Volker Brauns Gedicht „Das Lehen“

VOLKER BRAUN

Das Lehen

Ich bleib im Lande und nähre mich im Osten.
Mit meinen Sprüchen, die mich den Kragen kosten
In anderer Zeit: noch bin ich auf dem Posten.
In Wohnungen, geliehn vom Magistrat
Und eß mich satt, wie ihr, an der Silage.
Und werde nicht froh in meiner Chefetage.
Die Bleibe, die ich suche, ist kein Staat.
Mit zehn Geboten und mit Eisendraht:
Sähe ich Brüder und keine Lemuren.
Wie komm ich durch den Winter der Strukturen.
Partei mein Fürst: sie hat uns alles gegeben
Und alles ist noch nicht das Leben.
Das Lehen, das ich brauch, wird nicht vergeben.

1987

aus: Volker Braun: Langsamer knirschender Morgen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987

 

 

Konnotation

Es ist ein zorniges, ja unwilliges Treuebekenntnis zu seinem Staat, das der 1939 in Dresden geborene Volker Braun in seinem Gedicht aus dem Jahr 1987 hier abliefert: Das Verharren in einem Land „mit zehn Geboten und mit Eisendraht“ hat seinen Preis – den Verlust der sozialistischen Utopie. Volker Braun war ein Sozialist – aber ein treuer Vasall des SED-Staats, wie manche seiner Kritiker unterstellen, war er nicht. Statt dessen deponierte er in zahlreichen Stücken und Gedichten jene „Sprüche“, die ihm fast „den Kragen kosteten“.
Das Gedicht verweist nicht nur auf die biblischen Psalmen („Bleibe im Lande und nähre dich redlich“: Psalmen 37,7), sondern auch auf ein bekanntes Gedicht des mittelalterlichen Dichters Walther von der Vogelweide („Ich han mîn lehen“) in dem dieser das ambivalente Treueverhältnis zu seinem Lehnsherrn reflektiert. Der SED-Staat hat dieses wechselseitige Loyalitätsverhältnis seinen Dichtern nie bieten können – man setzte auf Repression.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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