Richard Pietraß: Kolonnenweg

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Richard Pietraß: Kolonnenweg

Pietraß-Kolonnenweg

KOLONNENWEG

Wo Fuchs und Hase Tunnel gruben
versandet der Kolonnenweg.
Wo Peitschenlampen Schatten schlugen
zweigt ein Pfad zum Angelsteg.

Wo Kübelwagen Leine zogen
dem Kradsoldat die Knarre platzte
streiten Elstern in den Wolken
um die Reste eines Spatzen.

Wo Drähte über Zäunen summten:
übermannshoch Brombeerverhau.
Stachelstarrend nachgewachsen
Distel, Rotdorn, Schlehenblau.

Kremser, Radler, Drachenführer
formieren sich zur Spaßnation.
In die Prozession prescht wedelnd
ein Leinenhundebataillon.

Unter prallen Eichenzweigen
nah dem Fluchtloch einer Ratte
zeigt ein Junge seinen Freunden
lächelnd seine Sommerlatte.

Wo Füsilierbereitschaft funkte
goldrutengelb Septemberlicht.
Kolonnenweg, im Sand versunken.
Verweht, vernarbt und schon Gerücht.

 

 

 

Notizen zu Richard Pietraß

Wie Nikolaus Lenau gehört Richard Pietraß zu den literarischen Weltkindern, die ohne sicheren Anhalt in der terra incognita ihrer Gegenwart wandern müssen auf der Suche nach einem menschlichen Maß. Biographische Berührungspunkte: Beide Dichter sind entschwundenen Heimatgebilden entwachsen; aus Österreich-Ungarn geflohen der eine, sächsisches Umsiedlerkind einer Familie aus Ostpreußen der andere. Loser Schreib-Halt beiden das strenge Maß des Verses. Wie Lenau – nicht mehr Romantiker, den 48ern aber nicht zuzurechnen – hat der 1946 Geborene auf Gruppenkräftigung in der Öffentlichkeit – die „sächsische Dichterschule“, „die Prenzlauer-Berg-connection“ (Endler) – verzichten müssen. Gleichwohl hat sich sehr früh eine ganz und gar singuläre Stimme in die deutschsprachige Lyrik eingebracht, die die Balance hält zwischen generierenden Sprachbewegungen und konzisen Weltbezügen, zwischen Spiel und Strenge. Seinen knappen poetologischen Vorgaben zu seinem Gedichtband Freiheitsmuseum (1982) ist er dabei bis heute treu geblieben:

Literatur, trotz ihrer geringen Kraft, begreife ich als Beitrag zur Selbstbefreiung: des einzelnen und der vielen.

Poesie erweitere den „Raum des Sagbaren, letztlich Lebbaren“ – ein hochgemuter Anspruch, der in den neunziger Jahren noch mehr als zuvor von einer „Randlage“ (ein Gedichttitel aus den frühen Neunzigern) aus erhoben wird, leise und genau. Richard Pietraß hat sich dabei zu einem Meister der Prosagedichtes – mit einer Vielzahl von verdeckten Reimen, Assonanzen und anderen Verdichtungsschönheiten – entwickelt. Dieses konzentrierte Sicheinlassen auf das „Periodensystem der Wörter“ (Welimir Chlebnikow) und seine innovative Weiterung auf den Satz hat sich dabei nicht im Signifikantenraum verselbständigt. Früh schon hat Pietraß die irreversible Zerstörung des Mensch-Natur-Zusammenhangs in den Industriegesellschaften thematisiert, gab er den „Reibflächen“ mit den Widersinnigkeiten der Ideologien Sprachgestalt. Der unprätentiöse Ton eines melancholischen Sarkasmus verbindet ihn mit Lenau, man stelle nur Lenaus „Abschied“ (1832) oder „Am Grabe eines Ministers“ neben Pietraß-Gedichte wie „Vom Mündel“ oder „Die Königin“. Und korrespondiert nicht „Freies Feld“ mit seinen verschattenden Hoffensbildern über den Motivbezug hinaus mit Lenaus „Liebesfeier“?

Peter Geist, 1999

 

Psychologie, Poesie, Piraterie

für Richard Pietraß

Als ich ein Kind war, kannte ich nur einen Psychologen, er hieß Vater und wäre vielleicht lieber ein Pater in einer Kutte geworden. Er überhörte, was ich sagte, und er war sehr schweigsam. Vermutlich erhoffte er sich die gleiche Schweigsamkeit von mir. Bei Tisch spricht man nicht, man sieht durch ein Kind hindurch wie durch Wasser, es ist ein Blatt im Wind, das Kind. Der Psychologe sah mir ins Herz, das Seele genannt wurde und sehr dunkel war. Ich wollte nicht, daß man in mich hineinsieht, camera obscura, Bergwerk des Bösen, ich kannte das Wort Übergriff noch nicht, aber die Augen des Psychologen waren Sucher, überwache Wachhabende. Ich wollte nicht ergriffen werden, ich wollte spazieren gehen an Hecken entlang, am Bachlauf, wollte aus dem Fenster sehen und in Fenster steigen, Weltkind sein und in die Welt hinausgegangen sein. Ein Schlüssel zur Welt hat einen Bart und heißt Poesie, er ist schon Novalis verloren gegangen. Ich bin dann aber mit Richard Pietraß in Ohrid am See spazieren gegangen, und der See war blau, und es gab keine Fische darin, hieß es, Planwirtschaft oder Piraterie, Poesie des Mangels. Später lernte ich andere Psychologen kennen, die nicht das Dunkel suchten, sondern Lichter anzündeten. Und Psychologie und Poesie standen sich nicht mehr unversöhnlich gegenüber.

Ursula Krechel

 

IN SCHILDOW

Auf dem Kolonnenweg
Schleich ich
An den Hacken
Die Stiefelspitzen.

Aus dem See starrt
Bei Niedrigwasser
Die Friedensgrenze

Und das Stelenwäldchen:
Beton, altert selber
Die Unnatur.

Wegwarte Beifuß Melde
Blühen gehorsamst

Immer die Mauer
Neben mir in den Boden gesunken
Ich springe hinüber herüber
Die Zeitalter wehen am Weltrand.

Volker Braun

 

 

Richard Pietraß Lesung und Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt am 27.3.2018 im Haus für Poesie

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016

Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLG 1 & 2 +
DAS&D + Übersetzungen 1 & 2 + Kalliope
Porträtgalerie:  Galerie Foto Gezett + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Das Pietraß _______ Aus einem Bestiarium Literaricum, aufgefunden im Archiv des Museo Rhinum; übersetzt von Peter Böthig

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Pietraß“.

 

Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00