
Hiobs Anklage mündet in der biblischen Vorlage in eine Erneuerung seines Glaubens, wobei ihm sein Gott seine Verluste gleich zweifach ersetzt. Gernhardts Hiob bleibt dagegen gefangen in seinem Schmerz und entsprechen schroff fällt die Absage an jenen Gott aus, der seine Geschöpfe mit der permanenten Zufügung von Leid quält. Gernhardts Gedicht entstand 1996/97 nach einer Herzoperation des Autors.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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