URSULA KRECHEL
Aus dem Lesebuch
Jetzt weißt du, wie das Leben ist.
Es weidet draußen und es frißt.
Erst weidet es dich aus, es frißt
dich dann mit Haut und Haaren auf.
Es tut, als nähme es seinen Lauf.
Doch du läufst selbst herum, du ißt
ein Butterbrot und lebst das Leben
(es weidet draußen), das du vergißt.
1990er Jahre
aus: Ursula Krechel: Ungezürnt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1997
Ein „Lesebuch“ stellt uns in der Regel Texte mit klaren, sinnstiftenden Lebensregeln, pädagogisch sinnvollen Botschaften oder leicht ausdeutbaren Morallehren zur Verfügung. Eine Dichterin wie Ursula Krechel (geb. 1947), die um die Unsicherheit der Wörter weiß, die uns als „semantisch ungebundene Gesellen“ begleiten, versucht auf subtile Weise, diese scheinhafte Eindeutigkeit der „Lesebuch“-Lehren zu unterlaufen.
Das in den 1990er Jahren entstandene Gedicht betreibt Camouflage: Es schlüpft in das Gewand des Sinnspruchs und der Fabel, kommt mit harmlosen Reimfügungen daher – aber zugleich zersetzt es alle versöhnlichen Pointen von innen her, zeigt die Destruktivität des in allegorischer Gestalt verkleideten Lebens. Im Spiel mit der Mehrdeutigkeit der Wörter („weiden“ = „ausweiden“ und „auf dem Feld Nahrung suchen“) erscheint das Leben zunächst als recht gefräßiges Wesen, dann als vorgeblich eigendynamische Struktur, zuletzt aber etwas, das aktiv gestaltet werden muss. Ihm aber vollständig habhaft zu werden, gelingt nie.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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