ICH GLAUBE, ICH GLAUBE AN NICHTS
– Ein Gespräch mit Kurt Drawert. –
Martin Hielscher: Herr Drawert, Ihr Schreiben – Gedichte, Essays, Theaterstücke, zwei Romane, Erzählungen – arbeitet sich von Anfang an an Widerständen ab, Widerständen in der Sprache, in der Realität, im schreibenden Subjekt, in der Form. Ist Schreiben so gesehen Widerstand? Inwieweit hat sich dieses Widerständige in ihrem literarischen Leben verändert, auch durch die Veränderungen in der jüngsten deutschen Geschichte?
Kurt Drawert: Schreiben ist immer auch Widerstand. Auf politischer, kultureller, sozialer Ebene, wenn wir es thematisch, also von der Semantik her betrachten. Auf syntaktischer, psychologischer, subjektiver Ebene, wenn wir Widerstand mit der Form, ihrer Rhetorik, also dem Wie des Was, konfrontieren. Beide Bewegungen, die des Sagens (als Stoff) sowie des Gesagt-Habens (als Struktur), gehen ineinander über, sind korrelativ. Der Text, der sich derart entfaltet, ist ein komplexes Gewebe sich komplettierender und/oder ausschließender, mit- und gegeneinander gerichteter Energiefelder, die in ihrer Ambiguität, ihrer Doppel- und Mehrfachcodierung einen Überschuss erzeugen, den wir dann literarisch – also über die Summe seiner Zeichenvorräte hinausführend – nennen. Dieses Überschüssige, nicht mehr zu disziplinierende oder deskriptiv freizulegende Mehr, das auch das Unbewusste der Sprache in die Rede zurückholt, ist der Widerstand, wie er für Literatur von Belang ist – ein Widerstand des absoluten Nein. Auf der Oberfläche des Inhalts gibt es ihn noch nicht. Was wir hier lesen, sind allenfalls Reflexe einer Gegenrede, die affirmativ bleibt, solange sie die Sprache, gegen die sie sich richtet, nicht verlässt. Die Wurzel aller Gesellschaftskritik kann also immer nur Sprachkritik sein, denn nichts ist politischer als die Sprache. Ihre Frage nun fuhrt aber weiter: Schreiben nicht nur als Widerstand zu verstehen in eben der Komplexität, die ich zu erklären versuchte, sondern als einen Widerstand gegen den Widerstand – wenn es sich, wie Sie sagen, daran „abarbeiten“ soll. Widerstand im Sinne eines Dispositivs haben alle Dinge auf natürliche Weise. Selbst die Sprache widerspricht sich, behält einen Widerstand gegen sich selbst. Man denke nur an die unzähligen Aporien, die in der Sprache entstehen oder aus ihr hervorgehen. „Ich glaube, ich glaube an nichts“ zum Beispiel, das ist so ein Kreis, der eine Aussage unendlich um sich selbst drehen lässt, ohne dass sie falsch werden würde. Also, dass die Sprache etwas Brüchiges ist, labil und unzuverlässig, wer, wenn nicht jene, die sie literarisch verwenden, wüsste es besser. Man kann sich das wie bei einem Material vorstellen, das von einem Handwerker bearbeitet wird. Ein Stein meinetwegen, der abgetragen und geformt werden soll. Sprache nun ist immer dichotom: ein Schallereignis und ein Datenkomplex, Signifikant und Signifikat, Zeichen und Symbol und so weiter. Es werden also immer zwei Funktionen gleichzeitig aufgerufen. Eine, die der Anrede dient, also transitiv ist, und eine zweite, die sich selber anredet, also reflexiv, versus im Sinne von rückführend bleibt. So gesehen stimmt es dann, dass der literarische Text, indem er ganz parol ist, also Sprache im radikal subjektiven Gebrauch, auch den Widerstand im Widerstand spiegelt, gleichviel, ob er selbst, oder richtiger, sein Verfasser, ein Bewusstsein davon hat. Klar nur ist eines, und das beantwortet den letzten Teil Ihrer Frage nach den möglichen Veränderungen einer Poetik des Widerstandes vor und nach der DDR respektive der osteuropäischen Systeme: dass sich die Potenziale, wie sie Sprache in sich selbst generiert, radikal, fast möchte ich sagen, reziprok verändert haben. Wenn wir bei der Vorstellung bleiben, dass jedes Sprachzeichen eine Material- und eine Sinnebene hat, also über einen Signifikanten und ein Signifikat verfügt, dann war der „Ostsignifikant“ – ich darf das hier so verkürzt einmal sagen – immer schon dadurch signifikativ, dass es ihn gab, dass er gesprochen, geschrieben, aufgerufen wurde. Man könnte meinen, es gab, wie bei einer paranoiden Psychose, nur Signifikate, weil alles und mit allem verbunden zu neuen Bedeutungen führte, die Substitute der politischen, kulturellen, sozialen und so weiter Verdrängungen waren. Die Position des Signifikanten im Subjekt des Westens war dem entgegengerichtet, eher blockiert, oder, wie es Lacan sagt, „gebarrt“, soll heißen, es kommt zu keiner Entfaltung des Signifikanten, zu keiner Semiose. Der Signifikant kreist um sich selbst und findet zu keinem Abschluss, zu keinem Sinn. Das „gebarrte Subjekt“ ist durch einen irreduziblen Mangel bestimmt, der im Signifikanten entsteht. Es bekommt keine Antwort auf sein Begehren. Wenn wir das jetzt in Umkehrung, also spiegelbildlich sehen, dann hatte es das Subjekt einer psychotischen Verdrängung, die Lacan hier Verwerfung nennt, im Osten immer mit einer Antwort zu tun, zu der keine Frage und kein Begehren gehörten. Die Arbeit der Zeichen verlief quasi in umgekehrter Richtung, vom Signifikat zum Signifikanten, also von der Behauptung eines Wertes zur Materialität des Repräsentanten. Darum brach auch die Bedeutung der DDR-Literatur so plötzlich zusammen, weil sich die Paradigmen des Lesens mit dem Systemverfall von 1989/90 grundlegend verändert hatten. Ich sehe mich noch in Brasilien kurz nach der Wende bei einem Germanistenkongress, zu dem ein paar Autoren hinzugeholt wurden, in diesem Fall Herta Müller und ich, und hörte dann ein großes Klagen darüber, ob man etwa Heiner Müller oder Christa Wolf nun anders lesen und neu bewerten müsse. Am besten nicht, sagten alle, die irgendwann einmal ihren akademischen Titel damit gemacht haben, der plötzlich fragwürdig wurde. Wenn ich mich dazu selbst äußern soll: Für mich hat es keine ästhetische Zäsur gegeben, nur weil sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert hatten. Vielleicht hat sich mein Textbewusstsein mehr als zuvor auf die Struktur hin ausgeprägt, auf die Art und Weise der Rede anstatt darauf, was die Rede selbst sagt oder zu sagen beabsichtigt. Mehr aber auch nicht. Und das meine ich jetzt nicht im Sinne eines reinen Formalismus, den es meines Erachtens nicht gibt und nicht geben kann. Ich meine es in der Bekräftigung, dass die Rede glaubhaft werden muss, und das kann sie nur in der Form, also figurativ. Heute indes stehen wir vor dem Problem eines kompletten Infarktes aller Zeichensysteme. Die Sprache ist erschöpft. Der Kapitalismus ist manisch-depressiv. Der Sozialismus war paranoid. Da kann man sich jetzt aussuchen, was einem besser gefällt.
Hielscher: Antwortet Ihr Schreiben schon immer auf andere Texte, auf andere Stimmen? Welche waren das in Ihren Anfängen, welche zentralen neuen sind es geworden? Was steht am Anfang? Eine andere Stimme, auf die man reagiert, oder die „eigene“, die man im Schreiben auch erst hört?
Drawert: Paul de Man spricht davon, dass jeder Autor das Produkt eines anderen ist. Ich glaube, er verwendet sogar die Metapher vom „auf des anderen Schultern stehen“. Das finde ich doch sehr verkürzt. Natürlich gibt es keinen Autor, der sich selbst erzeugt hat und nicht in irgendeiner Weise verflochten bleibt mit der Tradition, oder besser, mit einer bestimmten ästhetischen Linie der Tradition, die ihn berührt hat. Die Sprache ist ja auch immer schon da und verfügt über das Subjekt, das sie annehmen muss, um sich mitzuteilen. Dann aber geschieht doch etwas höchst Unvorhersehbares. Der eine bleibt im System der Sprache Objekt, also er anerkennt die symbolische Kastration, zu der der Vater ihn zwingt, wenn er sagt: Ich nehme dich an, aber nur, wenn du sprichst, und der andere bleibt, zumindest in Teilen, identifikatorisch der Mutter verbunden, und das entspricht dann der Interjektion, dem Zwischen- und Vorsprachlichen. Die Verwerfung der Kastration führt zur Psychose, aber die Verschiebung, die metonymisch bleibt, zu einem sehr eigenen, den Vater immer wieder ausgrenzenden Sprechen, das auch die Poesie generiert und die Mutter im Namen des Vaters erhält, sie quasi mit einem Phallus ausstattet. – So, jetzt habe ich mich verlaufen. Dumm auch. Aber nutzen wir das ruhig als Allegorie. Kein Autor kann jenseits der Texte bleiben, die es schon gibt. Das ist für uns, heute, ein ganz und gar ungeheuerliches Erbe, eine Zumutung. Vor diesem Hintergrund meint Žižek – und gewiss will er damit auch provozieren und durch Übertreibung kenntlich machen –, dass die Bücher regelmäßig, alle zwei, drei Jahrhunderte vielleicht, verbrannt werden sollten. Vatermord also. Aber imaginär lebt jeder Vater weiter, und er lebt umso länger, desto kürzer seine Lebens-, oder besser, seine Wirkungszeit war. Wir haben diese Stimmen, ich weiß nicht wie viele Hunderttausende von Stimmen, die sich im Universaltext eingeschrieben haben. Durch diesen Echoraum muss jeder hindurch, und viele, vielleicht die meisten, bleiben dort auch zurück, in der Imitation, im mimetischen Nachbuchstabieren. Man macht etwas nach, so beginnt es. Meine ersten Jahre des Schreibens, irgendwann in den 1970ern, waren Nachahmungen von irgendwem. Meistens von dem, das ich gerade las. Natürlich Hesse, wie wahrscheinlich jeder, der eine komplizierte Adoleszenz hat. Dann Dostojewski, vielleicht fünftausend Seiten. Alles von Nietzsche. Ich arbeitete als Hilfsbibliothekar in einer großen Bibliothek, in der mir alles zur Verfügung stand, was man so braucht, um ganz für sich und allein in der Nacht Literatur zu studieren. Dann Kierkegaard, der Existenzialismus, der Surrealismus, die Moderne. Joyce natürlich, Proust, Musil, später Beckett, alles. Ich entdeckte Carl Einstein, ein Expressionist, den heute kaum jemand mehr kennt. Das Sein und das Nichts von Sartre war mir geradezu heilig, eine Generalorientierung. Freud, schon mit 15, 16, 17. Kafka. Flaubert. Wie soll ich sagen, wer wann und wie seine Spuren in mir abgelegt hat? Jeder Text ist eine Inskription und damit eine Veränderung des Körpers. Deshalb sollte man auch Acht geben, welche Texte man zulässt, um nicht verletzt oder gar getötet zu werden. Entscheidend ist nur, dass sich im Gewebe dieses lesenden Unterwegsseins etwas herausbilden kann, das man selbst ist, eine Tonlage, die auf eine eigene Weise auf die Welt und ihre Zumutungen reagiert. Die Stoffe sind erschöpflich und auch erschöpft. Die Formen ebenso. Aber die Tonlagen nicht, die Affekte, die sich immer neu bilden, ehe sie historisch werden. Es gibt nicht den Anfang im Sinne eines literarischen Urknalls, einer primären Initiation, jedenfalls galt das für mich nicht. Das Schreiben bildete sich heraus, es entstand, wie das Ich, das ein Produkt ist, eine Entfaltung. Es ist ein Dialog der eigenen Stimme mit den Stimmen der anderen, der Toten, der Lebenden, unabschließbar, fortwährend, ein Prozess, dem eine Geschichte immer schon vorausgegangen ist und dem eine andere folgen wird, wenn man selbst nicht mehr spricht. Die Bedeutungen liegen immer auf dem Feld des anderen. Da kann man selbst keinen Einfluss geltend machen. Deshalb ist es auch so unergiebig, wenn sich einer beschwert, dass er nicht gelesen oder gelesen, aber nicht verstanden wird und so weiter und so fort. Die Klage ist berechtigt, aber Gott hört nicht zu.
Hielscher: Kann man sagen, dass Sie eine ostdeutsch-osteuropäische Erfahrung und eine westdeutsche-westeuropäische haben, inzwischen eine „globalisierte“? Inwieweit machen diese komplexen, auch einmaligen Erfahrungen einen Nährboden ihrer literarischen Erfahrung aus?
Drawert: Nichts anderes wäre richtig. Ich sehe mich als ein deutsch-deutsches Spaltungssubjekt. 33 Jahre Ost- und 25 Jahre Westerfahrung, das sind zwei Sozialisationen, die einander fast ausschließen. Wobei natürlich die Früherfahrung fundamentalere Prägungen hat. Das ist ja auch der latente Euphemismus der politischen Metapher: „Es wächst zusammen, was zusammen gehört“, der die Wahrheit verleugnet. Zwei bis in die Codierungen der Körpersprachen anders funktionierende Kultursysteme, wie es die des ehemaligen Ostens und des Westens nun einmal waren, können sich unmöglich innerhalb der Generationen, die dieser Spaltung ausgesetzt waren, vereinen im Sinne von „zusammenwachsen“. Im Gegenteil, die Verschiedenheit anzuerkennen, das Unzusammengehörige als souveränen Bestandteil des Anderen, wäre die einzig adäquate Position einer politisch aufgeklärten Kultur. Wir sehen es ja heute noch, nach einem, man glaubt es kaum, Vierteljahrhundert, wie anders der Osten auf die selben politischen Ereignisse in der Welt reagiert. Die PEGIDA in Dresden zum Beispiel, die, ganz im Diebstahl der Symbole, jeden Montag die Massen auf die Straße bringt, um gegen Asylanten zu protestieren, und das mit einer Rhetorik der Aggressivität, die einem Kriegszustand immer ähnlicher wird, ist natürlich auch als eine Erblast und Dispositiv zur DDR zu verstehen. Revolutionen finden ja immer zweimal statt, auf realer und auf symbolischer Ebene. Real, das heißt, politisch, ökonomisch und so weiter, ist sie vollzogen, aber symbolisch bleibt sie zurück, behält ihre Schwerkraft, ihren Mythos, der sich wie ein Schatten auf die Gegenwart legt. Es gibt keinen Abschluss von Geschichte, weil die Körper, die sie gestaltet, erlebt und erlitten haben, von ihr gezeichnet und durchzogen worden sind. Das ist ein unbewusster Strom, der nur in Teilen fassbar und verstehbar ist. In der Lyrik, ich sage das gern und mit voller Überzeugung, am tiefsten, am verzweigtesten, weil sie, wie es Jakobson so wunderbar feststellt, ein Wissen vom Unbewussten ist. Und damit bin ich bei mir, meiner Literatur, die mir selber völlig unvorstellbar wäre, würde sie nicht immer wieder, und immer wieder anders und neu, das gespaltene Objekt der Geschichte betrachten. Das betrifft alle Texte ab den 1990er Jahren, wobei es natürlich eine Verlagerung der Schwerpunkte gibt, die der Gegenwart immer näherkommen. Aber wie ein Gespenst in der Nacht, wie ein Untoter, der über uns hingeht, ist, wie soll ich es sagen, auch der Vergangenheitskörper präsent, und nicht nur in der Sprache. „Ostdeutsch verwundet / und westdeutsch verwaltet“, heißt es in einem Gedicht. Und an anderer Stelle:
Als fremder Brief mit sieben Siegeln
ist mir im Herzen fern das Land.
Doch hinter allen starken Riegeln
ist mir sein Name eingebrannt.
Besser kann ich es nicht sagen. Und ich habe es nie, niemals als Defizit erlebt, diese Spaltung, diese Ortlosigkeit, sondern als eine sehr besondere Quelle der Kraft und Orientierung. Oder richtiger: Das Defizitäre ist die Wahrheit der Welt, und ich hatte das Glück, schnell dieses Unglück zu finden, jenes Unglück, das Lacan das „immer schon Verlorene“ nennt. Bitte, verstehen Sie das jetzt von Pathos vollkommen frei, aber der Blick auf die Wunde, den Schmerz, den Riss und die Störung ist der einzige, der für mich zur Kunst führen kann. Alles andere wäre mir überflüssig, Dekoration, pseudoästhetischer Gebrauchskitsch. Der Osten, so gesehen, war der Körper, das Ereignis der postmodernen Theorie. Und Kaspar Hauser, dieses Rätsel im Herzen der Aufklärung, musste eines Tages zu meinem Romanstoff werden, wie ich ihn, ich weiß nicht über wie viele Jahre hin, mit „Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte“ dann auch verarbeitet, gestaltet und beendet habe. Zoomen wir uns weiter zurück und sehen auf die zwei Zeitachsen und Geschwindigkeiten von Geschichte, die bis 1989/90 koexistierten, aus einer größeren Entfernung, dann gab es natürlich nur eine Geschichte, die in sich paradoxal zerschnitten und in Parallelwelten aufgeteilt war. Die große Welterzählung ist nicht mehr teilbar. Nur wir, mit unseren läppischen wie vielen Jahren?, wir haben keinen Blick auf diesen Blick. Naturgemäß nicht. Aber jetzt, in der digitalen Moderne, gerät auch das Narrativ der Welt in Gefahr, weil es im Unendlichen der Netze verschwindet. Globalisierung heißt ja auch, mit allen und allem gleichzeitig im Gespräch zu sein und demnach keines mehr wirklich zu führen. Das hebt die Zeit auf, sie dissoziiert, zerfließt, wie im Reich der Toten. Und mit nichts anderem haben wir es zu tun, sobald wir zu einem Bestandteil der elektronischen Netzwerke werden.
Hielscher: Steht am Anfang Ihrer literarischen Laufbahn das Schreiben von Gedichten, und inwieweit prägt das lyrische Sprechen auch die Sprache in den anderen Gattungen, in denen Sie sich bewegen, zumindest stark mit? Ist der Übergang vom Gedicht zur Prosa, vom Essay zum narrativen Text, schließlich zum Roman ein fließender? Oder erzwingt der jeweils andere Gegenstand eine ganz neue Form, ein neues Schreiben und Sprechen, das sich jeweils vollständig emanzipiert?
Drawert: Gedichte waren die ersten brauchbaren Texte, die ich selbst später anerkennen und zum Druck geben konnte. Und da war ich schon Mitte 20. Aber angefangen habe ich mit Prosa, Miniaturen, dann Erzählungen, dann, immerhin, ein Roman, verschüttet in der Substanz meines Lebens. Ich hatte mir damals eine Schreibmaschine kaufen können, über die Beziehungen einer Freundin, die im Handel tätig war. Unschätzbar wertvoll. Sie hieß Erika, die Schreibmaschine, meine ich, und steht heute da noch irgendwo herum. Auf diese Erika hämmerte ich ein wie der Boxer auf einen Sandsack, jede Nacht, weil ich tagsüber ja arbeiten musste, recht hart und verloren in den schwarzen Fabriken. Die Nachbarn beschwerten sich, meine Frau, keiner konnte schlafen. Dann zog ich mir eine Decke über den Kopf, um den Schall abzudämpfen, und arbeitete weiter. Eine Geschichte von einer verrückten Frau mit ihrem verrückten Bruder, der des Nachts herumging und Geräusche auf seinen Rekorder überspielte, die er am Tag dann abhörte und neu wieder zusammenschnitt. Und dann immer Kriegsrückblenden, Vertreibung und Flucht und so etwas, um dem Wahnsinn einen Grund zu geben. Die Seiten waren so eng beschrieben, weil das Papier knapp war, und dann mit Hand auch noch zigfach korrigiert und überschrieben, dass man fasst nichts mehr lesen konnte oder eben nur, wenn man sich gern etwas quält. Ich glaube, 40 Zeilen und 100er Anschlag, das alles in Perlschrift, also in verkleinerter Type, und immer mit fünf bis sieben Durchschlägen in Kopie. Davon jedenfalls gab es so an die 200 Seiten, umgerechnet auf Normalmaß sind das etwa 500. Mein Freund und erster Leser, ein Germanist, der von der Uni in Berlin geflogen war, weil er gegen die Biermann-Ausbürgerung protestierte, las das, kämpfte sich durch, und wir trafen uns dann fast jede Woche, immer dienstags, und sprachen darüber. Ich denke heute, er hat mich zum Schriftsteller gemacht, denn es kann ja nur von außen kommen, was dem Eigenen zu einem Wert verhilft. Er war der berühmte eine Leser, den es geben muss, damit der Schriftsteller eine Begründung für sich selber findet. Weiter, weiter, sagte er, nicht ohne Kritik, ganz und gar nicht. Das war meine Expressionisten-Phase, Carl Einstein, ich erwähnte ihn schon, und dieses Umfeld eben, bis hin zum Surrealismus, der mich nachhaltig beeindruckt hat, weil es plötzlich keine Grenzen des Bewusstseins mehr gab, keine Verbote. Können Sie sich vorstellen, was das im Kontext der DDR und ihrer „Der Sozialismus siegt, weil er wahr ist“-Rezeption hieß? Völliger Ausschluss. Unverständnis. Psychoseverdacht. Nebenbei malte ich noch. Ich wollte zuerst einmal Maler werden. Hatte sogar eine eigene Ausstellung, kannte Leute von der Dresdener Kunsthochschule, die sich für mich interessierten. Als ich dann aufhörte zu malen, weil ich schlichtweg keinen Raum mehr hatte, um das zu tun, wurde auch mein Schreiben anders. Mir fehlte eine Form, die in der Malerei lag und die dann, so sehe ich es heute, eher im Gedicht wieder auftaucht und Sprache selbst zum Sprechen bringt, musikalischer, tropologischer ist. Das „In-“ anstatt „Mit-Sprache-Sein“, Sprache also zweifach zu verwenden, als Auszusagendes, diegetisch, aber eben auch als Aussage selbst, als Form und Figur, ist mein Schreibzentrum geblieben – und das gilt auch für die Prosa. Mein erster großer Roman über den Kaspar-Hauser-Stoff ist, genau genommen, ein monumentales Gedicht. Vielleicht fehlte mir der Mut, damals, es in Verse zu setzen. Jetzt mache ich das einfach. Genres interessieren mich nicht. Das ist alles Quark mit Kartoffelsalat. Taxonomien sind für Germanisten gemacht, für Literaturhistoriker. Da haben sie Sinn. Ein Autor erfriert, wenn er sich daran hält, denn er bewegt nichts neu und nichts in eine andere Richtung. Die Literaturwissenschaft ist immer nur gültig bis zu dem Punkt, an dem ein Schriftsteller neue Grenzen markiert. Wer die Kraft nicht besitzt, Grenzen zu überspringen, auch die psychologischen, sozialen und so weiter, zu transzendieren, was der Fall ist, kann alles, aber kein Schriftsteller werden, kein guter jedenfalls – wenn das, Verzeihung, überhaupt noch eine Rolle spielt. Also, die Übergänge sind fließend, wobei der Essay natürlich am stärksten dem Diskursiven unterliegt und einer Sprache der möglichst genauen Verwendung. Ich schreibe wahnsinnig gerne Essays, weil ich eine große Lust am Denken habe, am Erkennen, Zusammenfügen, was im Rätsel und in Brüchen vor mir liegt. Prosa und Lyrik gehen den anderen Weg, sind assoziativer, suchen sich selbst, ihren Sinn, ihr Wissen vom Wissen. Es ist ein Abenteuer, ein Gang über ein Minenfeld. Wenn es irgendwo hochgeht, bin ich richtig gelaufen. Danach bin ich ein anderer. Nach jedem Buch bin ich ein anderer. Um das zu verstehen, entstehen dann wieder Essays, die immer, oder doch meistens, teleologisch sind. Vielleicht ist das der psychophysische Zusammenfluss von Vater und Mutter, von Logos und Melos, Kohärenz und Kohäsion. Auf jeden Fall eine enorme Bereicherung, ein Objekt so drehen zu können, dass es immer auch seine Rückseite zeigt, sein abgewandtes, zweites System. Die Wahrheit hält immer auch ihr Gegenteil umschlossen, und deshalb besitzen wir sie nicht. Das liegt dann im Feld eines anderen Mediums, eines anderen Standpunkts, einer anderen Form. So ist das vielleicht.
Hielscher: In ihrem Schreiben, vor allem in Ihrem Buch Schreiben. Vom Leben der Texte spielt die psychoanalytische Subjekttheorie Jacques Lacans eine große Rolle. Was hat Ihnen diese Theorie gegeben und wo und wie sind Sie ihr begegnet? Spielt eine irgendwie geartete therapeutische Dimension im literarischen Schreiben eine Rolle, also das Betreten einer Art Urszene, aus der das Subjekt des Textes sich entwirft?
Drawert: Zur Produktion habe ich immer schon Theorie gebraucht, und aus der Theorie erwächst die Produktion. Für mich schließt das eine das andere nicht aus, im Gegenteil, Produktion und Reflexion bedingen einander, stehen in einem dauernden Kontakt. Mich faszinieren Denksysteme, die in ihren Ableitungen stringent und verständlich werden. Sie sind wie Krücken in der Nacht. Modelle, die etwas erklären oder wenigstens umreißen können, was andernfalls dunkel bliebe und keinen, hier ganz wörtlich verstanden, Anschein hätte. Wenn man mit 14, 15 schon Philosophie liest, und dann, mit 16, die Freudsche Psychoanalyse entdeckt, ist ein Weg beschritten, der unabänderlich wird. Eine Art Verstehensdroge, der Zwang, die Welt sich erklärbar zu machen, um damit dem eigenen Schicksal, nur die Summe fremder Verfügungen zu sein, Objekt im Moment seiner Blindheit, wenigstens etwas zu entkommen. Es gab, parallel zur Primärliteratur, die ich las, eine Art Bildungslogik, die mit Nietzsche ihren Anfang nahm, dann Schopenhauer, Kierkegaard, Max Stirner. Von Freud kam ich zu Jung, Wilhelm Reich, Jaspers, alles recht durcheinander. Dann zu den Strukturalisten, zur Semiotik und zur Sprachphilosophie, Peirce, Cassirer, Frege. Wittgenstein, Bühler, Saussure. Vorher Sartre natürlich, Camus. Zwingend stößt man in diesem Umfeld, diesem Kanon des Denkens im 20. Jahrhundert, auf Lacan, ein Kosmos für sich, einmalig in der Freud-Rezeption, sein letzter großer, inspirierter Leser vielleicht. In den 1980ern las ich vor allem die Poststrukturalisten, Foucault, Derrida, Barthes, Baudrillard, und lassen wir jetzt einmal beiseite, ob sie alle tatsächlich zu den Poststrukturalisten gehören. Lacan ließ ich erst einmal liegen. Zu sperrig, kryptisch, unverständlich. Auch war mir die Terminologie unvertraut, eine Mischung aus Semiotik und Psychoanalyse, Grapheme kommen hinzu, Formeln, Zeichnungen. Man braucht lange, ehe man sich darin zurechtfinden kann. Dann aber, als ich mit meinem Kaspar-Hauser-Stoff anfing und über Kittler, der einen grandiosen Text zum Kaspar-Hauser-Mythos schrieb, wieder bei der Psychoanalyse war, vor zehn, zwölf Jahren so etwa, fing ich auch mit der Lektüre Lacans wieder an, und dabei blieb es bis heute. Immer wieder Lacan. Ich werde einfach nicht müde. Es ist eine Droge, diese Sätze in aporetischen Schleifen, ohne Ausgang, ohne Anfang und Ende. Eine Art Kafka der Theorie. Oder Sokrates, der jede Rede mit einer anderen zerstört. Ich kann das wie Literatur lesen, von einer ganz und gar poetischen Seite her, die nichts mehr zu beweisen, zu erklären, zu rechtfertigen hat. Die Übergänge von der Philosophie zur Literatur und umgekehrt sind für mich absolut fließend. Sehen Sie nur einen Satz wie diesen: „Liebe ist, wenn man gibt, was man nicht hat“, wie ich ihn gleich zu Anfang meines Buches über das Schreiben zitiere, ist er nicht in sich schon ein faszinierender Text? Ein Mysterium an Behauptung und Widerlegung in einem? Um einen solchen Satz zu finden, braucht man ein System, dass sich selbst stützen kann. Oder:
Was wir wollen, müssen wir sagen.
Wie einfach und doch fast unmöglich- zu sagen, was das Begehren von einem will. Und doch muss es den Signifikanten passieren, um sich selbst zu begründen. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob ich Lacan richtig verstehe – aber darum geht es auch gar nicht. Sein Denkgegenstand ist ja das Unverständliche an sich, jenes Objekt klein a, das immer schon verloren ist und ein Begehren nach dem Begehren in die Leerstelle, in die Lücke, in das Nichts des Lebens reißt. Uns ist ein Mangel eingeschrieben, der nicht gefüllt werden kann. Und jetzt kommt die Poesie dazu, jenes andere Sprechen, dass die Dinge nicht mehr lediglich benennt, sondern durchzieht, durchströmt, ausformt, ihnen einen Atem, ein Leben zurückgibt. Poesie ist die höchste Form von Welt- und Selbsterkenntnis, da bin ich ganz in der Romantik, bei Hölderlin, Novalis, Schelling. Und wenn je Wahrheit nicht erkannt, das kann sie sowieso nicht werden, aber ahnbar wird, ahnbar in einem Moment ihres eigenen Erscheinens, so wie ein Blitz die Nacht erhellt für den starken Moment, dann geschieht es im poetischen Text. Hier bin ich dann auch wieder ganz und gar Autor, Dichter, und vergesse jede Theorie. Das nun zusammenzubringen, das je Unerklärliche, das im Text sich erklärt, und die Subjektbeschreibung, wie sie Lacan unternimmt, gestützt auf Freud und Saussure, das war mein Versuch. Jenes verlorene Objekt bei Lacan und der Überschuss von Sprache in einem Gedicht, das sind doch explizite Verweisungen, Parallelfiguren, zwingende Übergänge. Den Therapiebegriff in diesem Zusammenhang finde ich überflüssig, weil er einen Status der Sprache ins Pathologische bewegt, das ja gerade im Text schon überwunden wurde. Literatur ist ja nicht dadurch Literatur, dass sie ein Subjekt zur Selbstheilung bringt, sondern dass in ihr ein Wesen allgemein geworden ist, ein Fakt zur Allegorie, also exemplarisch wird. Wenn es kein Allgemeines im Besonderen gibt, keine Erweiterung der Subjekterfahrung auf ein Unbewusstes hin, das gesellschaftlich habituiert ist, fällt der Genuss aus, die Lust am Text im Augenblick des Lesens. Denn was soll mich, beispielsweise, die Geschichte einer vom Leben enttäuschten Frau interessieren, die gelangweilt herumsitzt und fremdgeht, während ihr Mann als Landarzt von Dorf zu Dorf durch die Normandie reitet, um hier einen Schnupfen und dort einen Beinbruch zu heilen, wenn sie, und darauf kommt es jetzt an, nicht Flaubert erzählt hat? Oder in Umkehrung gesprochen: Was interessiert mich die Epilepsie bei Dostojewski, wenn sie etwas so Grandioses wie Schuld und Sühne möglich gemacht hat? Therapie ist ein Nebeneffekt, ein Abfallprodukt, etwas in jeder Hinsicht Sekundäres. Oder man nimmt sie gezielt und ausdrücklich zur Initiation, um einen Sprechakt in Bewegung zu bringen, wie ich es im Rahmen einer Textwerkstatt für Patienten in einer psychiatrischen Klinik auch schon einmal getan habe. Dann aber fällt der Literaturbegriff aus. Zeichen und Wunder ausgenommen.
Hielscher: Viele Ihrer Texte entstehen im Zusammenhang mit Reisen, Ortswechseln, Aufenthalten in anderen Städten und Landschaften. Sind das quasi Orte der Inspiration, auf die Sie dann literarisch antworten, oder gibt es schon einen literarischen Erwartungshorizont, der sozusagen nach diesen Orten ruft?
Drawert: Orte sind Texte, Projektionen der Innerlichkeit. Inwieweit ein Ort mit jener introjektiven Subjektwelt übereingeht oder ein Spannungsfeld aufbaut, ist nicht kalkulierbar. Das macht das Reisen zu einem Abenteuer, auf diese oft unerwartete Affektivität zu stoßen oder zu spüren, dass etwas vollkommen leer bleibt, von dem Affekte erwartet wurden. Das hat mit Reiseführer und Touristenprogramm rein gar nichts zu tun, denn nichts ist mir scheußlicher, als nach vorgegebener Richtung von Denkmal zu Denkmal zu stürzen und abzuhaken, dass alles Sehenswerte gesehen worden ist. Das heißt nicht, dass ich das nicht auch sehen will, aber es verbindet sich keine Lust damit, sondern allenfalls Interesse. Am liebsten, vor allem, wenn nicht wirklich viel Zeit bleibt, treibe ich in fremden Städten dahin wie ein Stück Materie im Flusslauf und folge den Strömen, die einem unsichtbaren Plan, einer Karte der Intensitäten, der Aufladungen und Entspannungen, folgen. Es ist der Rhythmus, den ich erfahren, erleben, erspüren möchte. Und das ist ganz nah am Schreiben, an der Literatur, denn wenn ich lese, interessieren mich zunächst einmal auch nur die Sätze, ihre Form, ihre Syntaktik. Wenn sie nicht schön sind, kann auch die Geschichte nichts taugen. Jeder Anfang eines Textes beginnt, jedenfalls für mich, mit dem Ton. Die richtige Tonlage finden, die den Stil erst hervorbringt, ist immer eine Frage von Nähe oder Entfernung zum Stoff. Wenn der Ton seine Sache verrät, weil er zu schrill, zu laut, zu hoch oder zu flach ist, kann aus dem ganzen Narrativ nichts mehr werden. Hier treten wir in die Funktionen des Unbewussten ein, verklammern die Ratio, das Wissen, das immer schon ein Vorwissen, ein Ressentiment ist, mit jenen Schichten des Selbst, die etwas preisgeben können, wenn sie ins Symbolische der Sprache gelangen. So ist auch mein Schreiben, jedenfalls dort, wo es nichtdiskursiv ist, ein immerwährendes Suchen nach dem Verlorenen, und sein Ziel ist die Bewegung an sich. Natürlich gibt es, zumal in der Prosa, den finalen Satz, wie es ja auch die Exposition gibt, aber er ist nur ein stilles Aufhören und niemals ein Ende. Hier bin ich der Lyriker, der zur Prosa, zur Handlungsprosa, genauer gesagt, nicht taugt. Übertragen auf Orte: Ich kann nicht nach Karte und Kompass laufen. Stadtpläne irritieren mich, nichts kann ich finden. Ich bin absolut unfähig, einen Stadtplan so aufzufalten, dass Abbild und Urbild lesbar sind und im Kopf konzeptionalisiert werden können. Es gibt immer wieder diese urkomischen Szenen, dass freundliche Menschen mir ihre Hilfe anbieten, weil ich mit meinem FALK-Atlas das kämpfe wie Don Quichotte mit einer Windmühle. Das sind psychophysische Urprogramme, Habituierungen. Andere werden unsicher und ängstlich, wenn sie keine Karte besitzen und dem Fremden, Ungewissen ausgesetzt sind. Innerer und äußerer Ort bedingen einander, bilden sich gegenseitig ab. Sie sind wie ein Möbiusband, das zur Acht verschlungen Innen- und Außenseite fließend verschiebt. Eine Stadt ist ja wie die Metapher vom Baum in drei primäre Segmente gegliedert. Die Krone, das wären die höchsten topografischen Punkte, von denen man in die Weite schaut und dem Himmel auch am nächsten ist, der Stamm, das sind der Verkehr, das System der Wege, Plätze, Straßen, und der unterirdische Bezirk mit Metro, Verkabelung, Kanalisation und vieles mehr, ist die Wurzel, das Rhizom, das Unbewusste, wenn wir es noch weiter abstrahieren wollen. Das RSI, Reales, Symbolisches und Imaginäres bei Lacan, oder die Trias: Ich, Über-Ich und Es bei Freud, sind doch evidente, brauchbare Modelle, die das zur Anschauung bringen. Was ich sagen will: Ich weiß vorher nie, ob die Orte, die ich mir vorgestellt habe und vielleicht sogar mit literarischer Absicht bereise, ergiebig sein, etwas freisetzen werden. Ein Monument kann nur ein Haufen kalter, grauer Steine bleiben, und ein kalter, grauer Haufen Steine kann ein Monument ergeben, obgleich kein anderer das ebenso sieht. Das macht den Gedanken, oder richtiger, die Erwartung so naiv, dass ein Schriftsteller, der gut partizipiert am im Grunde wunderbaren Stipendienverschickungswesen, wie wir es in Deutschland besitzen, produktionsfähig, das heißt schreibfähig im literarischen Sinne sein muss, wenn er diesen herrlichen Blick auf diese herrliche Landschaft genießt. Das verkennt den nur bedingt steuerbaren Prozess, wenn wir hier von Reportagen oder Sachtexten für eine Zeitschrift oder dergleichen absehen, wie die Tatsache, dass die Einschreibungen eines Ortes in die Textur auch formal existieren, in der Struktur, in der Geschwindigkeit des Sprechens, Sehens und Reagierens. Ich muss nicht zwingend New York gesagt haben, um plötzlich vor einer Serie von Gedichten zu stehen, die in den Strudel der Energien geraten sind, wie sie diese Stadt generiert. Auf einmal war das stofflich weit ausschwingende, vom Rhythmus getragene und zur Elegie drängende Langgedicht da, als ich tatsächlich für längere Zeit in New York sein und arbeiten konnte – und geschenkt jetzt, dass dieser Zyklus „Matrix America“ heißt und den Ort auch benennt. Entscheidend ist die Struktur, nicht der Begriff. Ein Mythos für sich, völlig rätselhaft in seiner Bewegung, Atmung, Lebendigkeit, war mir der Bosporus, den ich fast ein Jahr lang, als ich in Istanbul leben und arbeiten konnte, jeden Tag vor mir hatte und sah, hörte, fühlte, roch. Ein Dialog mit der Historie, aber auch mit der Geschichte der Gegenwart, ihrer blinden Aktualität und Verwerfung, wie ich ihn so noch nirgends erlebte. Wenn das Wort Magie einen Sinn hat, dann an den Ufern des Bosporus. Hier auch entstand in weiten Teilen das längste Gedicht, das ich je geschrieben haben werde und das, so es Gott will, im Herbst 2016 herauskommen soll. Der Körper meiner Zeit, in fünf Bücher gegliedert und mit einen Fotoessay supplementiert. – Orte, um Ihre Frage jetzt abzuschließen, sind Chiasmen eines Innen und eines Außen, und sie arretieren, was uns mit dem Anderen verbindet.
Hielscher: Sie sind auch immer schon ein die gesellschaftliche Zurichtung, sei es im System der DDR, sei es im westlichen Kapitalismus, reflektierender, darauf reagierender Autor, damit auch ein politischer Autor, der die direkte und strukturelle Gewalt dieser Systeme auch als Verletzung der Sprache und des Körpers intensiv erlebt und ihr literarisch begegnet. Welche Rolle, welche Funktion, welche Chance hat Autorschaft in diesem Zusammenhang?
Drawert: Sie haben vollkommen recht, und über vieles in diesem Zusammenhang haben wir ja auch schon gesprochen. Aber ein anderes Konfliktzentrum, wenn ich das so von meiner Literatur selbst sagen kann, als die Schnittstelle von Macht, Körper und Sprache – wobei Sprache schon zur symbolischen Ordnung gehört, die Macht und der Körper indessen zum Realen und seiner Unerkennbarkeit, seiner Kontingenz –, kann ich mir nicht vorstellen. Diese Ströme zu beschreiben, wie sie zwischen Körper, der immer doppelt, also für sich und für andere, existiert, und Macht, die vergesellschaftet auftritt und natürlich dispositiv, also über ihre Positive (Hegel für Institutionen und Körperschaften) hinaus wirkt, gehört für mich zur höchsten Form eines politischen Handelns. Die Beschreibung nämlich zieht den Diskurs aus seiner Dunkelheit hervor, seiner stummen, absoluten Wirksamkeit, und das macht die Sprache zu einem Macht besetzenden, ebenso aber auch von Macht schon besetzten Instrument, je nachdem, welchen Standort des Sprechens wir eingenommen haben. Der Schriftsteller ist damit, Sprache literarisch, also als eine freie Funktion des subjektiven Ausdrucks zu verwenden, womit er ihr neue Räume des Denkens, der Assoziativität und Imagination abgewinnt, immer politisch, auch dort, wo er es gerne verleugnet, denn er attackiert die normative Grammatik, in der alle Beschriftungen von außen erfolgen und die Subjekte zu Dubletten der Macht werden lassen. Wenn dann noch politische Anlässe zu einem Vokabular verführen, das sie direkt benennt, dann kann auch das sinnvoll sein, aber es hängt nichts davon ab, was die tragende Bedeutung betrifft. Wenn die Tiefenstruktur, in der Macht sich festsetzt, nicht aufreißt, und das kann sie nur in und mit Sprache, dann ist die beste Absicht leer und nichts wert. Das ist ja das immerwährende Missverständnis, wenn von politischer Lyrik die Rede ist, dass sie ihr Vokabular, ihren Jargon haben muss. Nein, gar nicht. In der DDR – es lässt mich ja nicht los – gab es Zeiten, in denen Liebesgedichte hochbrisant politisch waren, allein schon wegen der Rückzugshaltung zweier sich liebender Menschen gegenüber dem Kollektiv, der Gemeinschaft, der Gesellschaft im Allgemeinen. Ich zu sagen war ein riskanter Angriff auf den Souverän, den großen Anderen, dessen Symbol hier die Zentralmacht einer Partei war. Darauf würde im Westen gar keiner kommen. Und da haben wir natürlich auch das Problem wieder, wie labil, ja geradezu durchlässig die Bedeutungen der Zeichen sind und wie abhängig von ihren systemischen Bedingungen, unter denen sie eingesetzt werden. Von daher war der Schriftsteller im Osten immer schon mit einem Vorschuss an Sinn ausgestattet, dass er eigentlich fast nur noch einen vollständigen Satz schreiben musste, um subversiv sein zu können. Das hat zu grandiosen Überschätzungen geführt und Größenphantasien der verschiedensten Art – in Ost und West wohlgemerkt gleichermaßen –, die nach der Wende zusammenfallen mussten. Heute hätten wir es gern zurück, ein wenig nur, dieses politische Ernstgenommenwerden. Aber in keiner Zeit konnte ein Autor sich aussuchen, welche Verständnis- und Rezeptionswege sein Text gehen würde, was ihn berühmt macht oder übersehen, vergessen, vernichten lässt. Literatur, und Kunst überhaupt, hat immer ein Trägheitsmoment, eine Nachträglichkeit, die asynchron zu den Ereignissen steht, auf die sie reagiert, dann aber wieder antizipieren kann, weil in der Reflexion ein Wissen vom Wahrscheinlichen liegt. Und wie die stehen gebliebene Uhr zwei Mal am Tag die richtige Zeit anzeigt, so auch kann ein Kunstwerk, ein Text, auf diese Schnittstelle zwischen Ereignis und Topos stoßen, der dieses Ereignis schon erahnt und metaphorisch vorbereitet hat. Dann berühren sich Kunst und Wirklichkeit unmittelbar, werden koinzident. Aber das ist nur in Umbruchzeiten, in vorrevolutionären Zuständen möglich, die besonders affiziert dafür sind, Signale aufnehmen und interpretieren zu wollen. Die Gefahr allerdings, die daraus erwächst, ein Wirkungsfeld unmittelbar betreten und erschaffen zu können, liegt in der Verführung, Poesie und Kunst gegen Politik und Macht einzutauschen. Majakowski brachte sich um an dieser Stelle, als er eben das begriff. – Was ich sagen will, ich glaube sehr bestimmt, dass Literatur wirkt und etwas bewirkt, eben weil sie vordringt in die symbolischen Ordnungen und sie verändert, und sei es durch Negation. Es gibt viel zu wenig Negativität in unserer vollgestellten, für alles sofort ein Substitut bietenden, durch Verfügbarkeiten geradezu unerträglich gewordenen Welt. Nur messen, positiv beschreiben können wir das nicht, weil es zum Register des Psychischen, des kollektiven Unbewussten, des Metaphysischen gehört, wenn ich es so altmodisch sagen darf, wo ein szientistischer Ungeist, ein Neoliberalismus größten Ausmaßes schon annähernd alles beherrscht. Soweit der optimistische Teil, der irgendwo zwischen Phantasma und Wirklichkeit schwebt, weil noch jeder, der etwas herstellt, einen Begründungszusammenhang braucht, einen Sinn für das, was er tut. Unsere Kulturwelt heute ist, von ihrem substanziellen Innenwert her, nahezu zusammengebrochen, dem Infarkt an entleerten Zeichen erlegen, ermüdet. Das Event, immer in derselben Steigerungslogik des Kapitals und eine Spirale der hysterischen Erregung nachbildend, ist ein Symptom dieser Erschöpfung, ein Antonym. Es verfügt nur noch über Anlassqualität, deren Effekt die Verbrennung von Substanz ist. Das kennen wir seit den öffentlichen Hinrichtungen des Mittelalters, die man sich durchaus als eine erste Form der modernen Show denken kann, als ein Spektakel des Furchtbaren. Der Delinquent übernahm hier eine absolut symbolische Funktion, die man auch Angstabwehr und Übertragung nennt. Phänomenologisch liegt das auf derselben massenpsychologischen Folie und ist durch und durch archetypisch. Wir reden so oft von Fortschritt und bemerken gar nicht, wie tendenziell regressiv vieles ist, wie groß die Rückfälle in anthropologische Vorstufen einer gebildeten Zivilisation. Und was heute kein Event wird, so sieht es doch leider aus, fällt an die Ränder, kommt abhanden im partikularen Rauschen der Diskurse, stirbt ab. Deshalb jagt ein Festival das andere, weil es die kleine Lesung nicht mehr macht. Die Formate müssen größer und größer werden, um jene allgemeine Überdrüssigkeit und Leere, wie sie von allem Besitz ergriffen hat, überspringen zu können. Mir ist das alles unheimlich und fremd. Und es ist gut, sehr gut, dass es doch immer wieder diese Empfindsamen gibt, die nicht in der Masse erscheinen. Es gibt sie, diese Negation des Negativen, daran halte ich fest. Was auch sonst bliebe übrig.
Hielscher: Ist die literarische Arbeit für Sie von Anfang an ein Muss gewesen? Wie hat sich der vielleicht obsessive Anteil daran Ihnen dargestellt? Wie stellt er sich jetzt dar, in einer Gesellschaft, die alles zulässt und unvorhersehbar belohnt, aber vielleicht nichts davon braucht?
Drawert: Ohne Literatur hätte ich die Zeit bis heute womöglich nicht überlebt. Im Bergwerk eines Textes zu sein ist für mich immer Errettung vor dem Verschwinden im Nichts, vor der Fragwürdigkeit, der Zerbrechlichkeit, der Vergänglichkeit aller Sachen und Dinge. Das kann man politisch ebenso lesen wie ontologisch, lexikalisch wie metaphorisch. Der Text ist ein Parallelkörper, der mir ein Verständnis vom Grund meiner Anwesenheit verschafft, die ich in der Existenz an und für sich nicht erkenne. Das hat mit Belohnungs- oder Bestrafungsreizen noch gar nichts zu tun. Die soziale Dimension, die unabwendbar wird, sobald der Text in Kontakt mit einem Außen tritt, mit einer Öffentlichkeit, die ihn liest und einem Wert zuführt, ist dann das zweite Ereignis, eine Folge. Aber ich würde lügen, wollte ich sagen: Ich schreibe für einen irgendwie gearteten Zweck, um Anerkennung zu erhalten, um die Welt zu verändern, um Geld zu verdienen und weiß der Himmel, was alles noch. Ich schreibe auch nicht, weil ich etwas mitteilen will, was ich für wichtig halte, oder weil ich mir einbilde, ohne mich bleibt die Welt für lange Zeit dumm. Alles das kommt hier und dort gewiss vor, aber es ist keine Urbegründung. Wäre sie das – und damit antworte ich auf den letzten Teil Ihrer Frage –, dann würde ich spätestens jetzt aufhören damit, so an den Rand gedrängt und entbehrlich scheint mir die Literatur geworden zu sein. Und bitte, lassen Sie mich das jetzt nicht mehr erklären. Erlauben Sie mir lieber, mit Kafka zu enden, der in einem Brief an Felice über sich selbst einmal schrieb:
Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.
Lenzburg und Zürich, November 2015
– Kurt Drawert: § 1) Die Würde des Menschen ist.
– Michael Braun: In Rufweite zum Schweigen. Eine Fußnote zu Kurt Drawerts Poetik
– Michael Opitz: Selbst(er)findung mit Vater und Land. Kurt Drawerts Spiegelland
– Stephen Brockmann: Kurt Drawert und die untergegangene DDR
– Stephan Krause: „Dem vom Körper umschlossenen Geheimnis“. Zu Kurt Drawerts Poetik zwischen Körper und Sprechen
– Peter Geist: Linien im zersplitterten Glas. Zu Kurt Drawerts Der Körper meiner Zeit
– Fritz J. Raddatz: Gemälde des Terrors. Kurt Drawerts Roman Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte
– Thomas Irmer: End- und Denkspiele. Zu den Theaterstücken Kurt Drawerts
– Axel Helbig: Sprache als Zivilisationsbefund. Zur Essayistik von Kurt Drawert
– Christian Döring: Eine Reise mit Kurt Drawert – Fremdenführer in die Simultaneität
– Paul-Henri Campbell: Ästhetik als Wandlung der Welt. Über Kurt Drawerts „Schreiben. Vom Leben der Texte“
– Joachim Sartorius: Sonne auf der Glasur
– Jan Koneffke: Im deutschen Paradies
– Kerstin Hensel: gruß ohne punkt und komma
– Jürgen Israel: Drei Gedichte
– Peter Benz: Praeceptor poesis. Einige Bemerkungen zu Kurt Drawerts Darmstädter Textwerkstatt
– Martin Hielscher: Ich glaube, ich glaube an nichts. Ein Gespräch mit Kurt Drawert
– Peter Geist: Auswahlbibliografie
– Notizen
gilt als eine der „wichtigsten und unbestechlichsten poetischen Stimmen des Landes“ (Joachim Sartorius). Sein Schaffen bewegt sich in den Spannungsverhältnissen zwischen dem Begehren des Einzelnen, den Sinnproduktionen über Sprache und Sprechen sowie den gesellschaftlichen Verfasstheiten unserer Zeit. Er brilliert dabei in allen Gattungen: im Gedicht ebenso wie in der Prosa, im Theaterstück wie im Roman und im Essay.
Das Heft unternimmt eine erste umfassende Besichtigung von Drawerts Werk. Neben gattungsspezifischen Analysen enthält es ein unveröffentlichtes Gedicht des Autors, Originalbeiträge ihm nahestehender Schriftsteller und Schriftstellerinnen, ein umfangreiches Gespräch mit seinem Lektor Martin Hielscher sowie eine Auswahlbibliografie.
edition text + kritik, Klappentext, Januar 2017
Barbara Zeizinger: Schreiben als Suche nach dem Verlorenen
fixpoetry.com, 18.5.2017
Es gehört wohl zu den stärksten Passionen junger, selbstbewusster Zeitschriftenmacher, die jeweils amtierenden Literaturpäpste zu grimmigen Bannflüchen zu reizen. Auch im Falle von Heinz Ludwig Arnold, dem Erfinder der Zeitschrift Text + Kritik, kam es zu Verwerfungen, als der junge Germanistikstudent im November 1962 den großen Friedrich Sieburg, seines Zeichens Chefkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um ein existenzsicherndes Inserat für seine neue Zeitschrift anging. „Sie scheinen nachgerade an einem hoffnungslos gewordenen Qualitätsbegriff festhalten zu wollen“, so komplimentierte Sieburg artig den jungen Editor, um anschließend die Peitsche zu zücken: „Sie nennen für die erste Nummer drei Namen, die mir alle drei gleich widerwärtig sind, nämlich Günter Grass, Hans-Henny Jahnn und Heinrich Böll. Das ist … eine trübe Gesellschaft, dem deutschen Waschküchentalent entstiegen und gegen alles gerade Gewachsene feindselig gesinnt.“ Zwei Jahrzehnte später, so behauptet die Legende, war es Sieburgs Nachfolger Marcel Reich-Ranicki, der mit derben Beschimpfungen der „Schweine-Bande“ um „Arnold-Dittberner-Kinder“ nicht geizte.
Der so Attackierte ließ sich nicht einschüchtern. Der damals 22-jährige Arnold setzte in seinen ersten beiden Heften unverdrossen auf seine Hausgötter Grass und Jahnn – und es gelang ihm scheinbar mühelos das, was bei Rainer Maria Gerhardt, dem heute vergessenen Literaturgenie der Nachkriegszeit, noch in astronomisch hohen Schulden und einem tragischen Freitod geendet hatte. Unter dem ursprünglich von Arnold gewünschten Zeitschriftentitel fragmente hatte Gerhardt schon 1951/52 in seinem großartigen literarischen Journal dem restaurativen Nachkriegsdeutschland die Leviten gelesen, war aber an notorischem Geldmangel und ästhetischer Kompromisslosigkeit schon früh gescheitert.
Heinz Ludwig Arnold und seine frühen Mitstreiter Gerd Hemmerich, Lothar Baier und Joachim Schweikart hatten mit Text + Kritik mehr Glück. Das Konzept, sich in kritischen Aufsätzen immer nur einem wichtigen Gegenwartautor zu widmen, schien zunächst nur auf ein germanistisches Fachpublikum zu zielen. Nachdem er aber auf listige Weise beim Chefmanager von HAPAG-Lloyd eine Spende von 1000 DM rekrutiert hatte, begann Arnold mit seinem neuen Literaturblatt von Göttingen aus die literarische Welt zu erobern. Das Debütheft über Günter Grass, ein 32 Seiten-Heftchen, ist noch heute, in stark erweiterter und aktualisierter Fassung, zu haben. Für den Eröffnungsbeitrag, eine „Verteidigung der Blechtrommel“, hatte Arnold den Brüsseler Germanisten Henri Plard gewinnen können, den er während seiner literarischen Lehrjahre als Sekretär Ernst Jüngers kennen gelernt hatte. Auf sein literarisches Adjutantentum bei Ernst Jünger, das von 1961 bis 1963 währte, blickte Arnold später mit einigem Ingrimm zurück, zuletzt in seinem Text + Kritik-Heft zu Jünger, das die schärfste Kritik am Anarchen aus Wilflingen enthält, die jemals aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geübt wurde.
Die Lust an der literaturkritischen Auseinandersetzung zeichnet ja nicht nur das Jünger-Heft, sondern viele andere Projekte der edition text + kritik aus, die 1969 im juristischen Fachverlag Richard Boorberg ein festes verlegerisches Fundament gefunden hatte und dort ab 1975 als selbständiger Verlag agieren konnte. Text + Kritik war nie ein Forum für urteilsschwache Germanisten, die jede interpretative Wendung mit einem Überangebot an Fußnoten absichern, sondern ist bis heute die bevorzugte Schaubühne für philologische Feuerköpfe, die cum ira et studio für oder gegen einen Autor und sein Werk eintreten. So muss jeder Autor, dem die Ehre zukommt, in einem Text + Kritik-Heft analysiert und seziert zu werden, mit kritischen Dekonstruktionen des eigenen Werks rechnen.
Mittlerweile hat die öffentliche Aufmerksamkeit nachgelassen, aber die angriffslustige Essayistik ist auch nach insgesamt 157 Heften das Markenzeichen von Text + Kritik geblieben. In Neuauflagen und Aktualisierungen wurden veraltete Urteile revidiert, beim Wechsel der Denkschulen und Interpretationsmethoden aber auch so mancher Purzelbaum geschlagen. In der 5. Auflage des Ingeborg Bachmann-Heft exponierte sich z.B. eine schrille feministische Literaturwissenschaft, der Sonderband Nr. 100 über „Literaturkritik“ publizierte massive Attacken auf Marcel Reich-Ranicki. Einem euphorischen Sonderheft über „die andere Sprache“ der „Prenzlauer-Berg-Connection“ folgte mit der Nummer 120 alsbald die Selbstkorrektur im desillusionierten Blick auf den Zusammenhang von „Literatur und Staatssicherheitsdienst“. Die subtilsten, stilistisch funkelndsten Schriftsteller-Entzauberungen haben in den letzten Jahren Hermann Korte und Hugo Dittberner verfasst. Über Sarah Kirsch, in der Nummer 101, findet man z.B. die wunderbare Sentenz, die Dichterin schreibe „Gedichte, die durch forcierte intellektuelle Unterbeanspruchung langweilen“. Diesen Königsweg literaturkritischer Unruhestiftung will Text + Kritik nicht mehr verlassen.
Joke Frerichs: Deutsche Zustände
Video Porträt: Ute Döring & Kurt Drawert.
Schreibe einen Kommentar