ROBERT SCHINDEL
Vor und fort
Ein Lied aus alten Zeiten
Zertrümmert mir den Mund
Denn die engen Weitesweiten
Fiedeln so moribund
Zwar gehen die schönsten Weisen
Schmuckvoll durch Haut und Ohr
Doch in den Retourgeleisen
Aasen sie fort und vor.
So weiß ich was es bedeutet
Der Vergangenheitsakkord
Skelette weil abgehäutet
Marschieren vor und fort
Das Lied aus uralten Zeiten
Hat Zukunft aus gutem Grund
Es häutet die künftigen Weiten
Zertrümmert den Gegenwartsmund
2005
aus: Robert Schindel: wundwurzel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2005
Die lyrische Symbiose aus den suggestiven Liedern Heinrich Heines und dem politischen Fatalismus moderner Dichtkunst – wir finden sie in den Gedichten des österreichischen Autors Robert Schindel (geb. 1944). Als Sohn von Kommunisten jüdischer Herkunft in Oberösterreich geboren, kam Schindel im Alter von vier Monaten nach Wien, wo man ihn als „Waise von asozialen Eltern“ in einem Heim der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ versteckte. Seine formal so versöhnlichen Gedichte thematisieren in bitterem Sarkasmus diese politischen Traumata.
Bei der Entstehung des Gedichts stand sicherlich Heinrich Heines Lied von der Loreley Pate. Das „Lied aus uralten Zeiten“ vergegenwärtigt aber keine märchenhaften Ereignisse mehr, sondern die Brutalität des Völkermords an den europäischen Juden. Aus der „gewaltigen Melodei“ des Loreley-Liedes ist hier der finstere „Vergangenheitsakkord“ vom massenhaften Töten geworden.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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