Marcel Atze und Hermann Böhm (Hrsg.): „Wann ordnest Du Deine Bücher“

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Marcel Atze und Hermann Böhm (Hrsg.): „Wann ordnest Du Deine Bücher“

Atze und Böhm (Hrsg.)-„Wann ordnest Du Deine Bücher“

DER SELBSTBEWUSSTE AKT DER INBESITZNAHME

– Einiges über H.C. Artmanns Umgang mit Büchern. –

Ich erinnere mich: H.C. suchte auf Reisen immer zuerst Buchhandlungen auf. Er wendete wenig für seinen Lebensunterhalt auf und ging nicht in teure Restaurants, konnte aber, ohne mit der Wimper zu zucken, große Summen für Kleidung (Annas in Frankfurt war eine Lieblingsadresse), für Bahnfahrten erster Klasse und für Bücher ausgeben. Dazu muß gesagt werden, daß H.C. Ende 1967, als ich ihn kennenlernte, und in den Jahren danach bis Anfang der 1970er Jahre nur sehr wenig Geld hatte. Ab und zu erhielt er Honorare von Herbert Wochinz für die Übersetzung von Theaterstücken,1 und auch von Siegfried Unseld kamen eine Zeitlang regelmäßig gewisse Zuwendungen. Seinen Lebensunterhalt hat H.C. damals wohl in erster Linie mit Lesungen bestritten („Von meinen Büchern kann ich nicht leben, so bin ich vor jeder Prostitution gefeit“, sagte er einmal). Er bezahlte in dieser Zeit, so weit ich weiß, weder Steuern noch hatte er eine Krankenversicherung. Nachdem er seine Wohnung in Berlin im Herbst 1968 (wenn ich mich richtig erinnere) aufgegeben hatte, besaß er längere Zeit keinen festen Wohnsitz, sondern war ständig unterwegs und übernachtete bei Freunden (etwa bei Urs Widmer und Klaus Reichert in Frankfurt und bei Michael Krüger in München) und in kleinen Hotels. Aber Bücher mußten sein: Kaum betrat er eine Stadt, steuerte er eine Buchhandlung an und kaufte Bücher, die er mit seinem Namen, dem Ort, dem Monat und dem Jahr versah – ein stolzer, selbstbewußter Akt der Inbesitznahme, der mit Tinte oder Kugelschreiber vollzogen wurde, nicht etwa mit Bleistift.
Einige dieser Bücher sind bei mir gelandet und lösten die Initialzündung für mein Studium der Romanistik und der Allgemeinen Sprachwissenschaft ab 1968 in München aus.
H.C. konnte sich aber auch immer wieder von Büchern trennen, er hing nicht an ihrem Besitz: „Im nächsten Augenblick erhob sich Artmann und ging weiter, fast immer erhobenen Hauptes“,2 schreibt Jochen Jung. So gab er mehrere Male mit bestimmten Lebenssituationen auch seine Bibliothek auf: Als er seine Wohnung in Berlin-Charlottenburg verließ, ließ er auch seine Bücher im Stich (von denen er einige viele Jahre später in einem Berliner Antiquariat wiederfand); und als er die Miete für ein kleines Appartement in Paris in der Rue Tholozé, das er ab April 1970 gemietet hatte, nicht mehr bezahlen wollte oder konnte, rechnete er nicht damit, die Bücher, die er aus Rennes dorthin gebracht hatte, je wiederzusehen (sie lagerten in einer Kiste auf dem Dachboden, als ich im Dezember 1970 nach Paris fuhr, um sie zu retten). Klaus Reichert nennt als Wohnsitze, an denen größere Mengen Bücher zurückgeblieben sind: „Wien, Malmö, Stockholm, Berlin, Graz, Paris“3 (wobei „Paris“ zu streichen ist).
Hätte man alle Bücher H.C.s beisammen, könnte man seine Reisen durch Europa anhand der von ihm gekauften Bücher mit der Angabe des Ortes und dem Datum rechts oben auf dem Vorsatzblatt oder auf der inneren Titelseite rekonstruieren. Der Schriftduktus variiert stark. In Irland gekaufte Bücher (aber nicht nur diese) versah er mit Buchstaben, die der irischen Schrift entliehen oder nachempfunden waren. Die Städte werden in der jeweiligen Landessprache genannt: Gaillimh (Galway), Corcaí (für: Corcaigh = Cork), Baile Átha Cliath (Dublin), Doire (Derry), Béal Átha an Ana (für: Béal an Átha = Ballina), Roazhon (Rennes) oder Kemper (Quimper).
H.C. interessierte sich für alle Sprachen und für alle Literaturen; das ist hinlänglich bekannt, und dennoch soll es hier noch einmal gesagt werden. Sprachbücher las er unsystematisch: „sprunghaft, seiten weglassend, wiederholend, was mir interessant schien, von vorne nach hinten, von hinten nach vorne“4 und holte sich das für ihn Wesentliche heraus. Seine Lieblingsbuchhandlungen waren unter anderen Foyles in der Charing Cross Rd. in London; Kenny’s Bookshop in der High Street in Galway, mit Mrs. Kenny persönlich an der Kasse (seit Januar 2006, dem Trend der Zeit folgend, werden die Bücher leider nur noch „online“ verkauft); Hodges & Figgis in der Dawson Street in der Nähe des Trinity College in Dublin sowie das Antiquariat Kitzinger in der Schellingstraße in München.
In Rennes/Bretagne hatte ich im Wintersemester 1969/70 ein Stipendium des DAAD; wir wohnten in der Rue Gambetta gegenüber dem schönen Jugendstil-Schwimmbad, das Emmanuel Le Ray entworfen hat. An die Buchhandlung, in der H.C. am liebsten war, kann ich mich erinnern, nicht an ihren Namen (sie liegt – oder lag – an der Place Hoche, einem kleinen Platz nicht weit von der Rue Gambetta, an dem auch eine Fakultät der Universität ihre Gebäude hatte, wenn ich mich nicht irre; hier war auch der Filmclub untergebracht, dessen Mitglieder wir waren).
Bücher kaufte H.C. auf Schritt und Tritt. In Saint Grégoire, einem kleinen Ort nördlich von Rennes, den man am Canal d’ille et Rance entlang spazierend zu Fuß erreichen konnte, erwarb er ein Buch wohl in einer Papeterie (eine Buchhandlung wird es dort kaum gegeben haben). In einem Antiquariat in Clermont-Ferrand entdeckte er 1970 auf einer Reise mehrere Bände der Reihe Les classiques français du Moyen Age (CFMA) zu einem Spottpreis, der dick mit rotem Farbstift auf dem Titel vermerkt ist: „OCC (= occasion) 2 F“, „OCC 3 F“, „OCC 6 F“.
Auf Reisen in Irland kaufte H.C. 1971 mehrere Werke in Galway, in Dublin, in Ballina und in Derry. Die Love Songs of Connacht von Douglas Hyde (in einer zweisprachigen Ausgabe) standen ihm besonders nah, ebenso die Gedichte von Dafydd ap Gwilym, die er in der schönen klaren Sprache der Prosaübersetzung von Nigel Heseltine erwarb.
H.C.s frühes Interesse an den keltischen Sprachen dokumentiert besonders deutlich das völlig zerlesene kleine broschierte Bändchen der Simple Lessons in Irish von Father O’Growney (leider ohne genaue Datierung, die sich erschließen ließe, wenn es in seine Hände gelangte), das H.C. oft erwähnt hat. Wichtig sind auch A Celtic miscellany, das er offenbar 1958 von Elias Canetti in London geschenkt bekam, da es auch dessen Signatur trägt,5 und Ortha nan Gaidheal, das unmittelbare Vorbild für Der Schlüssel des Heiligen Patrick.6 Dabei handelt es sich teils um Übersetzungen (diese werden als solche in den Anmerkungen ausgewiesen), teils um Neudichtungen im selben Geiste (diese werden kommentiert mit „Vom übersetzer in Irland aufgezeichnet“, „Irisch, unbekannter Autor. Vom übersetzer einer noch unveröffentlichten handschritt entnommen“, „Irisch, volkstümlich. Vom übersetzer in Irland aufgezeichnet“ etc.).
Diese kleine Auswahl an Büchern aus H.C.s Bibliothek, die sich in meinem Besitz befinden, steht für den unglaublich weiten Horizont seiner Lese-Interessen, der erstaunlich und bewundernswert ist. Seine Offenheit und Neugier im Verein mit seiner Begeisterung für entlegene Sprachen können geradezu Neid erregen. Seine Gelehrtheit hatte nie auch nur einen Hauch von Überlegenheit: an seiner Tafel(-Runde) war jeder willkommen, der sich für Poesie interessierte und bereit war, ihm zuzuhören.
Noch kurz vor seinem Tod, sagen wir besser: seiner Reise nach Avalon, äußerte er sich am Telefon begeistert darüber, daß er, mit der Hilfe seiner Tochter Emily und ihrer Cousine Kathi, im Internet entdeckt hatte, daß das Shelta, eine Geheimsprache der irischen tinker (Kesselflicker), der letzte Rest des Piktischen sei. Das Piktische, eine untergegangene Sprache in Nordschottland, deren Herkunft rätselhaft ist, hatte ihn immer besonders interessiert. In einem Brief aus dem Jahr 1973 schreibt er:

Ich habe jetzt […] mit einer piktischen [sic!] grammatik begonnen, dazu wörterbuch und einer art poetisch-lyrischer chrestomathie […]7

Einige Sprachproben daraus sind in seinem Buch Unter der Bedeckung eines Hutes (1974) enthalten, das er besonders gern hatte:8

Hol hen amassar am ttarffon crimm […]9

Das Buch Welsh Made Easy, in dem H.C. mit vierzehn Jahren zum ersten Mal einer keltischen Sprache begegnete und an das er sich in dem Text „Im sommer 1935“ präzise erinnert,10 bekam er von seinem Onkel Alois geschenkt. Derselbe Onkel versorgte ihn auch mit weiteren Grammatiken, wie Malcolm Green berichtet.11 Auf der Frankfurter Buchmesse 1995 mit dem Schwerpunkt Österreich konnte man in der schönen Ausstellung der sechste sinn im Österreich-Pavillon H.C.s Tagebuch betrachten, das er als Fünfzehnjähriger geführt hatte (die aufgeschlagenen Seiten zeigten das Datum des 14. Juni 1936): es war mit den Buchstaben des indischen Devanagari-Alphabets geschrieben!12 Er hatte sie als junger Bub durch das bloße stundenlange Betrachten indischer Briefmarken in der Auslage eines Ladens zu erlernen versucht.13 Er muß allerdings weitere Hilfsmittel zur Verfügung gehabt haben. Was notierte er in dieser Geheimschrift, welche Inhalte hielt er fest? Wer könnte darauf eine Antwort geben? Und wo mag sich dieses Tagebuch heute befinden? „Sprachen, die sind meine Leidenschaft. Oder Passion. Passion ist besser“, sagte er im Interview mit Lars Brandt.14 „Ni bheidh a leithéid aris ann“ steht auf dem Grab von Tomás Ó Criomhthain (= Ó Crohan) in Dunquin (Kerry), und das gilt auch für H.C.: seinesgleichen wird es so schnell nicht wieder geben.
Noch ein Zitat zum Schluß. Was H.C. hier zu seinem Schreiben sagt, charakterisiert auch seine Büchersammlung:

Der Grundtenor ist […] der gleiche. Es ist immer das Unerwartete, das Abenteuerliche.15

Und:

Das Überraschende ist ja das Wichtige.16

Barbara Wehr

 

 

 

Zur Bibliothek H.C. Artmann

H.C. Artmanns Stellung in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts ist unbestritten. Aus kulturgeschichtlicher Sicht fasziniert zudem seine Rolle als poeta doctus, der so manchem Kollegen Anregung bot, und als außerordentlich begabtes Sprachgenie, das als Übersetzer sowie als Vermittler verschütteter literarischer Traditionen Anerkennung fand. Sein Einfluß auf die Erneuerung der österreichischen Literatur nach der ,Ouarantäne‘, die von den Nationalsozialisten über die Moderne verhängt worden war, ist kaum zu überschätzen. Längst festgeschrieben sind seine Verdienste um die Avantgarden aus dem Art-Club und die Formierung der Wiener Gruppe. Bei all dem hat ein signifikanter Teil von Artmanns Arbeiten dank seiner ingeniösen Verwendung des lokalen Idioms eine für die moderne Literatur seltene Popularität erlangt. Als Intellektueller, der die Öffentlichkeit keineswegs mied, scheute er keinen Widerspruch und ließ sich von Dritten nicht vereinnahmen.
Im Jahr 2004 konnte die Wienbibliothek im Rathaus den Nachlaß Artmanns von dessen Witwe Rosa Pock-Artmann erwerben. Dies war ein strategisch wichtiger Ankauf, ergänzte er doch wichtige Quellen zum österreichischen und Wiener Kulturleben nach 1945 wie die bereits vorhandenen Nachlässe von Jeannie Ebner und Gerhard Fritsch, um nur zwei Bestände zu nennen, die bedeutende Manuskripte und Korrespondenzen aus fraglicher Zeit enthalten. Bei Artmann jedoch, dessen schriftlicher Nachlaß eher marginal ist, muß die Bibliothek als integraler Bestandteil der Hinterlassenschaft gelten. Sie umfaßt etwa 3.500 Bände und war die Sammlung eines vielseitigen Lesers, der sich für Alles und besonders für alles scheinbar Entlegene interessierte. Beispielhaft sei Artmanns ausgeprägtes Interesse an Sprachen und den literarischen Traditionen jener Länder genannt, die er auf seinen Reisen häufig besucht hat. Es fanden sich – eine Aufzählung wäre zwar imposant, würde aber den Rahmen eines Vorworts sprengen – Werke in rund siebzig [!] verschiedenen Sprachen in Artmanns Besitz. Auch ansonsten birgt die Bibliothek vieles zunächst Unvermutete. Sie zeugt etwa von Artmanns intensiver Beschäftigung mit trivialen und populären Genres wie Science Fiction, Detective Stories, Fantasy-Literatur, Kolportageromanen und Horrorgeschichten.
Dem Ankauf des kompletten Nachlasses samt Bibliothek folgte der oftmals in seinen Mühen übersehene Weg der Katalogisierung und Inventarisierung, die Ende 2005 abgeschlossen wurden. Damit war die Sammlung Artmann vollständig in die Bestände der Wienbibliothek integriert, jedes darin enthaltene Buch mit dem Stempel „Bibliothek H.C. Artmann“ versehen und somit für die allgemeine Benützung zugänglich. Vom Ankauf weg hat mich aber die Idee bewegt, diese Bibliothek als Ensemble für eine begrenzte Zeit zum „Ausstellungsobjekt“ zu er– und ihr ,Verschwinden‘ im Gesamtbestand gleichsam aufzuheben, um diese private Architektur, die so viel über die Praktiken eines Schriftstellers, über seine Inspirationen, seine Ordnungssysteme, seine Leidenschaften vermitteln kann und dennoch selten in toto als Dokument aufgefaßt wird, erfahrbar zu machen – als Dichterbibliothek, als „geistiges Archiv“, als „Schlüssel zum Werk“, aber auch als „Abbild“ oder „Lebensdokument“, als Autobiographie oder Itinerar zu H.C. Artmann, der sich selbst nicht als Schriftsteller, sondern als Abenteurer sehen wollte. Die vielfältigen Aspekte auszuloten und darzustellen hat Marcel Atze übernommen, Literaturwissenschaftler und Mitarbeiter der Handschriftensammlung, der, wie leicht zu erkennen ist, ideale Koordinator und Mit-Autor des nun vorgelegten Bandes.
Ein kurzer Streifzug durch die Beiträge nimmt die Phantasie sprühende Vielfalt, das manchmal Entlegene und Triviale der Artmann-Bibliothek auf. Einerseits anhand von 21 Beispielen, die Artmanns Bücherwelt anschaulich machen, andererseits anhand von wissenschaftlichen Beiträgen, die sich mit Artmanns Inbesitznahme von Büchern (Barbara Wehr) ebenso beschäftigen wie – manchmal durchaus den Aussagen Artmanns mißtrauend – mit dem stets und an verschiedensten Orten suchenden Leser Artmann (Marcel Atze). Über die in der Bibliothek vorgefundenen Widmungsexemplare wird dem Netz der Intellektuellen- und der Freundeskreise nachgespürt (Stefan Alker). Die Schriftsteller Jean-Paul Jacobs und Peter Rosei berichten Autobiographisches, und auch Artmanns ausschweifenden Comic-Lektüren (Stefan Winterstein) wird Raum gegeben.
Ich danke allen Beiträgern, vor allem Marcel Atze und Hermann Böhm, die den Band in sehr kurzer Zeit zusammengestellt haben und diesen nun gemeinsam unter dem Titel Wann ordnest Du deine Bücher? herausgeben. Ein Band, der über das Ausstellungsprojekt hinaus Bestand haben wird. Markus Reuter danke ich für die Gestaltung des Bandes, Dieter Bandhauer für die Aufnahme des Buches in das Verlagsprogramm von Sonderzahl. Es ist auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliothek zu danken, die das Projekt unterstützt und sich so einmal mehr der Gratwanderung der Wienbibliothek zwischen Wissensspeicher und Museum gestellt haben.
Bücher haben, so formuliert es Hans Jürgen Heinrichs in Schreiben ist das bessere Leben (München 2006), nicht anders als Menschen, denen man begegnet und die sich einem einprägen, die Chance, „dem Leben und Denken neue Perspektiven anzubieten und Richtungsänderungen vorzuschlagen, Korrekturen vorzunehmen, Wahlmöglichkeiten anzudeuten, den Raum des Denk- und Vorstellbaren zu weiten. An den Büchern, die für den Leser wichtig werden, entzündet sich – wie auch an Filmen, Bildern und der Musik – das Feuer der Phantasie und des Imaginären“. H.C. Artmanns Büchersammlung soll ebenso wie der nun vorliegende Band diese vielfältigen Möglichkeiten des Lebens mit und aus Büchern wie des Weitertragens der verborgenen Schätze der menschlichen Phantasie aufzeigen.

Sylvia Mattl-Wurm, Vorwort

„Ein Orphaneum für Bücher“

Bibliothek und Biographie

plötzlich lag ich in einem brachfeld und dreißig meter vor mir war ein maschinengewehr aufgebaut das wie eine kanone aussah weil es zwei räder hatte und dahinter lagen zwei russische burschen in meinem eigenen alter und die artillerie schoß wieder einmal zu kurz und der dreck spritzte durch die gegend und ich dachte mir du kannst ja die zwei haberer nicht so einfach mir nix dir nix abschießen aber ich hatte sie genau im visier kimme und korn und ich war einer der sich auf den schießplätzen nicht nur einen sonderausgang geschossen hatte und dann blitzte es noch gelber als die sonne und mir drehte es den magen um er kam mir hoch in den schlund und wollte ausbrechen tat es aber dann doch nicht aber wer sich einmal den ellenbogen angestoßen hat das närrische bein den musikantenknochen der wird das gefühl verstehen das ich in der rechten hüfte hatte au meine nieren rief ich das weiß ich noch ganz genau und dann wälzte ich mich so gut es in dem hohen gras ging einige meter nach links und zog die unbedeckte birne ein und das zworädrige maschinengewehr ballerte unverdrossen nach der stelle an der ich noch vor sekunden gelegen hatte und die deutsche artillerie schoß wieder einmal viel zu kurz und der dreck richtete seine braunen fontänen nach dem blauen himmel und ich sagte mir verdrossen au scheiße mich hats erwischt.17

Daß H.C. Artmann diesen atemlosen Bericht seiner Verwundung als Wehrmachtssoldat an der Ostfront am 11. Juli 1941 überhaupt schreiben konnte, hatte er wohl einer Erfindung des Verlagshauses Langenscheidt zu verdanken: dem Taschenwörterbuch. Denn die russische MG-Kugel, die ihm einen Durchschuß der rechten Hüfte und dann einen mehrmonatigen Aufenthalt im Lazarett einbrachte, durchquerte zunächst der Länge nach den gesamten Buchblock eines deutsch-spanischen Vokabulars, das Artmann in der rechten Brusttasche seiner Uniform mit sich führte. Das Projektil wurde durch den 1931 gedruckten Band daran gehindert, in den Oberkörper einzudringen und zudem wohl derart abgebremst, daß sich der Getroffene noch selbst aus der unmittelbaren Gefahrenzone retten konnte. Artmanns Hüfte wurde gleichwohl nie wieder völlig hergestellt, was nur belegt, wie schlimm alles hätte enden können, wenn er nicht auch an der Front seinem Interesse für Sprachen nachgegangen wäre. Sein – mit Gerhard Rühm – „ausgesprochener Spanienfimmel“18 hat Artmann also ganz offensichtlich das Leben gerettet.

 

Das Buch das H.C. Artmann das Leben rettet

Das lebensrettende Langenscheidts Universal Wörterbuch. Teil 1: Spanisch-Deutsch. Berlin-Schöneberg: Langenscheidtsche Verlagsbuchhandlung 1931 (Privatbesitz)

Selten dürften ein Menschenleben und ein Buch auf derart enge Weise miteinander verknüpft gewesen sein wie in diesem Falle, wo es wohl sonst hätte heißen müssen: Ohne Buch keine Biographie. Artmann war sich der Bedeutung des durchschossenen Langenscheidts, der so ganz anders „durchschossen“19 war, wie der gleichlautende bibliothekarische Begriff meint, bewußt. Er hütete das Stück wie seinen Augapfel und war sehr wählerisch in der Frage, wem er den devotionaliengleich behandelten Gegenstand vorführte. Hans-Christoph Buch – bei diesem Schriftstellerfreund aus Berliner Tagen bewahrheitet sich das nomen est omen in bemerkenswerter Form – erinnert sich, daß der Band „nur wenigen Auserwählten“20 gezeigt wurde. Diesen Betrachtern wird es schwergefallen sein, sich der auratischen Wirkung des Buches zu entziehen. Anhand der Dichterreliquie, die sich nun im Besitz von Artmanns Tochter Emily befindet und auch von dieser als ein Schatz empfunden wird, bestätigt sich ein Satz des Bibliophilen Rudolf Adolph – „Jedes Buch hat seine Geschichte“21 – auf exzeptionelle Weise.
Überträgt man diese Sentenz auf eine Bibliothek, so finden sich in den Regalen Geschichten sonder Zahl vereinigt. Auch dieses Phänomen brachte der Büchersammler auf einen kurzen Nenner:

Bibliotheken sind Autobiographien.22

Zunächst einmal im buchstäblichen Sinne, denn der Besitzer hinterläßt oft Spuren in den Büchern, die weit über den eigenhändigen Namenszug und Besitzeintrag hinausgehen. Gerade im Falle der Sammlung Artmann liefert ein nicht geringer Teil der Bestände einen wertvollen biographischen Zugriff, weil er in der Regel nicht nur das Datum und den Ort seiner Erwerbung auf dem Vorsatz des gekauften Buches festhielt, sondern in teils langen Listen zudem akribisch vermerkte, wo und wann er im jeweiligen Band las. Die Eintragungen auf dem Vorsatz eines Lehrbuchs der norwegischen Sprache für den Selbstunterricht zeigen nicht nur den Namen des Eigentümers in verspielter Sütterlinschrift und informieren über Ort und Tag des Kaufs („Wien 23.8.1940“), sondern acht weitere Vermerke belegen ferner, daß Artmann an der russischen Front außer spanisch offenbar auch norwegisch lernte, daß er diesen Studien noch weitere dreißig Jahre lang treu blieb und daß ihn das Buch sowohl bei seiner Übersiedlung nach Schweden („Falköping, 7.11.61“) als auch nach Frankreich („Rennes, 6.2.70“) begleitet hat. „Jede organisch angelegte Bibliothek ist Topographie der Persönlichkeit“, heißt es bei Rudolf Adolph.

Wir können in ihr das Leben der Besitzer ablesen.23

In einer Art Lesebiographie kann man sich Artmann vor allem von einer Seite nähern, die für die Entwicklung als Autor von prinzipieller Bedeutung gewesen ist: seiner Lektüre. Golo Manns einprägsamer Satz, „Wir sind alle, was wir gelesen“,24 ist eben mehr als nur ein Bonmot. Es liegt auf der Hand, daß sich mittels Erwerbungs- und Arbeitsvermerken zentrale Phasen innerhalb der Karriere des Schriftstellers Artmann herausfiltern lassen. So hat er etwa die Texte des für sein Werk so immens wichtigen spanischen Surrealisten Ramón Gómez de la Serna (1888–1963) um 1950 und in den Jahren danach gekauft – den hier abgebildeten fand er übrigens 1956 in Barcelona. Sein Interesse für das literarische Vorbild hielt jedoch weit darüber hinaus an, denn in den 1970er und 1980er Jahren kamen weitere Bände hinzu, die er in Palma de Mallorca und in Kiel erstand. 

Bibliothek und Werk

Ob, was und wieviel ein Dichter gelesen hat, braucht an sich keineswegs aufschlußreich zu sein.25

Diesen Satz stellte der Lyriker und Literaturwissenschaftler Michael Hamburger an den Beginn seiner Studie über die Bibliothek Hugo von Hofmannsthals. Man kann dem nur zustimmen. Denn in der Tat sind weder die Lektüre noch der Besitz von Büchern zwingende Voraussetzung für das Schreiben, ja mancher Autor vertritt gar die entschiedene Meinung, allzu umfangreiche Belesenheit schade der eigenen Originalität. Vertreter dieser Spezies sind gar nicht so selten. Sie leiden an der vom britischen Forscher Harold Bloom diagnostizierten Anxiety of influence.26 Diese Einflußangst kannte zwar auch H.C. Artmann, allerdings nur in bezug auf die Gegenwart. Auf die Frage, ob er zeitgenössische Literatur lese, antwortete er:

Nix. Da habe ich Angst, mich irgendwie zu verlieren. Ich lese eigentlich nur Gedichte und lerne dadurch die Sprachen wieder.27

Trotzdem zählt Artmann zu jenen Autoren, die in nicht zu unterschätzendem Ausmaß Literatur aus Literatur machen. Alle Lektüre, die nicht wirklich weiterhalf, betrauert Artmann in Gestalt seines Erzählers in „Nachrichten aus Nord und Süd“:

ich las ich las so manches jahr und was ich las es ward zu rauch mir blieb kein wörtlein das ich klug verwenden könnt.28

Seine Bibliothek ermöglicht einen aufschlußreichen Blick in die Werkstatt eines Autors, der gerne zitiert, der Gelesenes mit Einfallsreichtum und Virtuosität abwandelt, der Geborgtes auf spielerische Art anwendet, der Gedrucktes in neue literarische Zusammenhänge stellt. Die systematische Durchsicht der gesamten Sammlung ist aufregend, weil sie vielfältige Bezüge zwischen einzelnen Büchern und Themen quer durch den Bestand eröffnet – und eh man sich versieht, befindet man sich im lebhaftesten Dialog mit dem Autor und dessen Werk. Und darüber hinaus mit dem Werk anderer Autoren, etwa Mitgliedern der Wiener Gruppe, wenn man in Rechnung stellt, daß Artmann die Lesefrüchte seiner oft extrem frühen Lektüre von Texten, die aus bis dato unbekannten literarischen Avantgarden Europas hervorgegangen waren, zu teilen bereit war und durch Leihgaben seiner Bücher zudem als großer Literaturvermittler gelten kann: Artmanns Bibliothek hatte außer ihrem Besitzer noch zahlreiche weitere Nutznießer und anteilnehmende Rezipienten. Genauso, wie Artmann von den Sammlungen anderer Autoren profitieren konnte.29
Im Bestand der Bibliothek stößt man auf einige, die schriftstellerische Tätigkeit Artmanns erhellende Entdeckungen. Man muß sich vergegenwärtigen: Als Leser war Artmann nicht gleich Artmann. Da las der Prosaautor, der Lyriker, der Dramatiker, der Übersetzer oder schlicht der Fan bestimmter Kollegen bzw. einer speziellen literarischen Richtung. Manches Buch bot verläßliche Auskünfte, andere lieferten eine Fülle von Stoffen und Motiven, nach denen er gezielt fahndete, viele dürften auch den Lesehunger gestillt haben. Die ungeheure Vielfalt der Lektüre30 wird deutlich, wenn man die mit Artmanns Büchern gefüllten Regale abschreitet. „Dann lese ich“, resümierte er:

über alte Philosophien, Druidentum, Zauberei, Mythologien, prähistorische Texte, mittelhochdeutsche Lyrik, Ritterromane. Ich habe eine Riesensammlung von Comics. Echte, alte. Die beste Literatur ist ja Donald Duck. Mickey Mouse mag ich nicht, dafür Asterix. Und Comics aus den zwanziger Jahren, die sind sehr schön. Aber die Horror-Comics und diese Sex-Comics, die sind alle blöd.31

Die Liste ließe sich noch um manche, vor allem triviale Gattungen erweitern, besonders die Kriminalliteratur sollte an dieser Stelle Erwähnung finden. „Weißt, daß ich eine wunderbare Sammlung Tom Shark habe?“ fragte Artmann den Zeichner Janosch, als dieser ihn besuchte.

Wart, ich zeig dir’s… Ich habe viel daraus in meinem Dr. U. zitiert32

Seine ungewöhnliche Bibliothek war ihm Reservoir, Arbeitsinstrument und handwerkliches Rüstzeug für die äußerst virtuos angewandte „ars combinatoria“.33 Irgendwo Entlehntes mit dem Eigenen zu verschmelzen sei, so stellt Michael Hamburger schon zu Zeiten fest, als das Phänomen der Intertextualität in der Wissenschaft noch unter dem zweifelhaften Etikett der Quellen- und Einflußforschung firmierte, „eine durchaus dichterische Fähigkeit“.34 Manchmal dürfte das Gelesene einen bestimmten Ton getroffen, eine Art von Sound geliefert haben, den Artmann dann kunstvoll nachzuahmen im Stande war, ohne sich des direkten vorgefundenen Wortlauts zu bedienen. „Da fallen Zitat und authentische Stimme in eins“, meint mit Klaus Reichert der langjährige Freund und Editor Artmanns, „das Zitat klingt nur so als wäre es eines, und unter der eigenen Stimme klingt immer die andere hindurch“. So entstehe ein dauernder „Aneignungs- und Austauschprozeß“.35 Der Schriftsteller pflegte eine Art symbiotische Beziehung zu seinen Büchern: Wie die Ameise die Blattläuse melkt, um an Zucker zu gelangen, war der lesende Dichter Artmann stets auf der Suche nach Textstellen, die seine eigenen Produkte versüßten. Im Falle seiner Auseinandersetzung mit der Dichtung des Barock machte er selbst vor der chamäleonartigen Aneignung des im 17. Jahrhundert üblichen Äußeren eines Buches wie Satz, Drucktype und aufwendigster Gestaltung des Titelblatts nicht halt.36
Diese Arbeitsweise spiegelt sich im schriftlichen Nachlaß des Autors kaum wider, um derart intensive intertextuelle Verfahren also nachvollziehen und belegen zu können, benötigt man den ständigen Zugriff auf die Bücher des Autors. Doch nicht nur deshalb ist die Erhaltung von Artmanns Bibliothek als geschlossenes Ensemble von ganz außergewöhnlicher Bedeutung für die Erforschung seines Werks. 

Bibliothek und Nachlaß
Artmanns Bibliothek muß nicht deshalb ein besonderer Wert beigemessen werden, weil sie die Schausammlung eines Bibliophilen voller Pracht- und kostbarer Erstausgaben ist, sondern weil sie die vielbenutzten Bände eines Schriftstellers vereinigt, der mit Literatur gelebt und gearbeitet hat. Und obwohl er nicht ständig mit dem Stift in der Hand las, müssen die Bücher Artmanns gewissermaßen als Ersatz für den fast marginal zu nennenden schriftlichen Nachlaß gelten, der nur 14 Archivboxen umfaßt.37 „Nie ist einer nachlässiger mit seinen Manuskripten umgegangen“,38 heißt es unisono. In einer Typologie literarischer Nachlaßgeber, deren Pole zwischen dem pedantischen Archivar seiner selbst und dem eher chaotischen Minderer seiner Bestände liegen, müßte man Artmann letzterer Gruppe zuordnen.39 Klaus Reichert bedauert dies als dessen Herausgeber besonders:

Er hat eine Laxheit gegenüber seinen Skripten gehabt. Er hat sie verloren, liegengelassen. Es tauchen immer wieder Sachen auf, die zufällig Freunde irgendwo gefunden haben. Er hat nicht, wie andere Dichter das machen, die Besessenheit, alles aufzubewahren, alles schön abzulegen, zu ordnen usw. Es interessiert ihn das, was er im Augenblick schreibt, die Maske, in die er sich im Moment hineinbegeben hat. Das ist es, was ihn interessiert. Was er früher einmal geschrieben hat, ist ihm eigentlich egal.40

Viele Geschichten, die vom traurigen Schicksal zahlreicher Handschriften und Typoskripte künden, passen sehr gut zur Mythisierung des eigenen Lebens. So soll, berichtet Artmann an einer Stelle, ein Hausmeister im schwedischen Malmö, wo er Anfang der 1960er Jahre lebte, nach seinem Auszug einen „Großteil des dort entstandenen Œuvres vernichtet“41 haben. Ein Rezensent berichtet schon 1966, nach Erscheinen des Gedichtbands verbarium davon, daß er sich schwer tue bei der Frage, ob diese Verse auch die besten Verse Artmanns seien:

Der Zufall liest nicht nach qualitativen Prinzipien aus. Vielleicht hat Artmann viel bessere geschrieben, vielleicht sind gerade sie verlorengegangen, haben sich zumindest nicht angefunden, sind aus des verschwenderischen Poeten Füllhorn in private Laden, Alben und Archive geflattert. Es heißt, Sammler klaubten ihm die Sachen unter der Feder weg.42

Fest steht jedenfalls, daß es Artmann zeitlebens nur seinen Freunden zu verdanken hatte, daß sein Werk einem größeren Leserkreis überhaupt in gedruckter Form zugänglich war. In einer Besprechung des Bandes ein lilienweißer briet aus lincolnshire wird die archivarische Treue der Freunde Artmanns etwas mokant kommentiert: 

Die starke Gruppenintimität jedoch, das Freundschaftsgefolge, die nachwandernden Bewunderer des „Meisters“, überhaupt das Klüngelhafte im literarischen Leben Österreichs, brachten es fertig, daß kaum ein Text Artmanns verlorenging, während er selbst, genialisch-unbekümmert, seine Gedichte „verschmiß“ sie in seinen dauernd wechselnden Wohnorten liegen ließ oder sie ohne Abschrift aus der Hand gab. Das Nachwort von Gerald Bisinger macht deutlich, welche Querverbindungen, welches Ausforschen, Sammeln, Bewahren von anderer Seite diese mustergültige Edition erst ermöglichten.43

Bezeichnend ist, daß sich im Nachlaß von Hannes Schneider,44 einem Autor aus dem Umfeld der Wiener Gruppe und Initiator der Zeitschrift Eröffnungen, mehr Texte Artmanns befinden, als in dessen Nachlaß selbst überliefert sind, darunter als einmaliges Stück der Entwurf zum Manifest gegen die Wiederbewaffnung Österreichs vom 17. Mai 1955. Diese erstaunliche Nachlässigkeit in bezug auf die Dokumentation seiner schriftstellerischen Arbeit gilt freilich nicht für die etwa 3.500 Bände seiner Bibliothek, die – gerade weil es an nachlaßtypischen Materialien mangelt – wegen ihrer Arbeitsspuren und Marginalien sowie der beigelegten Notizzettel den vielleicht zentralen Kern des literarischen Vermächtnisses von H.C. Artmann ausmacht.

Bibliothek und öffentliche Sammlung
Als die Bibliothek Artmanns vor deren Erwerbung im Jahr 2004 in seinem Salzburger Haus besichtigt wurde, konnten sich die Besucher davon überzeugen, daß die so prall gefüllten Regale keineswegs von der „leise[n] Langeweile der Ordnung umwittert“45 waren, die der bibliophile Philosoph Walter Benjamin einst beschworen hat. Die auf dem Vorsatzblatt und dem Frontispiz verwendeten Aufnahmen, die die frühere Aufstellung dokumentieren, belegen, daß Artmann seine Bücher weder alphabetisch noch nach Fachgebieten aufgestellt hatte. Dabei dürften regelhafte und regellose Aufstellung parallel existiert haben. Manchmal sind Inseln auszumachen, wo sich innerhalb der Reihen eindeutige Verwandtschaftsbeziehungen konstatieren lassen, wo offensichtlich nach einem System gegenseitiger Sympathien oder Antipathien gestellt wurde, wo es im Nebeneinander derart heftige Kontraste gab, die nach längerem Überlegen doch prima vista verborgene Übereinstimmungen beinhalten. Über weite Teile der Bücherborde freilich ist keinerlei Regel erkennbar, auch mehrbändige Werke stehen nicht beieinander. Artmann hat die aus diesem Grunde fälligen Suchzeiten bisweilen beklagt und hat darin bekannte Vorläufer wie Christoph Martin Wieland. Dem wurde vorgeworfen, daß er in seiner etwa 6.000 Bände umfassenden Bibliothek voller literarischer Preziosen nicht recht Ordnung hielte, worauf er entgegnete:

Mein Wille ist nicht schuld daran, sondern – wie soll ich sagen? – mannigfacher, oft nur kleiner Gebrauch, Zerstreuung, Vergeßlichkeit… da sammeln sich Bücher, die besser an ihrem Orte ständen, da werden andere verlegt, und ich suche sie überall, wo sie nicht zu finden sind.46

Artmann war sich der Problematik bewußt. Er gab die Schuld an dem Mix von subjektiver Ordnung und objektivem Chaos auf seinen Regalen den beengten Verhältnissen im Salzburger Haus. Hinzu kam der zweite Standort mit seiner Wiener Wohnung: „Ich habe meine ganzen Bücher in Salzburg“, sagte Artmann in einem Gespräch. „Ich habe in Salzburg noch viermal so viele Bücher wie hier stehen. Oder fünfmal so viele. Ich hätte sie schon längst aufgegeben, die Wohnung. Aber ich kann die Bücher nicht aufgeben“.47 Barbara Wehr, eine langjährige Freundin Artmanns, die als Professorin für italienische und französische Sprachwissenschaft an der Universität Mainz tätig ist, ließ das nicht gelten und rief Artmann dazu auf, diesen Zustand nicht andauernd zu beklagen. Sie stellte ihm die zentrale Frage:

Wann ordnest Du Deine Bücher?48

Diese Aufgabe hat die Wienbibliothek im Rathaus übernommen, und Artmann somit posthum einen lange Zeit gehegten Wunsch erfüllt:

Ich hatte mal einen Traum, da hatte ich die ganzen Bücher beieinander, und da war ich sehr begeistert.49

Bei der Aufstellung konnte es jedoch nicht darum gehen, die originale Reihung zu rekonstruieren. Es wurde vielmehr eigens eine spezielle Systematik entwickelt, die die uneingeschränkte Benutzbarkeit der Sammlung gewährleistet.50 Tatsächlich kann sich der Benutzer durch die fast komplett aufgestellte Bibliothek der Leseleistung Artmanns auf einzigartige Weise annähern. Selbst Bände, bei denen eine Reparatur notwendig wäre, wurden trotz, bisweilen auch wegen all ihrer – mit den Worten des Dichters Karl Wolfskehl – „Ehrenmarken, Narben und Alterszeichen“51 bei der Aufstellung berücksichtigt. Neben wohlerhaltenen Erstausgaben sind spätere Auflagen, abgenutzte Bände, abgegriffene Umschläge und eingerissene Broschuren zu finden. Zudem sind viele Bücher gebräunt und stockfleckig. Zuweilen haben sie offenbar als Unterlage für eine Tasse Kaffee oder ein gepflegtes Glas Wein gedient. Anderen Bänden sieht man an, wie sie unter der räumlichen Bedrängtheit in Salzburg gelitten haben. Generell waren Artmann der Fund samt darin enthaltenem Text wichtiger als der Zustand eines Buches. Die nicht immer rosige finanzielle Situation des Autors tat ein übriges, wie sich Friedrich Polakovics erinnert, der häufig bei Artmann in Breitensee, wo Polakovics noch heute wohnt, zu Gast war:

In seinem Kabinett in der Kienmayergasse hat er ein zusammengenageltes Regal gehabt, da sind seine meistens broschürten Bände drinnengestanden, so billig wie möglich, wie es halt damals gegangen ist.52

Natürlich wußte Artmann einen schönen alten Druck durchaus zu schätzen, wie man seinem schwedischen Tagebuch, in dem es wie in seinen realen Kalendern nur so von Lektürehinweisen wimmelt, entnehmen kann:

Heute morgen ist mein guter Quixote, den ich vor achtzehn monaten in Stockholm zurücklassen mußte, wieder bei mir angekommen. Lederrücken, goldtitel und braunfleckiges papier sind ja nicht so ganz nach meinem geschmack, aber was will man? Die ausgabe ist von 1840, bei Baudry, Librería Europea, no 3, Quai Malaquais, cerca del Pont des Arts und der druck ist angenehm zu lesen.53

Bei Artmann bewahrheitet sich, daß jeder Sammler und Leser Moriz Sondheim zufolge „seine eigene Bibliophilie [besitzt], die ihn beglückt“.54 Artmann schreckte trotz aller Bücherliebe aber nicht davor zurück, sich im Notfall von einigen Bänden zu trennen. Als es Anfang der 1950er Jahre Mode war, den Künstlertreffpunkt Strohkoffer zu besuchen, brauchte er das nötige Kleingeld dafür:

Ich bin halt auch hingegangen. Und war dann fast jeden Abend dort. Immer dann, wenn ich einen Schilling g’habt hab. Das Trinkgeld für die Garderobe. Das war das Wichtigste. Sonst hätt’ ich mich geniert. Manchmal hab’ ich Bücher versetzt, um den Garderoben-Schilling zu kriegen. Meine Anatole-France-Sammlung hab ich so verschleudert.55

Dieser Bücherschwund zu Lebzeiten Artmanns ist naturgemäß nicht kompensierbar. Aber zu weiteren Verlusten oder gar zur endgültigen Auflösung der Sammlung wird es wegen ihrer geschlossenen Erwerbung durch die Wienbibliothek nicht kommen. Das ist auch heute nicht selbstverständlich. „Nur wenige Privatbibliotheken haben das Glück“, schreibt Roland Folter in seinem noch immer gültigen Standardwerk, „geschlossen erhalten zu bleiben und dadurch ein geistiges Bild ihrer Besitzer der Nachwelt zu überliefern. Das Schicksal der meisten ist es, aufgeteilt, verkauft, verstreut zu werden“.56 Denn selbst die Bibliotheken von so prominenten Schriftstellern wie W.G. Sebald, dessen Texte ähnlich intensive Rückschlüsse auf die Lektüre des Autors zulassen wie bei Artmann, drohen zu zerfallen, weil einschlägige Institutionen (im Falle Sebalds das Deutsche Literaturarchiv in Marbach) aufgrund der vielen „Dubletten“ von einer geschlossenen Erwerbung absehen57 und nur solche Bände übernehmen, die eindeutige Arbeitsspuren tragen. Doch wer definiert diese? Eindeutige Festlegungen sind hier noch nicht getroffen, so daß der Forschung ohne Not unwiederbringliche Verluste drohen. Freilich sind sich nur wenige Literaturwissenschaftler dieser Gefahr bewußt, wie etwa Sven Hanuschek, der ein Verzeichnis der Bibliothek des Dramatikers Heinar Kipphardt vorgelegt hat, um dessen Bücherbesitz wenigstens in Katalogform zu überliefern.58
Die Schicksale von Dichterbibliotheken beschäftigen seit jeher insbesondere die Eigentümer selbst. „Ausserdem will ich es nicht zulassen“, schrieb beispielsweise Petrarca an Boccaccio,

dass die Bibliothek eines Mannes, wie du einer bist, zerstreut wird und in unwürdige Hände fällt. Denn obwohl wir getrennt voneinander lebten, waren wir doch durch unseren Geist miteinander vereint. Deshalb will ich, dass unsere Sammlung auch nach unserem Tod zusammenbleibt. Wenn Gott meinem Wunsche entsprechen will, dann wird sie völlig ungeschmälert an einen heiligen und frommen Ort verbracht werden, an dem man sich unserer in alle Ewigkeit erinnern wird.59

Petrarcas Sorge war berechtigt. Sowohl seine als auch die Büchersammlung von Boccaccio wurde in alle Winde verweht. Nur noch wenige Exemplare sind einem der beiden Dichter der Renaissance zuzuschreiben. „Ja, ich habe Sorge um meine Bücher“,60 äußerte auch Artmann kurz vor seinem Tod. Seine Schützlinge hätte er gerne an sicherem Ort versorgt gewußt:

Ich wollte ein Waisenhaus, ein Orphaneum für Bücher machen. Damit die Bücher nicht in alle Welt verstreut werden. Da sammelt einer ein ganzes Leben an Büchern, und dann, zack, stirbt er, und dann sind die völlig zerstreut, liegen die herum.61

Die Wienbibliothek hat sich der Bücherwaisen Artmanns angenommen. Allen. Walter Benjamin stand solchen Übernahmen privater Kollektionen durch öffentliche Einrichtungen skeptisch gegenüber: „Das Phänomen der Sammlung verliert“, kommentierte Benjamin den Tod eines Bücherherrn, „indem es sein Subjekt verliert, seinen Sinn. Wenn öffentliche Sammlungen nach der sozialen Seite hin unanstößiger, nach der wissenschaftlichen nützlicher sein mögen als die privaten – die Gegenstände kommen nur in diesen zu ihrem Recht“.62 Das soll sich mit der geschlossenen Erwerbung und der kompletten Aufstellung der Bücher Artmanns ändern: Jeder Besucher der allgemein und frei zugänglichen Sammlung kann in die Rolle des von Benjamin zitierten Subjekts schlüpfen. Die Bedeutung der über Jahrzehnte zusammengetragenen Bibliothek Artmanns, ihr Gewinn im einmaligen Ensemble der nun in der Wienbibliothek versammelten und zur ständigen Verfügung gehaltenen Bände zeigt sich mit jedem Titel, den man dort findet. Ihr Wert steigt mit jeder Benutzung. Ohne Zweifel hätte sich H.C. Artmann darüber sehr gefreut.

Marcel Atze, Vorwort

 

Inhalt

– Sylvia Mattl-Wurm: Zur Bibliothek H. C. Artmann. Ein Vorwort

– Marcel Atze: „Ein Orphaneum für Bücher“. Einführung

– Marcel Atze / Hermann Böhm: Artmanns Bücherwelt. Erläutert an einundzwanzig Beispielen

– Barbara Wehr: Der selbstbewußte Akt der Inbesitznahme. Einiges über H.C. Artmanns Umgang mit Büchern

– Marcel Atze: Der suchende Leser H.C. Artmann und seine Funde. Von golemartig unglaublichen Buchhandlungen, Prachtantiquariaten und prominenten Provenienzen

– Johannes Birgfeld: „… ein ganz klein wenig zu sehr ins ,Antiquierende‘“. Arno Holz, H.C. Artmann, ein drohender Besuch beim Setzer und die Kunst der Nachahmung des Barock

– Stefan Alker: „Dieses Büchlein zum Gedenken, möcht ich Meistern Artmann schenken“. Über Widmungsexemplare aus der Bibliothek H.C. Artmann

– Christopher Frey und Klaas Ilse: Der Nebelzerkauer. Die Lovecraft-Übersetzungen H.C. Artmanns

– Stefan Winterstein: Mit Donald Duck auf Weltreise. H.C. Artmanns Comic-Lektüren

– Jean-Paul Jacobs: Verführung zur Poesie oder Kamanda tanzt vor Artmann

– Peter Rosei: Fragmentarisches über H.C. Artmann und eine Freundschaft

– Anhang

– Chronik H.C. Artmann

– Aufstellungssystematik der Bibliothek H.C. Artmann

– Personenregister

– Mitarbeiterverzeichnis

 

Fakten und Vermutungen zu Marcel Atze

 

Der Mond isst Äpfel… sagt H.C. Artmann. Die H.C. Artmann-Sammlung Knupfer

Clemens Dirmhirn: H.C. Artmann und die Romantik. Diplomarbeit 2013

 

 

Adi Hirschal, Klaus Reichert, Raoul Schrott und Rosa Pock-Artmann würdigen H.C. Artmann und sein Werk am 6.7.2001 im Lyrik Kabinett München

 

„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 1)

„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 2)

 

 

Fakten und Vermutungen zu H.C. Artmann + InstagramFacebookReportageGesellschaft + Archiv + Sammlung Knupfer + Internet Archive 1 & 2Kalliope + IMDbKLG + ÖMBibliographie + Interview 12 + Georg-Büchner-Preis 1 & 2
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shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf H.C. Artmann: FAZ ✝︎ KSA ✝︎ Standart

Zum 70. Geburtstag von H.C. Artmann:

Manuskripte, Heft 114, 1991

Zum 10. Todestag von H.C. Artmann:

Thomas Rothschild: Der H.C.
titel-magazin.de, 4.12.2010

Zum 100. Geburtstag von H.C. Artmann:

Michael Horowitz: H.C. Artmann: Bürgerschreck aus Breitensee
Kurier, 31.5.2021

Christian Thanhäuser: Mein Freund H.C. Artmann
OÖNachrichten, 2.6.2021

Christian Schacherreiter: Der Grenzüberschreiter
OÖNachrichten, 12.6.2021

Wolfgang Paterno: Lyriker H. C. Artmann: Nua ka Schmoez
Profil, 5.6.2021

Hedwig Kainberger / Sepp Dreissinger: „H.C. Artmann ist unterschätzt“
Salzburger Nachrichten, 6.6.2021

Peter Pisa: H.C. Artmann, 100: „kauf dir ein tintenfass“
Kurier, 6.6.2021

Michael Stavarič: „Immer verneige ich mich, Herr Artmann“
Die Furche, 9.6.2021

Edwin Baumgartner: Die Reisen des H.C. Artmann
Wiener Zeitung, 9.6.2021

Edwin Baumgartner: H.C. Artmann: Tänzer auf allen Maskenfesten
Wiener Zeitung, 12.6.2021

Cathrin Kahlweit: Ein Hauch von Party
Süddeutsche Zeitung, 10.6.2021

Elmar Locher: H.C. Artmann. Dichter (1921–2000)
Tageszeitung, 12.6.2021

Bernd Melichar: H.C. Artmann: Ein Herr mit Grandezza, ein Sprachspieler, ein Abenteurer
Kleine Zeitung, 12.6.2021

Peter Rosei: H.C. Artmann: Ich pfeife auf eure Regeln
Die Presse, 12.6.2021

Fabio Staubli: H.C. Artmann wäre heute 100 Jahre alt geworden
Nau, 12.6.2021

Ulf Heise: Hans Carl Artmann: Proteus der Weltliteratur
Freie Presse, 12.6.2021

Thomas Schmid: Zuhause keine drei Bücher, trotzdem Dichter geworden
Die Welt, 12.6.2021

Joachim Leitner: Zum 100. Geburtstag von H. C. Artmann: „nua ka schmoezz ned“
Tiroler Tageszeitung, 11.6.2021

Linda Stift: Pst, der H.C. war da!
Die Presse, 11.6.2021

Florian Baranyi: H.C. Artmanns Lyrik für die Stiefel
ORF, 12.6.2021

Ronald Pohl: Dichter H. C. Artmann: Sprachgenie, Druide und Ethiker
Der Standart, 12.6.2021

Maximilian Mengeringhaus: „a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden“
Der Tagesspiegel, 14.6.2021

„Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt“
wienbibliothek im rathaus, 10.6.2021–10.12.2021

 

 

Ausstellungseröffnung „Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt!“ in der Wienbibliothek am Rathaus

 

 

 

Lovecraft, save the world! 100 Jahre H.C. Artmann. Ann Cotten, Erwin Einzinger, Monika Rinck, Ferdinand Schmatz und  Gerhild Steinbuch Lesungen und Gespräch in der alten schmiede wien am 28.10.2021

 

Sprachspiele nach H.C. Artmann. Live aus der Alten Schmiede am 29.10.2022. Oskar Aichinger Klavier, Stimme Susanna Heilmayr Barockoboe, Viola, Stimme Burkhard Stangl E-Gitarre, Stimme

 

Wiener Vorlesung vom 10.5.2022 – Zwei Dichter ihres Lebens: H. C. Artmann und Wolfgang Bauer. Lesung und Diskussion literarischer Schätze:
Daniela Strigl und Erwin Steinhauer. Gestaltung und Moderation: Maximilian Gruber

 

 

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Uferartmann“.

 

Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm Die Jagd nach H.C. Artmann von Bernhard Koch, gedreht 1995.

 

H.C. Artmann 1980 in dem berühmten HUMANIC Werbespot „Papierene Stiefel“.

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lieb! (wozu das:) Beil? (auf nach:) Biel! – Ei! Liebe! bleib!… – Blei?

Michel Leiris ・Felix Philipp Ingold

– Ein Glossar –

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