MEIN UNENTBEHRLICHES BUCH
Eine Stadt ist für mich wie ein Buch:
dick,
epochal und langweilig.
Dieses Buch wurde auf einem Qualitätsasphalt
aaaaaabgedruckt;
Ein Boulevard ist ein Teil dieses Buches, –
Übrigens besteht das Buch aus drei Teilen.
Eine Straße ist ein Kapitel dieses Buches, –
das Buch umfasst mehrere Kapitel,
eine Querstraße ist ein Unterkapitel,
dieses Buch enthält unzählige Unterkapitel.
Eine Gasse ist ein Epigraph dieses Buches, –
dieses Buch besteht aus mehreren Epigraphen.
Plätze sind die leeren Stellen in diesem Buch,
Gärten sind die Malerei jedes Kapitels darin,
Himmel und Erde sind die Umschläge dieses Buches.
Das Buch umfasst ungefähr 700.000 Zeilen,
diese Zeilen reimen sich nicht aufeinander,
aber sie sind durch eine strenge Notwendigkeit miteinander verbunden.
Der unsichtbare Autor dieses Buches radiert jeden Tag einige Zeilen,
ganze Kapitel, Unterkapitel
und Epigraphe weg und schreibt sie neu.
Er schreibt sehr kompliziert und nerventötend.
Menschen sind die Zeilen in diesem Buch.
Ich erinnere mich, als Kind schritt ich durch diese Stadt
und las sie mit meinen Augen,
und ich setzte einen Fuß vor den anderen in dieser Stadt
mal langsam und mit Pausen,
wie ich einst mit dem Finger langsam und mit Pausen
unter die Zeilen der Fibel1 strich.
Gott hat mich dazu verdammt, dieses Buch jeden Tag zu lesen;
Nun kenne ich dieses Buch in- und auswendig
und trotzdem lese ich es jedes Mal von Neuem,
ich streife nachlässig mit den Augen über die Stadt;
Um es zu lesen brauche ich heute
keine Füße mehr, wie einst die Finger bei der Zeilenführung,
Ich könnte zu Hause sitzen und das ganze Buch
dennoch auswendig rezitieren;
Manchmal verhalte ich mich auch in meinen Gedanke so.
Wissen Sie, was in diesem Buch steht?
Das Buch beginnt damit,
dass einmal ein langweiliger Morgen war und das Leben fing an,
das Buch endet damit,
dass der langgweilige Tag vorbei war
und eine langweilige Nacht sich eingestellt hatte.
Zum Schluss gibt uns der Autor einen väterlichen Rat,
wir sollen in unsere Häuser zurückkehren und uns schlafen
legen,
damit wir wieder Kräfte sammeln können,
weil wir morgen wieder mit dem Lesen des Buches anfangen
müssen.
Wer dieses quälende Buch wohl verfasst hat?
Wer der geheime Autor dieses Buches ist?
Es ist egal, wer das auch ist,
ich weiß, dass er immer und immer wieder gequält wird,
er steckt in jeder Zeile dieses Buches,
sein Herz pocht qualvoll,
sein Herzschlag ist der Atem jener Zeilen,
dieser Atem ist das Leben dieser Stadt.
Gott hat mich dazu verdammt, dieses Buch tagtäglich zu lesen.
Das ist mein unentbehrliches Buch.
Schota Tschantladse wurde am 13. Juni 1928 in Zemo Aketi, Region Lantschchuti, in Westgeorgien geboren. Er war sechs Jahre alt, als seine Familie nach Tbilissi übersiedelte, in die damalige Hauptstadt der georgischen Sowjetrepublik, die zu dieser Zeit noch zur UdSSR gehörte. 1947 schloss Schota Tschantladse die Schulausbildung ab. 1952 absolvierte er das Philologie-Studium an der Staatlichen Universität in Tbilissi, die damals den Namen von Stalin trug. Er war mit vielen intelligenten und interessanten zeitgenössischen jungen Menschen befreundet, die später berühmte Figuren der georgischen Schöpfer- und Wissenschaftlerkreise wurden, wie zum Beispiel: der Regisseur Reso Esadse, die Dichterin Isa Ordschonikidse, der Dichter und Übersetzer Besik Adeischwili, der Philologe Surab Kiknadse und die Theaterwissenschaftlerin Dali Mumladse. Einige seiner Freunde fuhren nach Moskau, ins Zentrum der Sowjetunion, um dort weiter zu studieren. Und als sie zurückkehrten, fanden sie Schota Tschantladse so vor, wie vor der Abreise: immer noch wohnhaft in einer kleinen Wohnung in Uni-Nähe und als Anführer des Freundschaftskreises mit dem Titel Universitätsrektor im Universitätsgarten, erinnerte sich Isa Ordschonikidse. Seine Gedichte wurden sporadisch gedruckt, er übersetzte aus dem Russischen, arbeitete hier und da, manchmal als Dorfschullehrer, manchmal in einer Bibliothek. Die Karriereleiter zu erklimmen, sei aber nie sein Ziel gewesen, unterstrich Isa Ordschonikidse. Die Etablierung des wohlstandbringenden, erfolgsversprechenden sowjetischen Weges in der Gesellschaft lehnte er nicht nur ab, sondern er floh regelrecht davor. Den Beschwerden der Mutter, er möge endlich dienen und später eine Familie gründen, hörte er vergebend zu, erfahren wir aus einer seiner Erzählungen. Es war offensichtlich, dass er sich seiner Rolle sehr bewusst war. Auch die Position eines zu seinen Lebzeiten nicht geschätzten, aber mit der Zeit doch anerkannten Künstlers wählte er bewusst: Er wünschte sich bloß in einer Fußnote einer beliebigen Satireerzählung erwähnt zu werden, merkte aber zugleich an, man würde ihn dort wahrscheinlich nicht lassen und ihn eher in längere Biographien übersiedeln lassen. Am 29. November 1968 starb er im Alter von nur vierzig Jahren nach einer Blinddarmoperation an Thrombose, ohne Anerkennung oder gar Wohlstand erreicht zu haben. In der Melikischwili-Straße, in der er einst mit seiner Familie lebte, erinnert heute eine Gedenktafel an ihn. Seine Hinterlassenschaft wird im Georgischen Giorgi-Leonidse-Literaturmuseum aufbewahrt. Unter der Leitung von Isa Ordschonikidse, die damals als Museumsdirektorin tätig war, hatte das Museum eine ausführliche Archivedition seiner Werke: ,Für einen gebildeten Leser und Für die neue Fassung der georgischen Geschichte im Jahre 1998 veröffentlicht.
Schota Tschantladses gehörte weder zu seinen Lebzeiten und noch heute zum Kanon des georgischen Dichtertums des zwanzigsten Jahrhunderts. Er war kein Teil des damaligen literarischen Mainstreams. Seine Popularität hing mehr mit seiner Persönlichkeit als mit seinem dichterischen Wirken zusammen: in einer alternativen, nicht akademischen und inoffiziellen Umgebung, im Universitätsgarten, in dem er von seiner Generation zu einem unersetzbaren „Rektor“ erwählt worden war. Heute aber werden seine Werke sehr geschätzt, vor allem von denen, die sich für die alternativen Strömungen der georgischen Literatur in der Sowjetära interessieren.
Die Poesie Schota Tschantladses könnten wir heute sowohl für eine Rechtfertigung der Kulturlogik georgischer Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts als auch für ihre Widerlegung halten: sie rechtfertigt die Entwicklungslogik literarischer Prozesse in der modernen Epoche, durch die sich in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in Georgien ein modernistisches Paradigma etablierte und sich individualistische, experimentelle und vom Kanon abweichende Strömungen der Poesie entwickelten. Sie lehnt die sowjetische Kulturlogik ab, durch deren Kraft im sowjetischen und besonders georgischen Realismus am Ende der 1920er Jahre ein sowjetisches, stalinistisches, sozialistisch-realistisches Kulturparadigma sich aggressiv durchgesetzt hatte. Wenn wir zugeben, dass die modernistische Ästhetik des zwanzigsten Jahrhunderts ein Teil der natürlichen Entwicklung der Kultur und der Geschichte gewesen sei, und die sowjetische Ästhetik ein Teil des Machteinflusses auf die Kultur und die Geschichte gewesen sei, dann zeigen die Gedichte Schota Tschantladses in den poststalinistischen 1950–1960er Jahren im lokalen Realismus georgischer Poesie einen Sieg über den Machteinfluss der natürlichen Entwicklung dieser Strömung auf.
Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts machte die georgische Poesie eine zielgerichtete Selbstidentifikation und Anpassung an die modernistisch-avantgardistische Poesie Europas. Die symbolistische Gruppierung Blaue Trinkhörner brachte 1916 Themen wie Individualismus, Urbanismus und Krise mit nach Georgien. Sie „schwor“ auf Namen wie Charles Baudelaire, Paul Verlaine, Arthur Rimbaud und Emile Verhaeren. Auch sie war es, die in den demokratischen Republikjahren des freien Georgiens (1918–1921) eine Atmosphäre des Dialogs und der aktiven Mitarbeit mit den avantgardistischen Künstlern, die der russischen Revolution und dem Bürgerkrieg entflohen waren, schuf. Sie gestalteten gemeinsam den einzigartigen kulturellen Moment des multinationalen Avantgardismus in Tbilissi. Als 1921 Georgien von Russland erneut annektiert und sowjetisiert wurde, war auch das Projekt der Europäisierung, Demokratisierung und Modernisierung Georgiens für eine sehr lange Zeit unterbrochen worden. Obwohl in der georgischen Literatur dennoch einige Jahre die modernistisch-avantgardistische Stimme zu hören war und auch eine futuristische Gruppierung H2SO4 gegründet wurde. Aber schon zum Ende 1920er Jahre wurde mit der Etablierung der stalinistischen Kulturpolitik die modernistische Ästhetik gänzlich verboten, jeglicher kultureller Kontakt zur zeitgenössischen europäischen Kultur brach ab und die Texte aus der modernistischen Periode wurden aus dem Verkehr gezogen. Georgische Schriftsteller durften zwar weiterhin in ihrer Muttersprache schreiben, aber der Inhalt ihrer Texte und ihr Geist mussten ab dann sowjetisch sein. Von den Modernisten wurde eine öffentliche Abkehr vom eigenen Stil und die Anerkennung sozialistischer Prinzipien verlangt. Einige von ihnen konnten der physischen Ausrottung im Jahre 1937 dennoch nicht entkommen. Im georgischen Realismus wurde jede Spur der modernistischen Existenz aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht und jene Generation, die jahrzehntelang stalinistisch erzogen wurde, kannte entweder nur die sozialistische Kunst, oder den nationalen Realismus als Alternative zu ihr, der von georgischen Modernisten als Antwort auf die sowjetischen ideologischen und kulturellen Anforderungen entwickelt wurde.
Als der 19–20jährige Schota Tschantladse am Ende der 1940er Jahre seine Gedichte schrieb, war seine Stimme von der Stimme der nächsten Generation, die nach stalinistischer Kultur- und Bildungspolitik groß geworden war, auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden. Auch er widmete fast schon naiv einige Gedichte dem großen Anführer Stalin, so wie es damals alle Jugendlieben und auch georgische Autoren ernsthafter, modernistischer Vergangenheit getan haben. Einige von ihnen schrieben nur aus Überlebensinstinkt andere aber schrieben reinen Herzens Gedichte, Poeme oder Romane über Stalin, überwiegend über den jungen Stalin, der in Georgien aufgewachsen war und auf den die Führung eines riesigen Landes wartete. Aber im Unterschied zu seiner zeitgenössischen Generation, die bereit war, sich für Stalin zu opfern, auch in den drei darauffolgenden Jahren nach dessen Tod, orientierte sich Schota Tschantladse am 9. März 1956, mit dem Beginn der Entstalinisierung, um, und folgte nun dem freien System der persönlichen und schöpferischen Werte. Das am 9. März in Tbilissi durch sowjetische Hand vergossene Blut schätzt er als das Opfer im Namen der persönlichen und nationalen Freiheit ein. Die Texte, die das bolschewistische und totalitäre Regime entlarven sollten, schrieb er schon zu Stalins Lebzeiten. Zu dieser Zeit waren solche Texte dem georgischen Realismus nicht mehr bekannt. Ähnliche Texte wurden in den 1920–1930er Jahren geschrieben, und hörten 1937 auf: sie stammten von… Tizian Tabidse, Galaktion Tabidse, Micheil Dschawachischwili und Leo Kiatscheli. In ihren Texten konnte man hinter der angepassten Fassade der sowjetischen, sozialistisch-realistischen Anforderungen Versuche der Aufdeckung der Gewaltausübung und des Blutvergießens in jener „heimtückischen Ära“ lesen. Ähnliche Texte wurden in Georgien auch nach dem Ende der stalinistischen Erzählkunst geschrieben: In den 1960er, mehr noch in den 1970er Jahren Jahren entstand die Kritik am russischen Kolonialismus, zum Beispiel in Werken von Otar Tschiladse.
Die Stimme Schota Tschantladses war schon beim Verfassen seines Poems „Die Straßenbahn (Requiem)“ (1958) ganz allein zu hören. Sie stand für die Treue. Urbanismus, Dramatik und Verhaerensche Empfindungen der Weltentfremdung waren in der georgischen Poesie schon 1910 zu vernehmen, besonders bei Paolo Iaschwili und Grigol Robakidse. Obwohl in der georgischen Literatur eine derart angespannte Beziehung des Dichters zur disharmonischen Welt weder in der stalinistischen Epoche noch im post-stalinistischen Tauwetter anzutreffen war. Parallel trug das Gedicht, das durch modernistische und avantgardistische Erfahrungen geprägt, dramatisch und zu einem urbanen Thema verfasst worden war, einen tiefgründigen antisowjetischen Inhalt. Heute können wir die Metapher der Straßenbahn einerseits mit dem Gesicht des damaligen Regimes gleichsetzen, das Menschen „verschlingt“, ihnen die Identität raubt, später aber wird es ihm übel und es „speit alle wieder aus“, das einen Bürger überrollt, ,,blindlings“ nach vorne strebt und auf den Schienen Blutspuren hinterlässt. Andererseits können wir in der Straßenbahn das Gesicht jenes Individuums sehen, das „die Lust aufs Herumstreunen“, Lust auf Freiheit, packt, aber von der Polizei streng überwacht wird. Es steht auf den Schienen und hat kein Recht, diese zu verlassen. In der sowjetischen Metaphernsprache waren „Schienen“ und „Gleise“ fest verankert: Die Metapher „auf den sowjetischen Gleisen stehen“, die von der sowjetischen Literaturkritik des Öfteren benutzt wurde, bedeutete in der Ideologiesprache natürlich das Aufgeben der modernistisch-avantgardistischen ästhetischen Position von Seiten des Dichters und die Wahl der sowjetischen Ideenästhetik – in Wirklichkeit jedoch eine erzwungene Wahl. Diese Metapher hat bei Schota Tschantladse einen antisowjetischen Beigeschmack und es ist klar, dass sie gerade dann entstanden war, als er auf seinem persönlichen und schöpferischen Entwicklungsweg zum Zustand der inneren Freiheit und zum Interesse an der avantgardistischen Kunst während der Herrschaft des offiziellen sowjetischen Diskurses geführt wurde. Wie es aussieht, war das sein individueller Weg. Weder aus seinen persönlichen Briefen noch aus den Erinnerungen seiner Zeitgenossen wird bestätigt, dass Schota Tschantladse einen persönlichen Kontakt zu irgendeinem Vertreter der georgischen Avantgarde gepflegt hätte: Autoren, die jene Zeit überlebt hatten, waren schon damals im literarischen Kreis nur als nationale Figuren zu sehen und zeigten nicht mehr offen ihre Beziehung zum Modernismus, nun schrieben sie realistisch-patriotische Texte; in der offiziellen Welt wurden Galaktion Tabidse, Giorgi Leonidse oder Simon Tschikowani georgische Sowjetdichter genannt und mit der Jugend wurde nicht offen über ihre eigenen Lebens- und Schaffenswege diskutiert; ihr damaliger Status bedeutete für sie das Glühen des georgischen Nationalgefühls, obwohl, wie die Zukunft der damaligen jüngeren Generation zeigte, diese Nationalität hervorragend in den sowjetischen Kontext passte. In den Erinnerungen der Zeitgenossen war jedoch zu bemerken, dass Schota Tschantladse sich zwar mit der Poesie Galaktion Tabidses nährte, pflegte aber eine selektive Beziehung zu seinen Gedichten. Wie es aussieht, erkannte er seine „sowjetischen“ Gedichte nicht an. Parallel interessierte er sich, wie es aus seinen Gedichten hervorgeht, für die 1937 verfolgten georgischen Dichter: Tizian Tabidse und Paolo Iaschwili, dessen politische Rehabilitation und die Rückkehr in die Literatur erst 1956 stattgefunden hatte. In seinem Gedicht „Manifest“ ist zu lesen, dass er sich für die Erfahrungen des Avantgardismus in Georgien interessierte, und er fing an, diese Erfahrungen zu verstehen, sie sich eigen zu machen. Aus seiner Poesie geht jedoch nicht hervor, ob er irgendwelche ästhetischen Impulse aus den Werken der europäischen Dichter übernahm: in den sowjetischen 1940–1950er Jahren war der Kontakt zur europäischen Welt gänzlich unterbrochen, jene Texte modernistischer Dichter, die vor zwei Jahrzehnten den georgischen Dichtern als Nahrung dienten, waren tabuisiert worden. Die direkten Erfahrungen georgischer Dichter nutzte Schota Tschantladse dennoch und sie brachten ihn zur synchronen Wahrheit der Poesie, zu jener dichterischen Position, die in seinem zeitgenössischen freien Westen anerkannt war, aber nicht in seiner zeitgenössischen georgisch-sowjetischen Welt.
Neben dem thematischen Aspekt ist dieses deutlicher in seinem versifizierten Aspekt zu sehen. Er gebrauchte „vers libre“ das machte ihn schon damals zu einem Außenseiter. In der georgischen Literatur wurden die ersten freien Gedichte ausgerechnet von der modernistischen Generation der 1910–1920er Jahre verfasst. Während der stalinistischen Epoche wagte keiner mehr, sich der rhythmischen und thematischen Strukturen des freien Gedichts zu bedienen. Als in den 1970er Jahren das freie Gedicht in die georgische Poesie zurückkehrte, folgte sofort eine Polemik von Seiten der Verteidiger traditioneller, metrischer Poesie. In diesen Debatten wurde der Name Schota Tschantladses aber nie erwähnt.
Schota Tschantladse war der erste Dichter, der zu seiner Zeit Gedichte in der Ich-Form schrieb. Er sagte nicht nur im Freundeskreis, halb scherzhaft und halb im Ernst, dass er seinen eigenen Wert genauestens kenne, sondern auch seine Texte gaben das lautstark bekannt. Seitdem die sowjetische Ideologie den Individualismus öffentlich an den Pranger stellte, war in der georgischen Poesie das „Ich“ noch nie so laut zu hören. Bei der ersten Versammlung der sowjetischen Schriftsteller im August-September 1934 wurde offiziell mitgeteilt, dass alle Modernisten ihre letzte Gelegenheit bekamen, die individuelle Poesie zu verneinen und die einzig richtige, einzig mögliche Parteiposition zu wählen. Die Position Schota Tschantladses, wie es aus seinem Gedicht „Ich“ (1949) hervorgeht, war eine Revolte und er bat um Vergebung – aber nicht vor der sowjetischen Ideologie, sondern vor dem christlichen Glauben, und damit unterstrich er nochmals seine ihm bewusst gewordene, antisowjetische Revolte.
Die religiöse Suche, die Rückkehr der christlichen Idee in Schota Tschantladses Poesie ist in der gleichen Periode zu erkennen, wie seine Entdeckung des Modernismus. In Georgien so wie im russischen Realismus wurden im Rahmen der sowjetischen Ideologie und stalinistischer Kulturpolitik genau diese zwei Systeme verboten: das christlich-religiöse System und das moderne Kultursystem. Am Anfang der 1950er Jahre gab Schota Tschantladse in seinen Gedichten die Handlungsfähigkeit beider Systeme zu. Die Sprache der christlichen Religion und des Glaubenstreffen wir aus dieser Zeit bei der jüngeren Generation nur in der Poesie Anna Kalandadses an. Wenn auch ihre Poesie nach ästhetischen Prinzipen zu urteilen gar nicht in den modernistisch-avantgardistischen Raum gehört. Die Struktur von Anna Kalandadses traditioneller metrisch-weltanschaulicher Poesie war besser verständlich für das damalige Georgien und sie fand schnell Anerkennung bei der jüngeren Generation, obgleich ihre Gedichte keine christliche Interpretation erfahren haben. Schota Tschantladses Poesie hingegen blieb gerade wegen der avantgardistischen Struktur unverstanden und ohne Anerkennung.
Schota Tschantladses prosaischer Text „Prochor“ (lyrisch-dramatisches Poem) (1958) unterschied sich damals schon genauso von den anderen Schriftstellern wie seine Gedichte. Diese Erzählung, faktisch die erste seit Jahrzehnten nach dem stalinistischen Totalitarismus, brachte ein neues Thema in die georgische Literatur, eine versteckte Kritik an Bolschewismus, ein Bloßstellen des kollektiven Denkens und des Massenbewusstseins. Und sehr wichtig, eine Aufdeckung des russischen Kolonialismus. Der Patriotismus, die Idee der Wertschätzung georgischer Umwelt und Traditionen figurierte apophantisch in der Erzählung, so dass der Autor diese Themen nicht mal anrührte: der Hauptheld der Erzählung Prochor lebte in Tbilissi, aber er war ein Fremder in der georgischen Umgebung und für ihn war auch all das fremd, was für diese Umgebung und auch selbst für den Autor wertvoll war. Da Prochors Vorstellungen, seine Wünsche und sein Leben derart fremd und gesichtslos waren, wurde vom Autor deutlich all das gezeigt, dessen Bedeutung Prochor nicht (er)kannte: das Volk und die Heimat, Traditionen, Eheleben und Treue, Freundschaft, Gesellschaft, christlichen Glauben. Entweder besaß Prochor das alles nicht oder er würde es nie besitzen. Er konnte es nicht erschaffen und dementsprechend auch nicht wertschätzen. Das System seines Schatzes war sehr simpel. Porchor kam in Georgien aus seiner weiten Heimat Russland, aus einer Vergangenheit ohne Wurzeln, so an, dass er gar nicht wusste, wo er überhaupt war. Er ließ sich dort nieder und wurde zu einem Fabrikarbeiter. Prochor hatte an drei Revolutionen in Russland teilgenommen. Gemeint waren: 1905–1907, im Februar 1917 und die Oktoberrevolution von 1917. Das, was Georgien unter dem Namen Bolschewismus erreichte, zeigte Schota Tschantladse ohne Gesicht und durch eine ungebildete Kraft. Selbstverständlich entsprach ein solches Gesicht eines Revolutionärs und Proletariers absolut nicht den Vorstellungen des Schrifttums des sowjetischen Sozialistischen Realismus, auch nicht den Darstellungen der Revolution und des Proletariats aus der Position der allgemein menschlichen Freiheit und des Fortschrittes, die ein wesentlicher Teil der von Stalin und Gorki formulierten Doktrinen des Sozialistischen Realismus war. Prochor könnte vielleicht einem Helden von Gorki ähneln aber in seinem Leben erschienen weder unechte noch echte Perspektiven; auch nicht in seinem Sozius, auch nicht in der Herrschaft, für deren Einstellung er maßgebend mitgewirkt hatte. Und wenn Georgien, das Land, in das Prochor seine eigene Heimatlosigkeit und Ausweglosigkeit führte, einen Wunsch nach Perspektiven pflegte, so sollte es sich von der Fremdheit, Unwissen, fremder Weltanschauung trennen und sich bewusst machen, was es schon besaß und was noch weiter entwickelt werden sollte.
Das Schaffen und die Persönlichkeit Schote Tschantladses waren schicksalhaft miteinander verbunden. Er nutzte nicht damalige Möglichkeiten, er wurde nicht zu jenem Dichter, der in Georgien, in der Sowjetära, einerseits patriotische Gedichte schrieb und seine georgische Nationalität trotzdem noch wahrte; andererseits schuf er neben dem ausreichend adaptierten sowjetischen Realismus, neben dem Status eines Sowjetdichters einen zeitgenössischen dichterischen Mainstream. Ihm war es vollkommen bewusst, dass so ein Dichter wie er, der auf der Suche nach Individualismus war, niemals den Weg eines Sowjetdichters kreuzen würde. Es war nie sein Ziel, sich in diesem offiziellen Raum zu etablieren. Und gerade deshalb übte er keinen Einfluss auf die zeitgenössische georgische Kultur aus. Wenn ein Dichter Leben und Tod, Körper und Seele so begreift, wie es in seinem Gedicht „Agonie des Körpers – die Todesursache (eine medizinische Symphonie)“ (1953) dargestellt wird, dann kann er nicht nach dem Verfassen jenes Gedichtes am nächsten Tag bei der Parade an der Ehrenkolonne der georgischen Sowjetdichter einfach so vorbeispazieren oder das Volk von ihrer Tribüne aus ansprechen. Seine Werke bleiben als Erfahrungen auf der Suche nach Individualität, die ihm noch mehr an Bedeutung verleihen. In der Sowjetzeit hätte kein Künstler mit jener Wahl seine soziale Rolle spielen können, hätte in dem nationalen Raum seine Prioritäten am Schaffen nicht ändern können. Und deshalb war Schota Tschantladse ein Dichter, der von Individualisten entdeckt werden musste und so einer bleibt er auch bis heute.
Bela Tsipuria, August 2016, Vorwort
Dato Barbakadse liest „Genius Loci“ am 18. August 2013 im Rahmen der Reihe Literatur in Weißensee.
Schreibe einen Kommentar