NIELS BOHR – KORRESPONDENZPRINZIP
daß die atome der sonne und den planeten
aaaaaentsprächen
war aberglaube – mehr in den sternen zu sehen
als daß sie unter ihrem gewicht langsam verbrennen
draußen halsen die jollen an der wendeboje ・ ein
aaaaablähen
von kalten segeln auf stehenden wellen ・ szenen
des sonntags wie die eiscremeverkäufer und die flächen
der markisen die im wind schlagen ・ das stete
gab ich für das beständige auf aber ich beharrte
auf anschaulichkeit ・ dazwischen kam das licht: es paarte
sich mit den dingen als wäre die porzellanglätte
des himmels erst für die finger tastbar ・ sommer hier
sind so ・ der raum löst sich in hitze auf und am geschirr
auf dem kaffeetisch erscheint das grinsen
einer cheshire-katze ・ was kann ich anderes als hinsehen
nur die fülle führt zur klarheit aber im abgrund liegt
die wahrheit・ das paradoxe befreite mich von der fiktion
des beobachters den jedes experiment heiligt
weil es ihm einen blick von außen bietet
unten promenieren mädchen ・ jung die augen wie pygmalion
oliven auf einem teller ・ jede geste die bittet
mund und hand zu sein · wenn ihr lächeln auf mich fällt
bin ich nichts als der mann auf dem balkon die besten jahre
über dem hosenbund ・ ihr starren
ist eine erinnerung daran daß wir auf irreduzible weise
teil der welt sind ・ jedem versuch sie wiederzugeben fehlt
etwas weil nichts uns aus den bildern rücken kann ・ weiße
servietten neben dem besteck ・ dann nachmittag:
es ist immer ein ich das wir sagt ・ licht und materie
die spektrallinien fern vom kern fallen
in einer kontur zusammen und lassen so einen übertrag
in den gewohnt unscharfen rahmen zu ・ die antinomie
von ganzen sätzen ・ den silben konsonanten und vokalen
drängte sich der vergleich mit elementaren
teilchen auf ・ es war nichts als ein beharren
auf berechenbares ・ es wird bald regnen ・ die möwen
zieht es zurück in ihr uferloses zirkeln vertieft
bis die wolken diese kreidestriche von neuem löschen
in meiner sprache jedoch wichen die substantive
den verben ・ stell dir statt dessen einen bleistift
vor der mit seiner spitze auf dem nächsten wort balanciert
nichts kann sagen auf welche seite er dann fallen wird
quer über die bögen hier ・ nicht mit ihm wurden diese briefe
vollgeschrieben ・ als unterschrift nur eine glyphe
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaacopenhagen, 1926
Raoul Schrott
I
Dreißig Prozent der Einsender zu diesem Jahrbuch der Lyrik waren den Herausgebern namentlich bekannt; von ihnen stammen 91 Prozent der abgedruckten Gedichte, von den 70 Prozent der (noch) unbekannten und in Buchform bis dahin Ungedruckten 9 Prozent. Setzt man nun die durchschnittliche verkaufte Auflage des Jahrbuchs und die Anzahl der Einsendungen zueinander ins Verhältnis, so ergibt sich daraus, daß jeder dreizehnte Jahrbuchkäufer Gedichte schreibt und auch einschickt. Und was lernen wir daraus? Daß 12 von 13 Jahrbuchkäufern sich nicht trauen, ihre Werke einzuschicken, weil sie die vorangegangenen Bände genau gelesen haben? Daß die verkaufte Auflage viel höher sein müßte, das Lesen von Gedichten in der Ära Kohl jedoch mehr und mehr prosaischen Geschäften gewichen ist? Daß selbst motivierte Deutschlehrer Volker Braun für den Enkel eines Rasierapparate-Herstellers halten? – Magisterthemen in Hülle und Fülle, Kandidaten: an die Arbeit!
II
Die neuen Namen in diesem Jahrbuch sind ausschließlich die von in den sechziger Jahren Geborenen, die dreißig und älter sind. Schreiben die Zwanzigjährigen keine Gedichte, oder keine bemerkenswerten? Kann eigentlich nicht sein. Oder rappen die lieber? Gibts einen „Generationsbruch“ in der Lyrik? Und wo sind – außer in den CD-Booklets – die Raps zu finden?
III
Daß eine neue Lyrik-Generation antritt und mit einer Anthologie auf sich aufmerksam macht, ist seit Jürgen Theobaldys Und ich bewege – mich doch. Gedichte vor und nach 1968 (München: C.H. Beck 1977) nicht mehr vorgekommen, und das ist immerhin 20 (zwanzig) Jahre her. 1927 notierte der junge Brecht angesichts eines Lyrikwettbewerbs der „jüngsten Generation“, er habe den Eindruck gewonnen, „daß heute jeder Deutsche ein Gedicht schreiben kann. So weit haben wir es glücklich gebracht. Von Anbeginn eine unglückliche Vorahnung, Hang zum Sinnieren, rasch beleidigt sein, dann wieder alles so schön finden. Eine durch ein ganzes Jahrhundert verfehlte Erziehung tat das übrige… Die Leute sollen mal erst zum Militär kommen.“ – Haben es die aus der jüngsten Generation 70 Jahre später gründlich verlernt, das Gedichteschreiben, oder – aus lauter Hang zum Sinnieren – einfach keine Lust dazu? Weil sie lieber ihr Tamagotchi füttern?
IV
In einem Brief, den Marcel Beyer 1992 als damals 26jähriger an das Herausgeberduo Buchwald/Gernhardt schrieb, lesen wir:
Nun, ich bin, was das ,Klima‘ bezüglich (junger) Gegenwartsliteratur betrifft, ein wenig enttäuscht. Es wird so viel über schlechte Gedichte geklagt, aber so wenig über gute Gedichte geschrieben. Und so schlecht sieht es meiner Meinung nach gar nicht aus. Vielleicht liegt es daran, daß ich – altersbedingt – erst in den achtziger Jahren intensiv zu lesen begann, aber ich denke, die Siebziger (deren Lichtblicke – wie Pastior und Priessnitz – schon in den Sechzigern zu publizieren begannen) haben eben weder einen Kling noch einen Waterhouse hervorgebracht. Daß haufenweise Quatsch geschrieben wird, ist klar – und ich bin auch der Ansicht, daß dies gerade daran liegt, daß viele Schreibende gar nicht mehr lesen. Aber ist dies eine neue Entwicklung? Ich weiß es nicht (vielleicht sind das auch noch Nachwirkungen der in den Siebzigern propagierten Alltagslyrik?).
V
Jedenfalls: Zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Lyrikjahrbuchs (claassen Jahrbuch der Lyrik 1, „Am Rand der Zeit“, hrsg. von Christoph Buchwald und Harald Hartung, Düsseldorf: claassen 1979) wäre es verlockend, zumindest ein umfangreicheres Kapitel mit Gedichten der 1970 ff Geborenen zu publizieren.
VI
Kleiner Hinweis an Literaturkritiker: Wenn 1999 – aus Anlaß des 20jährigen Bestehens des Lyrikjahrbuchs – schon nicht alle 17 Jahrbücher als sich fortschreibende Anthologie der Gegenwartslyrik besprochen werden können (wieviele und welche Autoren wurden in einem Jahrbuch zum ersten Mal gedruckt und haben dann ihren Weg gemacht?), dann kann man vielleicht doch die letzten sehr unterschiedlichen vier „einer ernsthaften Betrachtung zuführen“ (Brecht); der in Sachen Poesie wunderbar unbeirrbare C.H. Beck Verlag stellt Rezensionsexemplare jederzeit zur Verfügung. Und: Mit einem von Kritikern dem Dauerherausgeber gegenüber geäußerten „da sollte man tatsächlich mal was drüber schreiben“ oder „hab ich echt versiebt, schick doch bitte vom nächsten vorab die Fahnen“ oder „was, so lang gibt’s das schon, und wir haben noch nie was drüber gemacht?“ oder „wir haben ja wenig Platz für Lyrik, aber das Jahrbuch müßte nun wirklich mal orntlich besprochen werden“ oder „hab alle vollständig zuhause, aber bis man darüber was geschrieben hat, ist schon wieder ein neues da“ usw. usf. etc. pp ist das Jahrbuch der Lyrik – in aller Bescheidenheit sei’s gesagt – publizistisch ungenügend wahrgenommen. Das haben auch die als Mitherausgeber wechselnden Dichter Harald Hartung, Christoph Meckel, Rolf Haufs, Gregor Laschen, Elke Erb, Karl Mickel, Friederike Roth, Jürgen Becker, Ursula Krechel, Thomas Rosenlöcher, Robert Gernhardt, Michael Buselmeier, Joachim Sartorius, Ror Wolf und Marcel Beyer nicht verdient. Beschwerdenende.
VII
Den „Blick zum Nachbarn: Schweiz“ hat Urs Engeler, enthusiastischer Baseler Anthologist, Verleger und Essayist in Sachen Lyrik, zusammengestellt und redaktionell betreut. Allen Dank dafür.
Christoph Buchwald, Nachwort
liegt die durchschnittliche Leserzahl eines Gedichtbandes bei +/– 1354. Setzt man (bei Gedichten scheint das angebracht) Leser = Käufer und schlägt einen Anthologiebonus von rund 300 Lesern zu, kommt man auf 1654 Exemplare. Da die Durchschnittsauflage des Jahrbuchs der Lyrik jedoch gut dreimal so hoch ist, bleiben drei Schlüsse:
– Das Jahrbuch der Lyrik ist atypisch, weil es nicht den „Durchschnitt“ versammelt, sondern die den Herausgebern erreichbaren besten Gedichte eines Jahres.
– Das Jahrbuch der Lyrik interessiert einen sehr viel größeren Leserkreis, weil es auf kompakte Weise über die neuesten Entwicklungen informiert, im Gedicht Gegenwart und Epoche sichtbar macht, also „von uns erzählt“.
– Das Jahrbuch der Lyrik ist mit einem jeweils anderen Lyriker als Mitherausgeber immer wieder für Überraschungen gut und hat in den 18 Jahren seines Bestehens zahlreiche Autoren entdeckt, die später mit eigenen Bänden reüssiert haben.
Verlag C.H. Beck, Klappentext, 1998
Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa
Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr
Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009
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