– Zu Norbert Hummelts Gedicht „fotografie“ aus Norbert Hummelt: Zeichen im Schnee. –
NORBERT HUMMELT
fotografie
wir kennen nicht ihr mögliches profil
nur diese vorderansicht, leider undatiert
u. ausgelöst von ungeübter hand. doch
gab es blitzlicht, hell wie kandelaber
u. die orale überlieferung. archaisch ist
kein ausdruck: die guckten damals alle
so todernst. wohl schien ihr herz
mit sauerstoff versorgt, sonst könnte sie
sich kaum so aufrecht halten u. säße
nicht so wunderlich drapiert. sonst
deckte das plisseekleid mit dem weiten
wurf nicht so gekonnt den bau der
knochen zu. die muhme spricht nicht, lippen
zugenäht, vielmehr gestrickt. es liegt
das strickzeug tief in ihrem schoß, die
nadeln, wollknäuel. wie es hieß: es mußten
socken her, man wurde nicht gefragt. die
stirn, die wangen: nicht sehr nah verwandt.
doch was ist dann der grund, daß ich das
foto immer ansehn muß. die muhme spricht:
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.
Rainer Maria Rilke
Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005
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