Ulla Hahns Gedicht „Genug“

ULLA HAHN

Genug

Liebt ich ihn noch ich sähe
nicht wie sich das Licht
in den Seen bricht
Säh nicht den Morgen
im Mittag vergehn
Morgen aus Nachtarmen
auferstehn
Säh nicht die Blumen
sprießen und grün
in den Wiesen das Gras
aufblühn verglühn
Säh nicht die Schwalben
im hohen Flug hätte noch
immer von ihm genug.

1980er Jahre

aus: Ulla Hahn: Liebesgedichte. Deutsche Verlags-Anstalt, München 1993

 

Konnotation

Als artistische Reaktion auf die „Neue Subjektivität“, die dominante Literaturströmung der 1970er Jahre, pries der Kritiker Marcel Reich-Ranicki dereinst die Dichtung Ulla Hahns (geb. 1946). Mit den meist autobiografisch motivierten Texten der „Neuen Subjektivität“ verband Ulla Hahns Gedichte immerhin das Interesse an der jüngeren Vergangenheit des Nationalsozialismus und an gesellschaftspolitischen Themen der Zeit. Das Gedicht beschreibt eine Entliebung, die mit der Schlusspointe doppelzüngig endet.
Ein Grundmuster für „Genug“ ist dabei die Antiphrase: Es scheint zunächst, als hätte das Subjekt allein Augen für die geliebte Person. Mit dem Schluss wird aber klar, dass hier eine Liebe verabschiedet wird, die auf selbstverständlicher Dominanz auf der einen und bedingungsloser Unterwürfigkeit auf der anderen basiert. Von „ihm genug haben“ meint nicht nur das abschließende Urteil nach der Entliebung, es beschreibt den unerträglichen Zustand schon während der verabschiedeten Beziehung.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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