STERNE WERDEN RUHELOS
aus ihrer Ewigkeitsübung gerissen
schreien mit Meteoren,
die landen auf Geschwisterstraßen
mit dem gleichen Musikstück aus Blei
und Vergessenheitsasche.
Aber Ausflüge
höher als Tod
kehren nicht in Krankenstuben zurück.
Diese Vögel nisten weiter
in ihrer eigenen Freude.
Einführung
Nach der Veröffentlichung von Sternverdunkelung 1949 dauerte es acht Jahre, bis Nelly Sachs 1957 mit Und Niemand weiß weiter (später: Und niemand weiß weiter) einen neuen Gedichtband vorlegte. 1950 war Margarete Sachs nach langer Krankheit gestorben. Die anschließend entstandenen „Elegien auf den Tod meiner Mutter“ wollte Sachs zunächst ebenso veröffentlichen wie ihre „Nächtlichen Aufzeichnungen“ bzw. „Briefe aus der Mitternacht“, nahm später aber nur einige wenige dieser Gedichte in Und niemand weiß weiter auf. Bis Ende 1951 weitgehend abgeschlossen waren die Gedichte der späteren Zyklen „Und niemand weiß weiter“, „Melusine“ und „Flügel der Prophetie“. Am 22.7.1952 berichtete sie Ilse und Moses Pergament von ihrem Zögern hinsichtlich einer Publikation:
Dann liegt eine Sammlung neuer Gedichte Und niemand weiß weiter da, die zusammen mit den Tagebuchaufzeichnungen „Briefe aus der Mitternacht“ eventl. herauskommen sollen. Aber vorläufig will ich alles liegen lassen, bis es mir reif scheint. (Briefe 90)
Walter A. Berendsohn erhielt am 14.9.1952 eine detaillierte Aufstellung der fertigen Zyklen, aber auch hier deutet Sachs ihre Unsicherheit an:
Und dann werde ich Gedichtfolgen zusammenstellen. Die einzelnen Cyklen zerfallen: „Elegien auf den Tod meiner Mutter“, „Und niemand weiß weiter“, „Vom Sohar, dem Buch der Strahlen“, „Melusine“, „Aufgezeichnet in der Nacht“. Das Letzte weiß ich noch nicht, ob es da hineinpassen wird. (Berendsohn, 27)
1953 wurde Sachs operiert und verarbeitete diese Erfahrung in dem Zyklus „In Ohnmacht hinterm Augenlid“, der zunächst „Operation wach durchlebt“ hieß (so wie „Flügel der Prophetie“ zunächst „Nicht nur Land ist Israel“ und „Untergänge“ zunächst „Elegien“). 1954 kam die „Stunde zu Endor“ hinzu, 1957 „Von Flüchtlingen und Flucht“. Auch der Zyklus „Begegnungen außerhalb“ war ursprünglich für den Band vorgesehen. Einzelne Gedichte der jeweiligen Zyklen entstanden auch schon wesentlich früher, bis zuletzt veränderte Sachs die Zusammenstellung. (Eine Aufstellung der verschiedenen Fassungen des Bandes findet sich in Sager, 339.)
Über ihr dichterisches Anliegen in dieser Zeit schrieb Sachs am 9.3.1951 an Walter A. Berendsohn:
Was ich selbst als meine Aufgabe betrachten möchte ist „Äußerstes“ und „Innerstes“ der Wesenheit „Israel“ den heutigen Menschen aufzuweisen. Nicht nur der „Augenblick Sand“ durch den alles hindurch muß, sondern wie dieser Sand verbunden ist, wie dieses Blut berührt von seinem strahlenden Gesetz. Wenn sich die Menschheit viele Jahrtausende hindurch mit den Griechen als den Urhebern des Maßes beschäftigt, so möchte ich „Israel“ wieder eingegliedert wissen in das, was sein Wesen ist: Inbrunst. […] Vielleicht hat diese junge Pioniergeneration noch keine Zeit die Flamme seiner heiligen Schrift aus den Buchstaben zu nehmen und seine Erde zur Befruchtung zu tun. Aber in Israel wird Samen gestreut und wer Samen streut, der weiß im Schlaf. Dies ist nur mein eigenes kleines Ich, dies Millimeter „Wollen“. Was davon gelingt und ob überhaupt etwas reif wurde für die Verwandlung, wer weiß? (Berendsohn, 22)
Außer den Gedichten entstanden auch mehrere Dramen und ein neuer Band mit Übersetzungen (Aber auch diese Sonne ist heimatlos, Darmstadt 1956). In dem 1956 veröffentlichten autobiographischen Text „Leben unter Bedrohung“, eine der wenigen zu Lebzeiten publizierten Prosaarbeiten, berichtet Sachs von ihren Erlebnissen in der Nazizeit und von ihrer Flucht nach Schweden. 1957 wurde sie korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.
Nach dem geringen Absatz von Sternverdunkelung war Sachs skeptisch, ob ein neuer Verlag ihre Gedichte herausbringen würde. Am 24.9.1953 schrieb sie an Johannes Edfelt:
In Deutschland lehnt man bei fast allen Verlegern Dichtung ab, die noch über Rilke hinaus eine Form für diese unsere zerbrochene Welt sucht. Es soll alles glatt und harmonisch im früheren Sinne sein. Wie ist das möglich, fragt man sich, aber das Publikum gibt die Antwort und kauft neue Dichtung nicht. (Briefe 94)
Am 14.6.1954 berichtete sie Walter A. Berendsohn:
An Herrn Lambert Schneider schrieb ich. Hoffentlich wird es, aber vielleicht bin ich ihm zu modern. Man kann es nicht wissen. Dann bleibt noch Limes und Piper. (Berendsohn, 28)
Immer wieder konnte sie Gedichte, teilweise in Übertragung, in internationalen Zeitschriften unterbringen, in Sinn und Form (Berlin), in Bonniers Litterära Magasin (Stockholm), in Documents (Paris), in Akzente (München), in Vår lösen (Sigtuna), im Mitteilungsblatt für Christlich-jüdische Zusammenarbeit (Hamburg) sowie in Texte und Zeichen (Darmstadt, Berlin und Neuwied). Noch unter „Jahr 1956 April“ notierte sie in „Weiteren Aufzeichnungen“:
Und niemand weiß weiter – – – diese Gedichte sind vielleicht ein Dorn für den Verleger – hat Angst daß die Druckerschwärze blutgemischt sein könnte. (NSW:IV)
Doch am 10.8.1956 konnte sie Brita und Johannes Edfelt mitteilen:
Ellermann, der Verleger von Stadler und Heym, ist der gleiche, der mir ein Angebot betr. meiner eigenen Dinge machte. Er gibt jedes Jahr einen Dichter heraus, finanziert es privat und rechnet nicht mit Verdienst. So etwas gibt es auf Erden. (Briefe 99)
Das Buch erschien 1957 zur Buchmesse im Ellermann Verlag, Hamburg und München. In ASachs befindet sich ein auf den 3.5.1957 datiertes, maschinengeschriebenes Manuskriptblatt mit der offenbar von Sachs verfaßten Verlagsankündigung:
Hier wird versucht das apokalyptische Heute mit einem inneren Universum in Verbindung zu bringen. Eine Mystik die viel aus der chassidischen Zeit und dem Buch Sohar schöpft.
Auf das steigende Interesse an ihren zunehmend hermetischen Gedichten reagierte Sachs – im Nachlaß befinden sich ein Blatt mit Selbstkommentaren („Späte Gedichte“) sowie ein ebenfalls kurzes Ts mit „Einigen Antwort-Versuchen auf Anfragen“ (ASachs).
Nachwort
floh die Dichterin Nelly Sachs (1891–1970) mit einem der letzten Flugzeuge aus Berlin nach Stockholm. So begannen dreißig Jahre Exil, in denen ein lyrisches Werk entstand, das 1966 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt wurde. Zusammen mit ihrem Freund Paul Celan gehört Sachs zu den wichtigsten deutschsprachigen Lyrikern der Nachkriegszeit. Von den erhabenen Tönen ihrer frühen Gedichte bis hin zur rätselhaften Klarheit des Spätwerks: Dichtung bildete für diese Autorin stets eine Überlebensform, die auf eine poetische „Durchschmerzung“ der Welt zielte.
Band II der neuen kommentierten Werkausgabe enthält das lyrische Spätwerk der Dichterin, das mit Und niemand weiß weiter (1957) und Flucht und Verwandlung (1959) einsetzte, um mit den Glühenden Rätseln der 196oer Jahre zu enden. Es sind Gedichte, die auf schmerzhafte Erlebnisse reagierten – stets eruptiv, „wie ein Blutsturz bis zur Vernichtung“ –, es sind aber auch Versuche, eine Verwandlung von teilweise komischen Proportionen durchzuführen. Nur so konnte ihre Dichtung das werden, was der Versuch, die Materie mit Worten zu durchwirbeln, anstrebte: ein „Wegweiser ins Ungesicherte hin“.
Mit dieser Werkausgabe, die über das lyrische Gesamtwerk hinaus die entlegenen Prosaarbeiten und vielen szenischen Dichtungen einschließlich der unveröffentlichten Dramen umfassen wird, rückt die Exilautorin Nelly Sachs auch äußerlich sichtbar wieder dorthin, wohin sie ihrem Rang nach gehört: ins Zentrum der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2010
– Aus dem Geist der Mystik – die epochale Lyrikerin Nelly Sachs, gebürtige Berlinerin und Literaturnobelpreisträgerin von 1966, wird 40 Jahre nach ihrem Tod endlich wiederentdeckt. –
Die kleine, zarte 75-jährige Frau versinkt fast im pompösen Sessel des Auditoriums der Schwedischen Akademie. Schüchtern lauscht sie der Rede, die ihr gilt: der Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 1966. Sie scheint es kaum zu fassen, nimmt die Urkunde verlegen mit tiefem Knicks entgegen. Sie ist die erste deutschsprachige Dichterin, der die höchste literarische Ehrung zuteil wird.
Die tonlosen Dokumentaraufnahmen, die auf dem Bildschirm der am 24. März eröffneten Nelly-Sachs-Ausstellung im Jüdischen Museum in Berlin flimmern, lassen nicht ahnen, dass die jüdische Lyrikerin deutscher Abstammung bis zu diesem 10. Dezember 30 Jahre im Exil gelebt hat, dass sie mit ihren leisen Worten ein Denkmal für sechs Millionen ermordete Juden schuf, dass sie auf ganz besondere Weise zu den Großen der literarischen Moderne gehört, deren Werk universelle Gültigkeit für die menschliche Existenz beanspruchen kann.
Dennoch sind die Werke der Nelly Sachs heute keinem größeren Leserkreis bekannt. Die Rezeptionsgeschichte verliert sich seit mehr zwei Jahrzehnten im Marginalen. Warum? Weil Nelly Sachs keine allzu rasch behauptete „Versöhnung“ gelten lassen konnte? Die vierbändige kommentierte Werkausgabe des Suhrkamp Verlags sowie die Ausstellung Flucht und Verwandlung machen das Werk der Nelly Sachs erneut zugänglich. Sie vertiefen die Kenntnis ihrer Gedichte, der Prosa, der szenischen Arbeiten und der Nachdichtungen schwedischer Autoren wie Gunnar Ekelöf mit einer Fülle von Anmerkungen. Sie erweitern das bisher Bekannte mit zahlreichen bis dato ungedruckten oder nur in Zeitungen publizierten Texten, die hauptsächlich aus dem Nachlass stammen.
Wer war sie nun wirklich, diese große Unbekannte, Vergessene, deren Werke nicht minder das Lied der Schöpfung singen als die Gedichte des neuerdings in aller Munde befindlichen Australiers Les Murray? Die – wie die Dänin Inger Christensen – das Alphabet alles Bestehenden buchstabierte, aber von einem anderen Ursprung her: der Kabbala?
„Sohar: Schöpfungskapitel“ ist ein Gedichtzyklus überschrieben, in dem vom Alphabet die Rede ist und vom „Buchstabenengel, uralter Kristall, / mit Wassertropfen von der Schöpfung eingeschlossen.“ Der tanzende Chassidim begleitet auf Monitoren den Besucher der Ausstellung Flucht und Verwandlung.
Weniger das Werk als das Leben der Nelly Sachs dokumentiert die Ausstellung, für die Aris Fioretos verantwortlich zeichnet – und hält sich damit zum Glück der Leser nicht an den Wunsch der Autorin, den Sie in einem Brief an den Literaturhistoriker Walter A. Berendsohn vom 25. Juni 1959 aussprach:
Du wirst… meine wiederholt ausgesprochene Bitte verstanden haben, dass ich hinter meinem Werk verschwinden will, dass man mich gänzlich ausschaltet – nur eine Stimme, ein Seufzer für die, die lauschen wollen.
Über die problematischen Facetten des Wortes „ausschalten“ hat Hans Magnus Enzensberger, der Nelly Sachs einst in seiner Eigenschaft als Lektor für den Suhrkamp Verlag gewinnen konnte, in seinem Nachwort zum Lyrikband Flucht und Verwandlung differenziert Auskunft gegeben. Zu hören sind ihre Gedichte heute per Kopfhörer an den „Hörstationen“ des in neun Abschnitte gegliederten Raumes der Ausstellung, den der Architekt Jens Imig nach dem kabbalistischen Motiv der Acht in acht fragmentarischen Modulen gestaltet hat. Im Umkreis des vierten Moduls ist auch das Gedicht „In der Flucht“ zu hören – jenes zentrale Gedicht, das Nelly Sachs während des Banketts nach der feierlichen Übergabe des Nobelpreisens vortrug. Einige der elementaren Signalworte ihrer gesamten Lyrik sind da zu finden: Wind, Sand, Stein und Schmetterling. Der Schlussvers aber kann als Credo ihres gesamten Lebens und Werkes gelten:
An Stelle von Heimat
halte ich die Verwandlungen der Welt
Das Leben der Heimatlosen hatte im „Paradiesgärtlein“ (So der Titel eines von ihr in Jugendjahren verfassten, mit Blumen versehenen Poesiealbums) begonnen. Geboren am 10. Dezember 1891 als Leonie (Nelly) Sachs, wuchs sie behütet als Kind musisch orientierter Eltern auf. Die schönen Künste wurden gepflegt in dieser Berliner Fabrikantenfamilie, die zum assimilierten deutsch-jüdischen Bürgertum gehörte. Zum fünfzehnten Geburtstag bekam sie den Roman Gösta Berlings Saga von Selma Lagerlöf geschenkt. Mit der Autorin begann sie bald darauf eine Korrespondenz. Dass dies eine lebensrettende Verbindung werden sollte, wurde erst 1940 offenbar. Die Fürsprache der schwedischen Autorin verhalf ihr – über Vermittlungen der Freundin Gudrun Harlan – zur Flucht aus Nazideutschland nach Stockholm. Als das Flugzeug am 16. Mai 1940 mit Nelly Sachs und ihrer Mutter an Bord (der Vater war 1930 gestorben) vom Flughafen Tegel abhob, waren sie knapp der Deportation in ein Konzentrationslager entgangen.
In Stockholm, in Ein-Zimmer-Wohnungen, in denen sie bis zu ihrem Tode wohnte und wo sie die Mutter bis zu deren Ableben 1950 pflegte, schrieb sie die Werke, die ihren Weltruhm begründeten. Der Gedichtband Dein Leib im Rauch durch die Luft erschien 1947 unter dem Titel In den Wohnungen des Todes im Ostberliner Aufbau Verlag, der auch ihre ersten Übersetzungen schwedischer Lyrik unter dem Titel Von Welle und Granit herausgab.
1949 war Sternverdunkelungen im Bermann Fischer Verlag erschienen. Die erste Veröffentlichung in der Bundesrepublik waren die von Alfred Andersch in der Zeitschrift Texte und Zeichen gedruckten Gedichte. Von da an wurde ihr endlich öffentliche Anerkennung zuteil.
Die Akademien in Darmstadt, München und Hamburg schmückten sich mit ihrer Mitgliedschaft. 1959 erschien der Gedichtband Flucht und Verwandlung in der Deutschen Verlags-Anstalt. 1960 wurde Hans Magnus Enzensberger Lektor bei Suhrkamp und erwarb die Rechte von Nelly Sachs’ Werk für seinen Verlag. Ihre Glühenden Rätsel erschienen daher von nun an in dem renommierten Traditionshaus, das jetzt nach Berlin zurückgekehrt ist. Die Autorin arbeitete unbeirrt an ihnen weiter, auch während ihrer vielen Aufenthalte in Nervenkliniken.
Was die Ehrung durch Preise betrifft, so hat sie den ersten Preis in Schweden bekommen: den Lyrikpreis des Schwedischen Autorenverbandes 1958. 1959 folgte der Literaturpreis im Bundesverband der Deutschen Industrie, 1960 die Verleihung des Meersburger Droste-Preises für Dichterinnen, 1961 der Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund und 1965 der Friedenspreis des deutschen Buchhandels in Frankfurt am Main. 1967 wurde sie zur Ehrenbürgerin der Stadt Berlin ernannt. Sie besuchte Berlin nach ihrer Flucht nur ein einziges Mal, danach nie wieder.
In der Ausstellung sprechen die Dinge für sich: die „Kajüte“, der vier Quadratmeter große Raum, in dem sie ihre Verse schrieb, der alte Fluchtkoffer, die Schreibmaschine, vor allem aber die Briefe der Freunde: Selma Lagerlöf, Walter A. Berendsohn, Alfred Andersch, Gunnar Ekelöf, Paul Celan und viele andere. Die Rehplastik aber, die eines der Tiere nachbildet, mit denen das Kind Nelly Sachs Zwiesprache hielt, führt in die Irre. Eher machen die Handpuppen Sinn, die auf wundersame Weise in das Gedicht „Immer“ (Band I der Werkausgabe) Eingang fanden mit dem „Spiegel der Puppenhäuser“ und dem „Tanz der Fingerliliputaner / in Kinderblutatlas gekleidet“. „Kinderblutatlas“ – welch eine Wortschöpfung! Welch eine Dichterin, die rätselhaft von „Geheimnis“ sprach, von „Nacht“ und „Trümmern des Lichts“ – und doch ungeheure Wahrheiten ganz einfach aussprach:
Immer
dort wo Kinder sterben
werden die leisesten Dinge heimatlos.
sondern teilweise auch noch das ruhmbestrahlte Nachleben von Nelly Sachs hat unter dem Signum des Späten und Verspäteten gestanden. Die in vorgerücktem Alter hervorgetretene und dann allmählich zu Ansehen gelangte Dichterin, zu deren erklärtem Selbstverständnis die Absicht gehörte, „hinter meinem Werk verschwinden“ zu wollen, ist mit diesem Werk bislang nicht umfassend und angemessen genug publik gewesen. Erst 40 Jahre nach ihrem Tod beginnt nun eine auf vier Bände angelegte kommentierte Werkausgabe zu erscheinen, die langzeitige Desiderate einlöst und zugleich ihren Standpunkt respektiert, die vor der Emigration entstandene Lyrik und Prosa nicht neu zu drucken bzw. ungedruckt zu lassen. Enthalten sind somit „sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichten Texte seit Mai 1940“, ferner die bisherigen Publikationen aus dem dichterischen Nachlaß „sowie eine umfangreiche und repräsentative Auswahl unveröffentlichter Arbeiten“ (Bd. 1, S. 223). Der solcherart nicht unwesentlich erweiterte Textbestand wird durch exemplarische Hinweise auf das Frühwerk in einem Nachwort des – auch für eine gewichtige Begleitpublikation verantwortlich zeichnenden – Hauptherausgebers Aris Fioretos ergänzt, der zwei frühe Gedichte zitiert (S. 201–202) und alle ermittelten Veröffentlichungen vor 1940 aufführt (S. 230–231).
Die Anordnung der Texte, auch in den für Oktober 2010 angekündigten Bänden 3. Szenische Dichtungen und 4. Prosa und Übertragungen, erfolgt strikt chronologisch nach den Sammel- bzw. Einzeldrucken, denen jeweils die zeitlich zugehörigen Nachlaßtexte beigeordnet werden. Die Konstitution der Texte beruht auf sachgerecht adäquaten Kriterien. Oberstes Leitprinzip ist es, „stets die mutmaßlich letzte Fassung“ (S. 223) ohne jegliche unnötige oder zweifelhafte Eingriffe abzudrucken, vor allem die bei Sachs so bedeutungsreiche Interpunktion unverändert zu bewahren. Korrekturen betreffen „nur ganz offensichtliche“ (S. 224) Sprach-, Druck-, Tipp- und Schreibfehler. (Diese wichtigen Editionsprinzipien werden etwas versteckt innerhalb des Nachworts dargelegt statt in einem besser auffindbaren gesonderten Abschnitt.) Hohe Qualitätsansprüche erfüllt der umfangreiche, doch nirgends überlastete Kommentar, zunächst das als werkbiographischer Abriß angelegte Nachwort. Es informiert prägnant, vereinzelt allerdings redundant, und bietet mannigfaltige Deutungshinweise, verbunden mit Ausführungen über Entwicklungslinien, Zentralmetaphern und Hauptmotive besonders der Lyrik. (Eingeschlichen hat sich eine widersprüchliche Doppelangabe, 1965 und 1958, zur Entschädigung der Dichterin durch die Bundesrepublik; siehe S. 209 und 212.) Sodann gibt es gehaltvolle Einführungen zu den Gedichtzyklen und jeweils Einzelnachweise zu Entstehung, Überlieferung, Varianten und Erstdrucken, schließlich Stellenkommentare, die alle nötigen Sacherläuterungen bieten, von denen besonders die verständnisfördernden Erklärungen offener wie auch indirekter Bezüge auf jüdische Literatur, Geschichte, Kultur, Tradition usw. würdigend hervorzuheben sind. Den Beschluß des Kommentaranhangs bilden eine detaillierte Zeittafel und jeweils ein bandbezogenes Verzeichnis der Gedichttitel und -anfänge.
Textkonstituierung und kommentatorische Erschließung heben die sehr gediegen ausgestattete Edition in den Rang einer kritischen Lese- und Studienausgabe. Sie wird, das läßt sich bereits nach Erscheinen ihrer ersten Hälfte prognostizieren, auf absehbare Zeit eine verbindliche Primärquelle bleiben. Und dies um so mehr, wenn sich das angekündigte ergänzende Vorhaben möglichst bald realisieren läßt: „Eine kommentierte Auswahl der etwa 4.000 erhaltenen Briefe wird angestrebt“ (S. 224) Sie wäre die nötige Ablösung für eine schon etwas betagte Interimspublikation.
Nikolas Immer: Sternerhellung
literaturkritik.de, Mai 2010
Frauke Meyer-Gosau: „Ich bin ja niemals eine Dichterin gewesen“
dw.com, 15.3.2010
Carola Wiemers: Mehr als eine deutschsprachige Dichterin jüdischer Herkunft
Deutschlandfunk, 12.5.2010
„Ich bin meinem Heimatrecht auf der Spur“
Cicero
O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft –
Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?
O die Schornsteine!
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –
Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?
O die Wohnungen des Todes,
Einladend hergerichtet
Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war –
O ihr Finger,
Die Eingangsschwelle legend
Wie ein Messer zwischen Leben und Tod –
O ihr Schornsteine,
O ihr Finger,
Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!
Das Eingangsgedicht aus In den Wohnungen des Todes (1947), dem Lyrikband, der Nelly Sachs bekannt machte, enthält – sprachlich wie inhaltlich – alle Ingredienzien ihres literarischen Ruhmes. Ihr Generalthema, die Erfahrung des Holocaust, gehört ebenso dazu wie die pathetisch-hymnische Sprache, der Hang zu einer Bildersprache, die das Erlebte ins Kosmische erweitert, und der im Ausruf „O“ gipfelnde Klageton.
Im oben zitierten Gedicht erscheint dieser O-Ton in vier Strophen gleich sechs Mal. Er signalisiert, was den literarischen Erfolg der Dichterin in der Bundesrepublik der Sechzigerjahre begründete: Emphase, Empathie und Betroffenheit. Das war die Grundhaltung, aus der heraus man damals begann, sich mit der verdrängten nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Schwierigkeiten im öffentlichen Umgang mit den kollektiven Schuldgefühlen erwiesen sich als erheblich. Emotionale Betroffenheit schuf dafür eine notwendig diffuse und scheinbar breit akzeptierte Verständigungsgrundlage. Dazu passte sowohl die Lyrik der Nelly Sachs als auch ihre ganz auf das kollektive Schicksal der Vertreibung und Verfemung konzentrierte öffentliche Biografie. So stieg Sachs auf zur mit dem Nobelpreis geehrten Dichterin – vielleicht mehr in ihrer Opferrolle als aufgrund ihrer literarischen Leistung.
Verschwinden im Dunkeln
Nelly Sachs’ Leben verlief, sieht man vom tiefen Einschnitt der Vertreibung und Emigration einmal ab, weitgehend ereignislos. Ihr Wunsch, „im Dunkeln zu verschwindene“, erfüllte sich auf makabre Weise: mit dem Verschwinden in der Einsamkeit des Stockholmer Exils und, in einem zweiten Stadium, durch die Selbstauslöschung in der Paranoia.
Nelly Sachs war das einzige Kind einer begüterten, liberalen Berliner Fabrikantenfamilie jüdischer Herkunft. Sie wuchs, fern von Politik, Religion, gesellschaftlichem und literarischem Leben, behütet, aber auch isoliert, in großbürgerlichem Milieu auf – ähnlich wie Gertrud Kolmar. Ihrer fragilen Gesundheit wegen erhielt Nelly Privatunterricht; literarische Bildung wurde durch die bürgerlich-konservativ orientierte Privatbibliothek des Vaters vermittelt. Erst durch die Judenverfolgung im Dritten Reich wurde Nelly Sachs aus dieser abgeschirmten Idylle vertrieben und dazu motiviert, sich mit dem jüdischen Glauben ihrer Vorfahren zu beschäftigen.
Als 17-Jährige soll sich Nelly bei einem Familienurlaub in einen älteren, verheirateten Mann verliebt haben – eine Situation, die sie selbst zum Auslöser für ihre lyrische Produktion erklärte, aber auch zum Ausgangspunkt ihrer lebenslangen psychosomatischen Leiden machte. Es blieb, soweit bekannt, das einzige Liebeserlebnis ihrer realitätsfernen Existenz. Sachs verklärte es zur großen Liebe ihres Lebens, vor allem, als sie noch vor ihrer Flucht aus Nazideutschland erfuhr, dass ihr Geliebter, der im Widerstand aktiv war, im KZ ermordet worden war. In einem Zyklus der Gedichtsammlung In den Wohnungen des Todes wird er dann postum zum „toten Bräutigam“ stilisiert, der er de facto nie war.
1921 erschien Sachs’ erste Publikation Legenden und Erzählungen, gewidmet der verehrten Selma Lagerlöf, ihrem großen Vorbild. Seit 1919 suchte sie den Briefkontakt zu der Literaturnobelpreisträgerin, schickte ihr Bücher und Gedichte. Persönlich begegneten sich die beiden Schriftstellerinnen nie. Sachs’ frühe literarische Arbeiten sind durchweg epigonal. Sie verharren in der Tradition der Neuromantik und wurden wohl aufgrund ihrer Bedeutungslosigkeit zunächst nicht in die Schwarzen Listen aufgenommen. Das Publikationsverbot von 1938 galt der Jüdin Nelly Sachs, nicht der Schriftstellerin. Zwei Jahre verbrachte sie danach im Berliner Getto und in verschiedenen Verstecken, bis sie am 16. Mai 1940 endlich nach Schweden ausreisen konnte. Sie und ihre Mutter emigrierten als letzte Mitglieder der Familie. Die anderen hatten schon 1933 begonnen, Deutschland zu verlassen.
Gerettet und heimatlos
Dass Sachs die Emigration nach Schweden zu einem Zeitpunkt gelang, als in der Regel nur noch Flüchtlinge mit Transitvisa das Land als Zwischenstation nutzen durften, daran wirkte Selma Lagerlöf wesentlich mit. Im Juli 1939 war Gudrun Harlan, Sachs’ Freundin und Helferin, nach Schweden gefahren, um dort um Aufnahme für ihren Schützling und dessen Mutter zu bitten, und es gelang ihr, die sehr alte, schon todkranke Selma Lagerlöf als Unterstützerin zu gewinnen. Die notwendige finanzielle Garantie gaben – nach langem Zögern – die Jüdische Gemeinde Stockholm, der Rektor der Brunsviks Högskolan und Lagerlöfs Verleger.
Die Ausreise gelang im allerletzten Moment, als Sachs den Deportationsbefehl in die jüdischen Arbeitslager bereits erhalten hatte. Mit dem letzten Passagierflugzeug aus Berlin-Tempelhof erreichten die beiden Emigrantinnen Stockholm. Zu diesem Zeitpunkt war Selma Lagerlöf bereits tot. Empfangen wurden die bei den von deren Freund Enar Salin, den sie noch kurz vor ihrem Tod um Unterstützung für die Emigrantin gebeten hatte. Salin bemühte sich sehr um Sachs’ Integration, z.B. indem er ihr schwedischen Sprachunterricht gab. So wurden Lagerlöfs Freunde zu Sachs’ erster Anlaufstelle in der Fremde. Doch letztlich lebte sie in den dreißig Jahren in Stockholm wohl ebenso isoliert wie in den fünfzig vorangegangenen Jahren in Berlin. Zu allem Übel lebte sie hier in extrem beengten, unsicheren und ärmlichen Verhältnissen, im ständigen Provisorium einer Einzimmerwohnung im Haus der jüdischen Warburgstiftung, zunächst gemeinsam mit der Mutter bis zu deren Tod 1950. Erst 1952 erhielt Sachs die schwedische Staatsbürgerschaft, nachdem vorherige Anträge wegen ,ungesicherter sozialer Verhältnisse‘ mehrfach abgelehnt worden waren.
Sachs erlebte die Emigration als endgültige Ausgrenzung aus dem geschützten Raum ihrer Kindheit, in dem sie fast ein halbes Jahrhundert verharrt hatte. Ihr Leben verlief im Zustand eines permanenten Transit und ständiger Hospitalisierung: zunächst in der privilegierten Isolation der elterlichen Villa, dann in den Berliner Verstecken, in der Enge der Stockholmer Einzimmerwohnung, vor allem aber bei den Aufenthalten in der Nervenklinik Beckomberga, wo sie die Jahre 1960 bis 1963 verbrachte, geplagt von Einsamkeit und Verfolgungsängsten, die sich zu Wahnsinnsanfällen verdichteten. Vor einer Lebensrealität, die sie offenbar nicht zu bewältigen vermochte, zog sich Sachs in die Paranoia zurück – zeitgleich mit dem nun einsetzenden beruflichen Erfolg. Literarisch ist dieser Rückzug an der dunklen, rein metaphorischen Sprache der späten Lyrik ablesbar, die sich vom konkreten Thema Exil immer weiter entfernt.
Überlebenshilfe Lyrik
Als Dichterin öffentlich wahrgenommen wurde Nelly Sachs erst mit der Erfahrung der Vertreibung und des Exils. Sie selbst verstand ihr Schreiben, ähnlich wie Rose Ausländer und Hilde Domin, von Anfang an als Überlebenshilfe in den existenziellen Ausnahmesituationen, aus denen ihr nach außen hin so ereignisloses Leben bestand. Erst die ab 1943/44 im Stockholmer Exil entstehende Lyrik findet – im Generalthema des Leids, des Schmerzes und der Angst vor Verfolgung – nach und nach zu einem eigenen Ton.
Sachs’ Lyrikband In den Wohnungen des Todes erschien 1947 im Ostberliner Aufbau Verlag, befürwortet von Johannes R. Becher. Der Westen zog – hier wie in vielen anderen Fällen von Exilliteratur – nur langsam nach. Ihren nächsten Gedichtband Sternverdunkelung publizierte 1949 der Exilverlag Bermann Fischer in Amsterdam; zwei weitere erschienen, unterstützt von der literarischen Avantgarde der Fünfzigerjahre, wie Alfred Andersch, Paul Celan und Hans Magnus Enzensberger, in verschiedenen westdeutschen Verlagen. Erst 1961 fand Nelly Sachs bei Suhrkamp eine verlegerische Heimat.
Die Verleihung des Nobelpreises im Dezember 1966 ist der Höhepunkt ihres literarischen Erfolges. Damit stand sie nun auf gleicher Stufe mit ihrem Vorbild Selma Lagerlöf. Doch der Erfolg der Lyrikerin erschien an den spezifisch deutschen Umgang mit dem Erinnern und Verdrängen des Holocaust eng gebunden. Die Sachs-Rezeption war und ist geprägt von politischer Betroffenheit, kollektiven Schuldgefühlen und den Versuchen ihrer Verarbeitung. Dieser emotional dominierte Ausgangspunkt erschwert den nüchternen Umgang mit den Texten. Der in dieser Lyrik weitverbreitete O-Ton artikuliert wohl weniger emotionale Präsenz als eine in keiner historischen Situation verankerte Entfremdung von der Welt. „Sachs sollte“ – so das Fazit ihres kritischen Interpreten Albrecht Holzschuh in Anlehnung an Lessings berühmte Klopstock-Kritik – „weniger erhoben und fleißiger gelesen werden“.
Edda Ziegler, aus Edda Ziegler: Verboten – verfemt – vertrieben. Schriftstellerinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Deutscher Taschenbuch Verlag, 2010
REQUIEM
Für Nelly Sachs
Von Worten,
wie man sie sonst nur Lebenden sagt,
ist erleuchtet der Abend.
Die Erde –
nur unvollkommen von Kieseln bedeckt:
es gibt Steine wie Seelen.
Die Bronzeengel
mit den strengen, strafenden Augen
beginnen zu reden.
Dies war wohl alles:
grundloser Haß und Zerstörung.
Es gibt Seelen wie Steine.
Wir standen allein mit den Spiegeln.
Wir fürchteten uns.
Wir warfen hastig
Stein um Stein hinab
in die nicht mehr leuchtende Stille.
Die Flügelschrift –
erloschen schon
in abgelebten Gesichtern:
Auch die Wahrheit altert, wenn wir sie nicht täglich
mit unserm Schweigen erneuern.
Die Füße zur Tür gestreckt
in einem weißen, reinlichen Hemd:
hier werden wir bleiben.
Uwe Grüning
Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966
Peter Hamm: Besuch bei Nelly Sachs, einer „Schwester Kafkas“
Arne Grafe: „Der Tod war mein Lehrmeister“ Begegnung mit Nelly Sachs – Ein Gespräch mit Gisela Dischner
„Ich habe mich den Gedichten geöffnet, ihren Stimmen und auch ihrem Schweigen“ – Gespräch mit Christine Rospert
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Nelly Sachs
Eberhard Haufe: Weltdichtung aus jüdischem Geist
Thüringer Tageblatt, 10.12.1966
Hubert Gaisbauer: Der Himmel übt an dir Zerbrechen
Die Furche, 11.5.2000
Christiana Puschak: Dichterin der leisen Töne
junge Welt, 9.12.2016
Eva Pfister: Lyrikerin und Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung
Deutschlandfunk, 10.12.2016
Wolf Scheller: Dichterin Nelly Sachs: Mit der Mutter auf der Flucht
Der Standart, 11.5.2020
Marie Schmidt: Vor uns in der blauen Luft
Süddeutsche Zeitung, 11.5.2020
Dina Mastai: „Wir sind die Ränder einer Wunde“
Jüdische Allgemeine, 17.5.2020
Monika Buschey: Der Geburtstag der Dichterin Nelly Sachs
SR, 10.12.2021
Nelly Sachs – Ausstellung „Flucht und Veränderung“.
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