Richard Anders: Verscherzte Trümpfe

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Richard Anders: Verscherzte Trümpfe

Anders/Hussel-Verscherzte Trümpfe

SINN

Von toten Buchstaben auferstanden, machst
du erst Sinn, wenn du nicht wie Erz tönst,
sondern aus voller Kehle ins Blaue springst.
Aber hoffe nicht, daß Engel dich fangen. Ob
du steigst oder stürzt, hängt allein davon ab,
ob deine toten Buchstaben zu Lebzeiten Oben
oder Unten die tiefere, die höhere Bedeutung
beilegten.

 

 

 

Versuch, ein Schreibverfahren nachzuzeichnen

Zuerst schreibe ich ziel- und planlos ohne vorgegebenes Thema. Ich überlasse mich dem Diktat des rimbaudschen „Anderen“: écriture automatique. Doch weder begnüge ich mich mit dem so empfangenen Text, noch suche ich aus ihm lediglich solche Einfälle heraus, die vor der Vernunft bestehen. Letzteres würde ich tun, wenn ich meine Vernunft nicht dazu erzogen hätte, mit der wortgewordenen Unvernunft ebenso verständnisvoll umzugehen wie ein Antipsychiater mit den manifesten Symptomen des Wahnsinns. Wie dieser sich die Geheimsprache seiner Patienten aneignen und sie sich auch praktizieren muß, um mit ihnen kommunizieren zu können (der rationale Diskurs käme dem irrationalen Gestus nicht bei), ist mir aufgegeben, in spielerischem Umgang mit meinem störrisch unsinnigen Text zu dem vorzudringen, was ich mir zu sagen habe. Dieser spielerische Umgang sieht wie Zerstörung aus. Doch sind es keine ästhetischen oder logischen Bedenken, die mich in meiner krausen Niederschrift herumstreichen, Umstellungen und Einfügungen vornehmen lassen, sondern neue Einfälle, die von dem Bilderreichtum semantisch divergierender Sätze und Satzteile ausgelöst werden. So schieben sich immer neue Texte ineinander, bis ich an einen Punkt komme, wo ich mein Verfahren umkehre in Richtung auf Einschränkung, Struktur, Form. Und plötzlich klärt sich in meinem Kopf wie auf einer Guckkastenbühne ein einziges szenisches Bild, das sich jedoch im Text, gebrochen durch Abstraktionen, Reflexionen, gleich wieder verflüchtigen soll, damit es nicht zu fixen Bedeutungen erstarrt. Erst indem das Bild ins paradoxe Bildlose abstürzt, wird es evident, also zum Denkbild

Richard Anders, Nachwort

 

Besprechung

Diese, Richard Anders’ achte Buchveröffentlichung, ließe sich, etwas ausholend, beschreiben als ein zu neunundneunzig Prosa-Fenstern zersplitternder Augenblick, für dessen Dauer der Verfasser ein dialogisches Experiment mit sich selbst durchführt. Ein Schöpfungsakt aus der Potenz aller Möglichkeiten, die der Poesie zur Verfügung stehen, eine Initiation des Lebens also unter den Bedingungen des Worts, erscheint in einer Versuchsreihe, beschäftigt mit den Ursachen, die den Dichter zu jenen, Literatur werdenden, Ablenkungen veranlassen, welche den Wörtern auf dem Weg ihrer Verwirklichung widerfahren können. Hier ist einer am Werk, bei der Arbeit, die in einer trickreichen Animation seiner katathym anmutenden Wirklichkeit besteht.
Die Verwandlungskünste eines Poetischen Subjekts flimmern vor dem trägen Auge der Lesegewohnheit und ermöglichen ihm, zum Zeugen der Vorführung eines Magiers zu werden, der die alte heteronyme Gebärde der noch älteren Moderne aus seiner literarischen Requisite zaubert, um sie auf eine selten noch gewagte Gratwanderung zu schicken, entlang der Grenzen des gemeinhin vorstellbaren, die ihre aus den Realismen ausbrechende Signatur netzartig über dem dogmatischen ,Schatten zwischen Auge und Objekt‘ schreiben.
Das, bzw. ein grundlegendes Konzept des Buchs folgt der Reihe der zweiundzwanzig Trumpfkarten des Tarotspiels. Jedes einzelne Motiv dieser Karten, die in ihrer symbolhellen Schattenhaftigkeit von den Pinselzeichnungen Horst Hussels gesellig nachempfunden wurden, dient als ein thematischer Vorwurf, den Richard Anders mit seiner, an der écriture automatique geschulten Feder, zu einem phantastischen Spiel von Energien entwickelt, welche die alte Bildwelt des Tarot zu neuartigen Denkbildern auffächern, zu sibyllinischen Medaillons, die sich, ganz aus logikverliebten Assoziationsketten geschmiedet, dem Leser öffnen. Ein stets ultimativer Charme, der zu den Merkmalen jeglicher Schicksalsbefragung gehört, umkreist in einer protagonistisch gefärbten Zweiten Person die Koordination der Deutung, dekliniert sozusagen ein Erklärungsmuster eines alten Spieles durch, bis das Geheimnis, welches jede Karte als solche bedeutet, zu der Gewißheit schrumpft, daß es keine Alternative zu den Trümpfen des Schicksals gibt, außer jener, sie selbst zur Hand zu nehmen. Richard Anders entbindet die Karten von ihrer spiegelverkehrten Starrheit, zerschlägt die tradierte Symbolik in Fragmente und baut daraus die Bilder seiner Erfahrung mit und in dem Spiel der Möglichkeiten zur Sinnzerstörung wie -stiftung.
Selbst wenn es Laborbedingungen sind, unter denen diese Prosaminiaturen entstanden sein mögen, so weht in ihnen doch ein belebender Wind, der nebenher den Staub von dem Vorurteil bläst, daß die aufregendste Prosa vom Leben nur selbst geschrieben würde. Und er (wie sein Verursacher) facht ein Feuer von Widersprüchen an, ab und zu trockenes Holz aus dem gelichteten Wald der Sprichwörter und Redensarten nachlegend, dessen von überraschenden Einfällen knisternde Bewegungen ebenso erhellend wie witzig verlaufen. Letzten Endes erweist sich sogar der Bezug auf das Tarot als irreführend, da er Okkultes suggeriert, tatsächlich aber wohl eher eine, vom Autor nachträglich vorgenommene Adaption an seinen Stil war, als er auf gewisse morphologische Parallelen zur überlieferten Rhetorik der Auslegungsgepflogenheiten aufmerksam wurde. Und so finden sich in den Verscherzten Trümpfen die von derlei Symbolismus abgelösten Erkundungen in der Überzahl, die die Situation des mit dem „Schwindel aller selbsternannten Schöpfer“ kämpfenden Autors bis in die Bedingungen des menschlichen Körpers hinein beschreiben. Die Form des Kalauers, der von dem französischen Wort für ,Wortspiel‘ kommt, erfüllt mit diesen Prosagedichten mit manchmal bilderbuchgenau zu nennender Anschaulichkeit eine Art synaptischer Funktion des textuellen Nervensystems. Jedes herkömmliche Idiom, das Eingang erhält, sendet, beim Wort genommen, in frage gestellt oder auch kopfstehend, Impulse aus, auf die die anderen Glieder des Textes exakt ansprechen, Auskunft gebend über Schönheiten und Grausamkeiten im Spielraum der Einsichten eines Autors, der seit drei Jahrzehnten zu den wenigen deutschen Schriftstellern zählt, die der traumkritischen Herausforderung des Surrealismus mit Erfolg begegnen konnten.
Lesebeispiel:

KELLER
Der du sterbend in den Keller deines Kopfes zu den Schatten gestiegen bist, schicke, wenn du nicht zurückkommt, auf keinen Fall jemand hinter dir her, etwa mit flackernder Blendlaterne die stets willige Magd deines Bewußtseins. Denn, wo diese sich unter so viel Schatten umblickt – Baumschatten aus dem Paradies, die noch den Geruch geliebter Gesichter ausströmen, Schatten kleiner Verbrechen, die nicht ihre Hinterzimmer, ihre lockeren Zungen, ihre wie alte Lokomotiven schmierige Wachträume vergessen können –, wirst du mitten im Prozeß der Wiederbelebung unter Krämpfen erstarren, schwarz auf weiß werden und zu wohlgeformten Sätzen ersticken.

SCHMETTERLINGE

Du sammelst Geliebte im Hirn, Fruchtkörbe voll, über die, so ruhelos wie unentschieden, so eifersüchtig wie blind, Teile deines Bewußtseins kriechen, anstatt durch Faulstellen, Hautrisse, Platzwunden in jede einzudringen, sich – nicht länger Wurm – in den geliebten Einbildungen zu verpuppen, endlich, bevor man das Kinn hochbindet, den Knochensäcken als bunte Wolke durch den Mund zu entkommen. Dazu müßten Teile deines Bewußtseins spinnen – einen Kokon aus seidigen Wörtern, bis die Zeichnungen der Flügel für immer Sternbild wird. So bleiben sie, was sie wurmt, an nackten Tatsachen kleben, die dem Klee nicht grün sind

Andreas Koziol

 

Im Dschungel des Unmöglichen

– Über Richard Anders. –

(…)
Versteinerung, Umarmung & Verwandlung
Der Prosaband Verscherzte Trümpfe benutzt die Karten des Tarockspiels als Quellen der dichterischen Inspiration. Dafür gibt es einen prominenten Vorgänger. Italo Calvino hat in seinem Novellenkranz Das Schloß, darin sich Schicksale kreuzen von 1973 die Geschichten der darin zusammentreffenden Figuren durch die variierte Reihenfolge abgelegter Tarockkarten erzählt.
Bei Richard Anders steht dagegen die einzelne Karte im Mittelpunkt, und alles Narrative der Karten tritt gegen das Reflexive zurück, das ihre Betrachtung im Subjekt auslöst. So verfährt Anders auch mit Märchen und Mythen. Unter der Überschrift „Frosch“ heißt es:

Solange du, anstatt Prinz zu bleiben und das Reich zu erben, das nicht von dieser Welt ist, immer wieder durch ein Lippenpaar zum schlüpfrigen Frosch wirst, mußt du trotz königlicher Reue auf die Dauer tief in der Erde der Brunnenschreck bleiben, der Erlösung allein vom Kuß erwartet. „Sei kein Frosch!“ hallt es in der Röhre. Gottes Stimme? Eher die der Lippenträgerin, welche es satt hat, deine Menschwerdung mit ihrer warmen Haut zu beflügeln.

(…)

Es finden sich in den Verscherzten Trümpfen auch literarische Reminiszenzen, die aus verwandtem Geist entspringen. So erinnert „Das blaue Wunder“ mit seinem belebten Spiegelbild im Hotelzimmer an Thomas Manns kleine Erzählung Der Kleiderschrank, wo der SchrankspiegeI eines Hotelzimmers eine verführerische Frau zeigte, und der Text „Das Klopfen“, in dem das Du einem mysteriösen Geräusch vergeblich nachspürt, gemahnt an die verzweifelte Anstrengung des Tiers in Kafkas Erzählung Der Bau, die Quelle des Zischens zu finden.
Beidemale, so ist man als Leser zu vermuten geneigt, ist es ein Laut, der aus dem Inneren herrührt. Man könnte überhaupt das literarische Schaffen von Richard Anders mit einem Titel überschreiben, den ein frühes Werk von Peter Handke trug: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt.

Die Psyche – Ein Scherbenhaufen
Genauso wie die Figuren weiß man als Leser nie so recht, ob man sich nun gerade im Innern des eigenen oder im Inneren eines anderen Körpers oder an den Grenzen des gekrümmten Raums aufhält. Nihil stabat, panta rhei könnten Formeln für diese Leseerfahrung sein.
Die Gesetze von Raum und Zeit, von Ursache und Wirkung sind außer Kraft gesetzt, und der Satz vom Widerspruch ist geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Nichts, so könnte man pointiert sagen, spricht mehr für die Identität von A und B als ihre Verschiedenheit.
Die Einheit des Gegensätzlichen zu behaupten und ins Bild zu setzen, wird das Werk von Anders nicht müde, und Figuren wie Molldur oder Nettasch, dieses Spiegelbild des Schattens, stehen dafür mit ihrem Namen ein.
Auf die Spiegel habe ich schon eingangs hingewiesen, und sie sind uns bei der Durchquerung dieses Ausläufers des malodororischen Meeres immer wieder begegnet. Nicht zum wenigsten tragen sie zur Irritation über den Status des erzählerischen Bewußtseins bei, zumal sie sich nicht darauf beschränken, Bilder zurückzuwerfen, sondern ihrerseits Bilder produzieren.
Zu ihren Aktivitäten gehört es, den Charakter von Augen anzunehmen. Je näher man an den Spiegel herantritt, desto ferner blickt er zurück, mit Augen, deren Fremdheit bis auf den Grund der eigenen Seele reicht.
In Anders’ Texten sind die Fluchtwege vor dem Selbst von einem Sperrfeuer von Blicken verlegt, sie zwingen zu einer permanenten Selbstreflexion, die das Ich in den zahllosen Augenspiegeln zerlegt. Die Psyche wird in Anders’ Texten einer Spektralanalyse unterzogen. Sie erfährt sich selbst als ein Scherbenhaufen, als ein Kaleidoskop, das ihre Begierden und Wünsche, ihre Ängste und Traumatisierungen zu immer neuen Bildern arrangiert. Bei allem Spielerischen, Manieristischen oder Surrealistischen ist das Entscheidende doch die Aktivierung der Phantasietätigkeit und der Einbildungskraft.
Die Texte wirken als Drogen, als Stimulation einer unbegrenzten ästhetischen Erfahrung. Ihre Einnahme ist zwar legal, aber Fälle von Sucht können nicht ausgeschlossen werden.

Jürgen Egyptien, die horen, Heft 211, 3. Quartal 2003

 

Zum 70. Geburtstag des Autor:

Cornelia Jentzsch: Denkbilder nach dem Absturz
Berliner Zeitung, 25.4.1998

Gabriele Killert: Der letzte Surrealist
Neue Zürcher Zeitung, 25.4.1998

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLG
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne Schleyer
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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Richard Anders

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