ROLF DIETER BRINKMANN
Trauer auf dem Wäschedraht im Januar
Ein Stück Draht, krumm
ausgespannt, zwischen zwei
kahlen Bäumen, die
bald wieder Blätter
treiben, früh am Morgen
hängt daran eine
frisch gewaschene
schwarze Strumpfhose
aus den verwickelten
langen Beinen tropft
das Wasser in dem hellen,
frühen Licht auf die Steine.
1975
aus: Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Mit Fotos und Anmerkungen des Autors. Erweiterte Neuausgabe. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005
Dieses Gedicht des lyrischen Anti-Traditionalisten und Provokateurs Rolf Dieter Brinkmann (1940–1975) eignet sich hervorragend zur Illustrierung seiner fotografischen Poetik des „snap-shots“. Der Reiz dieser Alltagsszene entsteht zunächst aus den kontrastiven Lichtverhältnissen, Linienführungen und Zeit-Bildern. Das helle Frühlicht trifft auf die „schwarze Strumpfhose“, die horizontale Linie des Wäschedrahts auf die Vertikalität der „kahlen Blume“, die erstarrte Winterszene auf die Verheißung der alsbald „treibenden Blätter“.
Geht es in diesem schönen „snap-shot“ aus dem Jahr 1975 nur um die Fixierung von Augenblickswahrnehmungen und um einen objektivierenden Beschreibungsrealismus? Wie wäre dann aber die „Trauer“ zu bestimmen, die über dieser Januar-Szene liegt? Brinkmann-Exegeten bedienen sich gern einer symbolischen Deutung der „schwarzen Strumpfhose“: In einer besonders kühnen Interpretation wird das Bild der tropfenden Strumpfhose zur Allegorie auf die „Unmöglichkeit der Liebe“ überhöht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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