DAS HANDELN ALS BASIS UND ZIEL DICHTERISCHER PRAXIS
– Zu Volker Brauns Reflexionen über Poesie und Politik. –
Poesie und Politik sind die Gegenstände, von denen Volker Braun hauptsächlich in den Texten handelt, die seine – im engeren Sinne – dichterische Produktion begleiten. Mit Vorbedacht wurde das Verb „handeln“ gewählt, gleichsam in der Manier Brauns, der an den schwierigsten Stellen gern ins doppeldeutige Wortspiel fällt. Es kommt ihm auf Handlungen, nicht auf Meinungen, auf praktisches Eingreifen, nicht auf distanzierte Beobachtung an. Er möchte gern ein Verwandlungskünstler in dem Sinne sein, daß er Texte in Aktionen umformen kann, und dies möglichst ohne die traditionellen Mittel der Agitation, welche – in ,ruhigen‘ Zeiten – dadurch charakterisiert ist, daß die sogenannten Wissenden solange ihr richtiges Bewußtsein in die stummen, kühlen, vorsichtigen Massen tragen, bis diese sich entflammt zeigen, wenn auch womöglich nur für die Länge eines brennenden Streichholzes. Uber das zurückgebliebene Bewußtsein der Massen zu jammern, hält Braun für töricht. Eher sollte man das Zurückbleiben der politischen Massenhandlungen beklagen, nur durch praktisches Mitverfügen im Staat könne das politische Bewußtsein als Teil dieser Praxis sich entwickeln.
Das prekäre Verhältnis von Wort und Tat steht im Zentrum von Brauns Überlegungen. Dabei stößt er rasch auf die Schwierigkeiten, die aus der eingeschränkten Öffentlichkeit in seinem Lande herrühren. Je mehr er emphatisch betont, wie notwendig es gerade für den Dichter sei, zu handeln, und zwar nicht spontan und anarchisch, sondern im Einklang sowohl mit den Massen wie mit dem objektiven historischen Prozeß, desto leichter wird er zurückgeworfen auf den Status eines Intellektuellen, der mit Worten handelt im Sinne eines Anbieters, der auf nachfragende Käufer wartet. Brauns philosophischer Denkstil und seine damit einhergehende anspruchsvolle Diktion führe nicht gerade dazu, daß die Interessenten in hellen Scharen herbeiströmen. In gewissem Sinne bedeutet gerade diese Eigenart, die Stärke und Schwäche dieses außerordentlichen Schriftstellers ausmacht, eine Schutzzone für ihn. Das Ausmaß seiner möglichen Wirkungen erscheint den Herrschenden noch einigermaßen kalkulierbar.
Es soll hier gewiß nicht verkannt werden, daß Braun in der DDR innerhalb des literarischen Milieus und auch im (weitläufiger als in der Bundesrepublik angelegten) Bereich gesellschaftswissenschaftlicher Bildung und Vorbildung Aufmerksamkeit und Wertschätzung genießt. Man muß auch im Sinn halten, daß er unter gesellschaftlichen Bedingungen arbeitet, in denen wachsame Augen auch auf denen ruhen, die, ohne Volkstribunen zu sein, bestimmte Tabus anknacken. So hat Braun seine intensivsten Leser womöglich unter denen, die nach der Vorauslektüre seiner Manuskripte mit ihm darüber handeln, ob diese oder jene Formulierung, dieses oder jenes Gedicht denn nun wirklich nötig seien. Ein nicht zu knapper Anteil Energie muß vom Autor dann dazu verwandt werden, sich nicht zuviel Substantielles abhandeln zu lassen.
Manche Betrachter – und ich schließe mich da ein – waren nicht selten irritiert darüber, daß Braun hin und wieder, wie es schien, abrupt einlenkte oder auch platt Positives verlautbarte, in dem die ,Ausweisworte‘, die Bekenntnisse zur Billigung der Verhältnisse wie gewünscht vorkamen, worüber Braun wie sein verehrter Lehrer Georg Maurer oft selbst spottet. 1972 hat Braun in einem Gespräch mit Joachim Walther auf die Frage, welche Eigenschaften er bei Schriftstellern schätze, lapidar geantwortet:
Unbestechlichkeit und Konsequenz.1
Es wäre billig und unfair, zu unterstellen, Braun rühme hier an anderen, was er an sich selbst leider vermisse. Vielmehr dürfte es Braun um eine realistische, nicht moralistische Konsequenz gehen, um ein Verhalten also, das Flexibilität braucht, um nicht zu folgenloser Sturheit zu denaturieren. Ironische Ausdrucksmittel sind diesem Autor, der das Sprachspiel souverän kabarettistisch wie philosophisch zu handhaben weiß, bekanntlich nicht fremd.
Noch stehe ich über dem Text
Noch ist mir die Maske nicht ins Fleisch gewachsen
Ich kann nicht mehr abtreten, aber ich hab viele Schlüsse
Meine Damen und Herren
Es ist vieles möglich
Ich kann mich verhüllen oder entblößen, wie Sie wollen
„Meine Damen und Herren“, 19642
Angestrengte Selbstkontrolle vorausgesetzt, sind Unbestechlichkeit und taktisches Verhalten durchaus miteinander vereinbar. Wenn Braun mit dem Kopf durch die Wand will, prüft er, an welcher Stelle der Wand dies vielleicht möglich sei, anstatt blind draufloszurennen. Er will mehr als das von Kleinmütigen für möglich Gehaltene, aber nicht das hier und jetzt Unmögliche, und er will es nicht auf eigene Faust, auf Biegen und Brechen. Seine Eingriffe sollen verknüpft bleiben mit dem historischen Prozeß, von dem Hauptweg nicht abweichen, auf dem andere ihre und seine Sache betreiben.
Droht die Gefahr, hiervon ausgeschlossen zu werden, räumt er ein, gibt er nach, auch bis zu dem heiklen Punkt, wo er Meinungen preisgibt. Genauer: Braun meint, sich in diesen bedenklichen Zeiten3 den Luxus von Meinungen gar nicht leisten zu können. Vielmehr biete er, so heißt es im verwirrenden Vorwort seiner Sammlung Es genügt nicht die einfache Wahrheit, Überlegungen zu Handlungen. Aber wo liegt der Unterschied zwischen Überlegungen und fundierten, also begründeten Meinungen? Er bestehe doch nicht auf Worten! fügt er hinzu. Mag sein, daß er nicht darauf besteht, aber auch Überlegungen bestehen wie Meinungen aus Worten. Auch nimmt er für seine Überlegungen keine größere Verbindlichkeit in Anspruch als üblicherweise für bloße Meinungen verlangt werden:
Die Überlegungen sind nicht gemacht, sichere Ansichten zu verbreiten. Der manchmal unerschrockene Ton ist nur ein Indiz für ihre vorläufige Bestimmung. Und selbstverständlich widerspreche ich, wie anderen Leuten, auch mir, und zwar lieber mir.4
Solche Sätze haben es in sich. Der äußeren Form nach stellen sie Plausibilität aus – Feststellungen ohne Wenn und Aber. Das hat Hand und Fuß, soll man denken, solange man nicht anfängt, darüber nachzudenken. Läßt man sich darauf aber doch ein, schaut man hinter die scheinbar einfache Behauptungsstruktur dieser Sätze, finden sich vor allem Fußangeln. Denn hier nimmt ein Autor im Vorwort pauschal zurück, was immer ein bestimmter Lesertypus zurückgenommen zu haben wünscht. Wo ein Aufpasser ihn erwischen und festnageln will, ist er wie der Igel Nummer 2 in dem bekannten Märchen vom Wettlauf mit dem Hasen schon da. Der Dialog mit dem Autor sähe dann so aus: Da fehlt ja der feste Standpunkt. – Weiß ich. – Du bist ja ganz schön frech. – Weiß ich. – Das muß man doch ganz anders sagen. – Weiß ich. – Du widersprichst dir ja dauernd. – Weiß ich.
Wertet man dieses Vorwort als eine Art Leseanweisung für diejenigen, die das Manuskript vor der Drucklegung durchzustudieren haben, also für Zensoren oder für Vorkritiker, wie man in der DDR gelegentlich schamhaft sagt, kann man vor allem eines heraushören: Da es mir nicht um Worte geht, brauchen wir uns um die Formulierungen nicht zu streiten. Da sie ohnehin nur Entwurfscharakter haben, können wir sie doch wohl auch stehenlassen. Da die, Wahrheit ohnehin nicht einfach zu haben ist, müßt ihr nicht denken, meine Thesen seien eherne Inschriften auf einem frisch polierten Stein der Weisen.
Gern kennzeichnet Braun seine Texte als vorläufig. Einen Gedichtband des Jahres 1966 hat er nach einem Gedicht Vorläufiges genannt, und auch sonst kommt dieses Wort häufig bei ihm vor. Das kann nicht überraschen, und der flüchtige Betrachter sieht hier auch kaum mehr als eine Banalität für Dialektiker. So, wie es ist, kann es nicht bleiben. Im Sprachgebrauch der DDR spielt aber auch der Begriff „Vorlauf“ eine große Rolle, etwa wenn für bestimmte Disziplinen ein erheblicher wissenschaftlicher Vorlauf gefordert wird, was heißen soll, daß langfristige Planungen notwendig seien, auch experimentelle Versuche, deren Bedeutung nicht jederzeit für jedermann einsichtig, deren Ausgang ungewiß sein kann.
Die Kategorie des Vorläufigen darf also nicht auf die Gegenbedeutung zum Endgültigen, Resultathaften reduziert werden, es steckt bei Braun hinter der „unerschrockenen Bescheidenheit“ auch ein Stück avantgardistischen Selbstbewußtseins. Vorläufiges – darin sind enthalten: Bewegung, Dynamik, Veränderungswille. Gemeint ist damit nicht nur taktische Besänftigung, die Bereitschaft zu selbstkritischer Abänderung – was schwarz auf weiß dasteht, darf die Vorwärtsbewegung des künftigen Gedankens nicht fesseln. Sondern gemeint ist auch ein Spannungsverhältnis zur Verführung durch Ruhe. In vielen seiner Gedichte bricht dieses Motiv durch, zum Beispiel in „Die Grenze“, „Landgang“, „Lagebericht“, „Der niemals für ein Gefallen gearbeitet hat: Paul Dessau“ oder in „Das gelbe Zimmer“, wo Braun die Befürchtung äußert, er könne sich an seine altvertrauten Gedanken so gewöhnen wie an seine gemütlichen Möbel, die er beim Umzug gewiß mitschleppt:
Und ich fürchte, ich werde den Stuhl
Und den Leuchter oder das Buch
Um mich dulden. Aber aus den Gedanken will ich
Aussteigen, jeden Tag, im Stuhl
Will ich an andres denken, aus dem Buch
Will ich andres lesen (…)5
Das Vorwort zu der Sammlung von Notaten aus den Jahren 1964 bis 1973 schließt mit dem Satz „Die lichten Momente liegen vermutlich dort, wo nach den Handlungen gefragt wird“.6 Auch dies eine vertrackte Hintersinnigkeit. Daß einer lichte Momente habe, wird gern mehr oder weniger scherzhaft von einem gesagt, der ansonsten als leicht verrückt gilt. Der Autor scheint wiederum Nachsicht in Anspruch nehmen zu wollen. Er Wisse schon, könnte dies heißen, daß einer verrückt sein müsse, wenn er unter den gegebenen Umständen (mit Hoffnung auf gesellschaftlichen Erfolg, also auf wirklich bewirkte Veränderung) so Unerhörtes aufschreibe, wie auf den folgenden Seiten des Buchs zu erwarten sei. Wieder wird indirekt bestätigt, was er schon vorher zugab, daß er sich widerspricht (und zwar gern), den Vorwurf also ohne weiteres hinnimmt, sich unklar ausgedrückt zu haben – bis auf die lichten Momente. Nur, daß das ganze Buch den Titel hat Es genügt nicht die einfache Wahrheit, also gerade einen gesteigerten Wahrheitsanspruch anmeldet. Dieser Autor gehört der Zunft der Narren an, die immer schon auf eine besondere Weise von der Wahrheit redeten.
Mit der Wendung von den „lichten Momenten“ stellt Braun sich zweitens in die Aufklärungstradition. Daß es heller werden möge in den Köpfen, war die Maxime. Braun sucht freilich die Beschränktheit einer bürgerlichen Aufklärungsphilosophie dadurch zu übersteigen, daß er sich und anderen eine Situation kritisch vor Augen hält, in der rings um die erleuchteten Köpfe die Welt schön finster bleibt. Deswegen sucht er die lichten Momente mit Handlungen zu synchronisieren. Nur, er ruft nicht zu Handlungen auf, sondern er fragt nach ihnen. Wiederum kann das Paradoxon nicht aufgebrochen werden, daß Handeln Reden vom Handeln bleibt, das wichtigste also weder in noch zwischen den Zeilen untergebracht werden kann.
Daß nicht zu Aktionen aufgerufen wird, hängt mit dem Mißtrauen des Autors gegenüber dem selbstsicheren Gebaren aller Agitatoren und Propagandisten zusammen. Denn für sie ist der Mensch immer noch Objekt der Moral, anstatt Subjekt der Geschichte. Indem zum Beispiel politische Poesie universeller wird, verliert sie ihre besondere agitatorische Funktion. Wird die sozialistische Gesellschaft für die Leute zu ihrer eigenen, hört also die Fremdbestimmung auf, die in der Unterscheidung zwischen führenden Genossen und geführten Volksmassen in den Ländern des sogenannten realen Sozialismus noch immer wirkt, dann wird auch Aufrüttlung unnötig. Braun baut seine Hoffnungen auf die Leute.
Denen braucht man nicht mit Parolen zu kommen, denen braucht man überhaupt nicht zu kommen.7
Übrigens wird auch die soeben behandelte Quintessenz des Vorworts als Vermutung präsentiert. Diese Haltung läßt sich als „unverschämte Bescheidenheit“ charakterisieren. Denn im Lande der immer richtigen Beschlüsse, der festen Standpunkte, der kontinuierlichen Politik, der niemals irrenden Führung wirkt das Beispiel des versuchsweisen Denkens provokatorisch. Alle Zickzacklinien der Politik werden offiziell als gesetzmäßig ausgegeben; besser gesagt: weil die Politik wissenschaftlich und gesetzmäßig ausgeübt wird (wobei gesetzmäßig nicht heißt: streng nach der Gesetzlichkeit, sondern dem historischen Prozeß adäquat), gibt es angeblich überhaupt keinen Zickzack-Kurs. Die Korrektur eines Fehlers erfolgt so meisterhaft, daß es den Zustand vor der Korrektur überhaupt nicht gegeben hat. Brauns Gedicht „Eigene Kontinuität“ geht darauf sarkastisch ein:
1
Während wir beinahe gekonnt
Um die Ecke biegen, erklären wir ruhig
Daß wir die Richtung beibehalten.
2
Bei all den schönen Schritten nach vorn
Behaupten wir standhaft unsre Position.
3
Ohne mit der Wimper zu zucken
Nicht mal augenzwinkernd
Wechseln wir die Sachen
Und bleiben bei unsern Begriffen.
4
Wir lernen dazu
Was wir immer gewußt haben.
(…)8
Meisterhaft setzt Volker Braun die zeitverzögerte Pointe ein.
Wir lernen dazu
deutliche Pause
Was wir immer gewußt haben.
Ähnlich in „Erinnerung an frühe Zeiten“:
Nachdem es heraus war
Daß wir die Widersprüche beherrschen können
Hatten sie noch e i n e n mutigen Wunsch:
Uns
deutliche Pause
Nicht in Widersprüche gestellt zu sehn9
Am Schluß des Gedichts „Landwüst“ dieselbe Pointierung:
Der volle Winkel der Zukunft: gefüllt schon
Deutliche Pause
Ein Streif10
Der Altmeister des deutschen Kabaretts, Werner Finck, war und ist berühmt für den wirkungsvollen Einsatz dieses Mittels in seinen Stotterconferencen. Der philosophische Witz Volker Brauns läßt an solche Verwandtschaft denken, seine verquere Hintergründigkeit verbindet ihn mit Karl Valentin, sein souveräner Umgang mit den Mitteln des listigen Wortschwalls wie des aussparenden Lakonismus verwandelt ihn gelegentlich in einen sächsischen Josef Schwejk. Der Vermittler solcher Haltungen ist natürlich Brecht, der, wie man weiß, Finck, Valentin, Hasek und Clowns sehr schätzte. Der Clown ist für Braun ein sehr normaler Zweibeiner. „Ich kann auf den Haaren laufen oder noch besser / Auf zwei Beinen wie ein Clown“11 heißt es in „Meine Damen und Herrn“, das er als erstes von zwölf Gedichten zwischen die Notate des Bands Es genügt nicht die einfache Wahrheit gesetzt hat.
Auch dieser Titel ist pathetisch und hintergründig zugleich. Es ist alles viel komplizierter, auch die Wahrheit, gewiß. Aber mitgedacht wird doch auch die doppelte Wahrheit oder wenigstens die Wahrheit mit doppeltem Boden. Brecht, auf den Braun sich hier ausdrücklich bezieht, hatte die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit noch säuberlich numeriert, er war auf fünf gekommen. Heute fängt man besser gar nicht erst an mit dem Zählen. Eins aber ist für Braun offensichtlich: Die simple Entscheidungsfrage aus der alten Klassengesellschaft, ob man für oder gegen den Sozialismus sei, trägt zur Lösung der Macht- und Herrschaftsprobleme innerhalb eines sozialistischen Staates nichts mehr bei. Das Feindbild, das zu der einfachen Wahrheit antagonistischer, nur durch Revolution lösbarer Widersprüche gehört, ist jetzt entfallen. Der aufwühlendste Widerspruch sei jetzt der neuartige „zwischen den politisch Führenden (die bewußt die Umgestaltung der Gesellschaft organisieren oder bewußt oder unbewußt hemmen) und den Geführten (die bewußt oder unbewußt die Pläne realisieren oder kritisieren). (…) Es unterscheidet sie nicht der Charakter, kaum der Besitz, aber sehr die Mittel ihrer Macht.“12
Braun fasziniert durch die Fähigkeit, mit äußerster Ernsthaftigkeit schonungslose Lageberichte anzufertigen, und zugleich seine eigene vorlaute Keckheit selbstironisch zu thematisieren. Heinrich Heine ist da ebenfalls nicht weit, und der Gedanke, wie es so einem wohl heute in der DDR erginge. Der Heine-Preisträger des Jahres 1971:
Ich bin mir der Ironie bewußt, die in dem Fakt liegt, daß wir in jedem Dezember einen Heinrich-Heine-Preis verleihen und dabei mancher die Empfänger furchtsam anschaut, ob sie nicht etwa ernst mit diesem Erbe machen.13
Wenn eingangs gesagt wurde, Poesie und Politik seien die hauptsächlichsten Gegenstände von Brauns essayistischen Bemühungen, so mag hinter diesen Plural ein Fragezeichen gesetzt werden. Es scheint doch so, als seien Poesie und Politik für Braun in gewissem Sinne dasselbe, etwas, das, falls man es für begrenzte didaktische Zwecke einmal kurzzeitig begrifflich auseinanderhält, in Wirklichkeit untrennbar verbunden bleibt. Jedenfalls ist es völlig unmöglich, seine Anmerkungen zur Poesie und zur Politik etwa in getrennten Abteilungen eines Bandes unterzubringen.
Das politische Wesen der Poesie liegt für Braun in ihrer möglichen Wirkung, also nicht in einer aufgesetzten Thematik. So wie – nach Brecht – über das Fleisch in der Küche nicht in der Küche entschieden wird, so kann, was die Poesie aufwirft, nicht innerhalb des Poetischen zu Ende gebracht werden. Deshalb muß die Poesie, um verwirklicht zu werden, nach draußen wirken, von handelnden Menschen aufgegriffen werden. Die Metapher ,ans Ende kommen‘, ,zu Ende bringen‘ verwendet Braun dabei gern. Das Mißverständnis, er könnte meinen, im einzelnen Gedicht müsse alles haarklein bis zum Ende gesagt sein, war natürlich leicht auszuräumen. Am ehesten scheint noch die klassische Radikalität gemeint zu sein, bis an die Wurzel der Widersprüche gehen, Beschönigungen vermeiden, das Material aufsprengen usw.
Am Schluß seines Schweriner Vortrags über „Poesie und Politik“ heißt es aber:
Poesie muß ans Ende gehn: das in den Dingen selber liegt. Sie muß aufzeigen oder ahnen lassen, wohin alles führt. Sie kann nur vorwegnehmen, wenn sie für das Wirkliche spricht: wenn sie die menschlichen Möglichkeiten aufspürt; diese sind ihre Möglichkeit. Sie zielt im Grunde auf das Ende aller Politik; indem sie sozialistische Politik betreibt.14
Hier meint Ende eigentlich gerade nicht ,Ende‘, schon gar nicht ,ans Ende gehn‘, sondern nur aufs mögliche, erhoffte, angefangene Ende sehn. Es ist ungenau, das gemeinte Offenhalten der Perspektive, die Erinnerung an den erstrebten utopischen Horizont, wenn auch nur metaphorisch, als ,Ende‘ zu fixieren. Am Schluß aber wird dieser Gedanke noch von der Vorstellung der Aufhebung der Politik durch eine von der Poesie betriebene sozialistische Politik gekreuzt. Das ist zuviel des Guten, zumal das Gegenteil natürlich auf dieser Abstraktionsebene auch ,irgendwie wahr‘ wäre, nämlich die Aufhebung der begrenzte Ziele verfolgenden Poesie durch die voll entfaltete sozialistische Demokratie. Der Schluß des Gedichts „Die Industrie“ deutet dies an:
Schlag das Buch zu. Die Kunst beginnt erst
Wirklich.15
Am überzeugendsten wendet Braun die Metapher vom ,Ende‘ da an, wo sie auf die Dialektik von Anfang und Ende konkret bezogen bleibt, etwa am Schluß des Gedichts auf Karl Marx, in das Originalzitate von Marx und Engels einmontiert wurden, darunter der allen Dogmatikern höchst lästige Leitsatz „an allem zweifeln“. Das Zitat, alle Erfolge seien nur Abschlagszahlungen der Geschichte, fand Braun bei Engels, der damit Erfolge vor Erringung der politischen Macht bezeichnet hatte. Der Dichter weitet die Gültigkeit auf die Zeit danach aus. Damit werden die Raten freilich auf eine noch unbestimmte Endsumme bezogen: die Wirklichkeit ist ein nach vorn offener Prozeß.
Und wie ausgeschlossen, unter uns
Nicht a n a l l e m z u z w e i f e l n. Seither
All unsre Erfolge: n u r A b s c h l a g s z a h l u n g e n
Der Geschichte. Dahin die Zeit
Sich nicht h i n z u g e b e n an d i e S a c h e
Und wie unmöglich, nicht ans Ende zu gehn:
Und es nicht für den Anfang zu halten!16
Hier wird deutlich, daß das wirkliche Ende so weit in der Ferne liegend zu denken ist, daß heutiges ,Ans-Ende-Gehn‘ Anfang bleibt. Das Bewußtsein, am Anfang zu stehen, darf freilich nicht zu der lässigen Nonchalance führen, man habe also viel Zeit für abwartendes Herumwursteln.
Bis eines schönen Jahrhunderts
Fragt mich nicht wie
Der Kommunismus ausgebrochen ist17
Das Wissen vom Anfang, vom kleinen Streif, macht allergisch gegen das vollmundige Lobgedicht, die Feier des Erreichten, die Ruhmrednerei auf Errungenschaften und auf führende Einzelmenschen, die angeblich deren Garanten seien.
Die Anteilnahme erstarrt zu Affirmation. Von der Betätigung bleibt nur Bestätigung. Dasselbe könnte gut ein Stempel erledigen. Das Gedicht wird zum unbewußten Spiel mit der Zufriedenheit, der Trägheit, die allzuleicht zu haben sind.18
Die aggressive Kampfansage gegen die Heilskünstler mit ihren Schminktöpfen, die sarkastische Polemik gegen die Schaumschläger, die die permanente Feier verkünden – das ist ein altes Thema Volker Brauns. Der Verfasser hat an anderer Stelle die Entwicklung des Lyrikers bis zum Erscheinen der chronologisch geordneten Sammlung seiner Gedichte im Leipziger Reclam Verlag 1972 nachzuzeichnen versucht, unter besonderer Hervorhebung der damaligen Reflexionen übers Dichten.19 Hier sei deswegen vor allem auf den Band Gegen die symmetrische Welt von 1974 Bezug genommen.
Der polemische Stoß geht genaugenommen gegen die im Kopf wohlgeordnete Welt, also gegen die falsche Vorstellung von der in Wahrheit harten, kantigen, zerfurchten, unharmonischen Welt. Wobei die kleine Welt DDR sich in manchen der dort tonangebenden oder wenigstens begleittonangebenden Köpfe so symmetrisch wohlgestaltet ausnimmt wie der damalige Kosmos in den Hirnen deutscher Idealisten. (Der Titel des Gedichtbands verdankt sich einer Briefstelle Hölderlins.) Ja, manche Status-pro-Marxisten haben deren Position auf wunderbare Weise überwunden. Seit die Hegelsche Dialektik durch Marx vom Kopf auf die Füße gestellt wurde, habe, so glauben sie, ihr harmonisches Kopfgefühl von Welt, vom eigenen Lager sozialistischer Verfaßtheit, automatisch ein wirkliches Korrelat. Deswegen bleibt die Kritik an den heimischen Harmonisierern aktuell, die die gegenwärtige DDR als Spitzenleistung einer heute möglichen gesellschaftlichen und politischen Organisation des Bestehenden ausgeben möchten. Sie streifen ein dichtes Netzwerk von beschwichtigenden und schönfärberischen Formeln über die Verhältnisse und suggerieren sich dabei, soweit sie guten Glaubens sind, womöglich noch, die erkennbare Wirklichkeit erkennbarer zu machen. Ihnen gegenüber nimmt Braun weiterhin eine entschiedene Gegenposition ein.
Er bleibt beim alten Thema, der noch immer riesigen Entfernung zwischen dem unverzichtbaren Anspruch auf ein im vollen Sinn menschenwürdiges Leben („Das meiste / Ist noch zu erwarten“]20 und einer kleinlichen Realität, die den mit beiden Beinen fest im Fundament stehenden Praktiker einlädt, sich mit erheblich reduzierten Erwartungen in ihr einzurichten. Erstaunlich ist, daß der Autor nun nicht etwa schwächliche Varianten oder müde Selbstplagiate liefert. Er gehört nicht zu jenen, die einfach das Thema wechseln, wenn Schwächen der eigenen Position vergessen gemacht werden sollen. Seine Schwierigkeit lag darin, den Weg beschreibbar zu halten, der aus den Einschnürungen und Verengungen herausführen sollte.
In früheren Arbeiten hatte er geschwankt zwischen moralischen Appellen an den Mut und das Selbstbewußtsein der einzelnen, zwischen Anrufungen der historischen Notwendigkeit und pathetischen Übersteigerungen, die auf die dynamische Kraft wach gebliebener oder wach gewordener Volksmassen setzten. Auf den privaten, rücksichtslosen Ton der frühen „Provokation für mich“ setzte er die öffentliche Diktion eines Wir-Kollektivs, in das er seine Individualität einband, in dem Zyklus „Wir und nicht sie“. Als Intention des letzten Bands, Gegen die symmetrische Welt, hat er selbst genannt, diese abstrakte Öffentlichkeit wieder zu „verpersönlichen“.21
Dabei spielte auch die Erfahrung eine Rolle, wie das sozialistische Establishment seine Kritik der eigenen Rechtfertigungsideologie anverwandelte. In dem Gedicht „Schauspiel“ etwa hatte Braun in präsentischem Tempus eine ziemlich ferne Zukunft ausgemalt, hoffend, jeder Leser, auch der hier und heute schon satte, privilegierte, werde erkennen, daß hier ein schöner Kontrast zur wenig erbaulichen Gegenwart ausgemalt werde:
Wir lassen uns nichts mehr vormachen.
Wir sitzen nicht stumm mit glotzenden Augen.
Wir trommeln nicht Beifall auf die Folterbänke.
(…)22
Diese Behauptungen wurden, wie Braun selbstkritisch konstatiert, gern und ungeniert für bare Münze des Tages genommen, die Provokation stürzte ab in die Idylle.
Die neue Gesellschaft, ich müßte es mal wissen, kompensiert Literatur noch in der selbstgefälligen Weise, die die zuläßt. Sie läßt sich nicht Utopie als Kritik anbieten; sie mißversteht sie, in ihrem neuen verschwollenen Selbstgefühl, als Gegenwart, nämlich als belobte.23
Rezipiert wurde das Gedicht wider alle Intention als „rotgestrichne Hermetik“,24 wie Braun an anderer Stelle die poetische Lobrednerei nennt, wobei das Hermetische nicht die etwaige Unverständlichkeit meint, sondern das Verbergen der widersprüchlichen Realität.
So hat Braun seine Diktion etwas zurückgenommen, ohne Abstriche in der Sache zu machen. Er erinnert daran, daß es überhaupt Ziele gibt – außerhalb der täglichen Planerfüllung und der gewöhnlichen Routine. Das kann nicht alles sein25 ist eine Schlüsselzeile des Bandes. Wörtlich kommt sie mehrfach in „Allgemeine Erwartung“ und im „Revolutionslied“ vor, zwischen den Zeilen steht sie beinahe überall.
Diese Erkenntnis wird, so erhofft Braun, die Volksmassen motivieren, ihre Kraft als subjektiver Faktor in den Geschichtsprozeß einzubringen, der Lust auf mehr Verfügungsgewalt im Staat nachzugeben, das praktische Eingreifen zu lernen, die politische Masseninitiative zu entwickeln. Hier rührt Braun an die heilige Kuh des sogenannten demokratischen Zentralismus, die bequeme Hohlform, in die die Bürokratie sich verkrochen hat. Man versteht, daß der Autor an diesem neuralgischen Punkt sehr allgemein bleibt:
Die Arbeiter als K l a s s e sind am stärksten an Veränderungen interessiert, und das w i r d zu e t w a s f ü h r e n.26
Der Literatur stellt Braun die Aufgabe, sich in diesen Prozeß einzumischen, weil sie nur so vermeiden könne, als Garnierung mißbraucht zu werden.
Und welchen Geistes denn sollte sozialistische Dichtung sein als des jener Sätze Marx’, die ihren Sinn für die b e g o n n e n e n Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht verloren haben: „Proletarische Revolutionen… wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche…“27
Braun setzt die Stelle aus Marxens Schrift über den achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte an einen exponierten Platz seines Essays über „Politik und Poesie“. An eben dieses Marx-Zitat erinnert auch ein vom 17. November 1976 datierter Brief an die Regierung der DDR, dessen beide Anfangssätze so lauten:
Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter – das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes aus Marxens „18. Brumaire“, demzufolge die proletarische Revolution sich unablässig selbst kritisiert, müßte im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können.28
Einer der ersten Unterzeichner dieser Zeilen war der unbequeme Dichter Volker Braun.
Manfred Jäger
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Inhaltsverzeichnis
– Volker Braun: Gedichte
– Manfred Jäger: Das Handeln als Basis und Ziel dichterischer Praxis. Zu Volker Brauns Reflexionen über Poesie und Politik
– Heinrich Vormweg: Provokation für alle. Einige Anmerkungen zu den Stücken Volker Brauns
– Klaus Schuhmann: Anmerkungen zu Volker Brauns Guevara oder der Sonnenstaat
– Heinz Klunker: Tinka – ein gesellschaftliches Experiment. Anmerkungen zur Rezeption in beiden deutschen Staaten
– Hanno Beth: Die Ver(w)irrungen des Zöglings Karin. Zu Volker Brauns Erzählung Unvollendete Geschichte
– Winfried Hönes: Bibliographie Volker Braun
– Notizen
Beschreibung (zur Neufassung)
Ob koloniale Raubkunst im Humboldt-Forum, Corona-Pandemie oder Flüchtlingspolitik – wie kaum ein anderer beobachtet Volker Braun seine Gegenwart, die er durchforstet, angreift, deren literarische und kulturelle Traditionen er aufzeigt, ohne je die Hoffnung auf Veränderung aufzugeben.
Volker Braun (*1939) ist noch immer einer der maßgeblichen und produktivsten deutschen Autoren der Gegenwartsliteratur. Während sein mannigfaltiges Werk weiter wächst, ermöglichen Archivmaterialien neuerdings ein erweitertes Verständnis seines künstlerischen Schaffens.
Die Beiträge der Neufassung widmen sich dem Werk und Wirken Volker Brauns vor allem seit den 1980er Jahren und nehmen aktuelle Perspektiven der Forschung ein: Sie lesen Bekanntes in neuen Konstellationen, stellen Brauns Werk in intermediale und internationale Zusammenhänge und konturieren Formen seines Schaffens, die erst in den letzten Jahren in den Fokus geraten sind – von den autobiografischen Schriften bis zu den Lesespuren in seiner Privatbibliothek. In allen Facetten seiner literarischen Produktion zeigen sich das kritische Bewusstsein und der ausgeprägte Gestaltungswille des Autors im Zusammenspiel von Kunst, Politik und Gesellschaft.
edition Text + Kritik, Ankündigung
Fakten und Vermutungen zu TEXT+KRITIK
UNTERWEGS
Für Volker Braun
Wen die Unordnung
Bis auf die Knochen plagt
Der sucht wie ich
Die Symmetrie geordneter Verhältnisse
Wer sich gefangen fühlt
Im Netz der Spinne-Symmetrie
Der sucht mich
Läuft mir entgegen
In jene Welt von der ich
Weglaufe
Wir begegnen uns unterwegs
Wir fallen uns in die Arme
Adel Karasholi
In der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik sprach Volker Braun am 9.12.2013 in der literaturWERKstatt berlin mit Thomas Rosenlöcher.
Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.
Die Geschichte macht keinen Stopp von Peter Neumann. Ein Besuch beim Büchnerpreisträger Volker Braun, der den Weltgeist immer noch rumoren hört.
Zum 80. Geburtstag von Volker Braun:
Katrin Hillgruber: Der ewige Dialektiker
Der Tagesspiegel, 5.5.2019
Rainer Kasselt: Ein kritischer Geist aus Dresden
Sächsische Zeitung, 7.5.2019
Hans-Dieter Schütt: Die Wunde die bleibt
neues deutschland, 6.5.2019
Cornelia Geißler: „Der Osten war für den Westen offen“
Frankfurter Rundschau, 6.5.2019
Helmut Böttiger: Harte Fügung
Süddeutsche Zeitung, 6.5.2019
Erik Zielke: Immer noch Vorläufiges
junge Welt, 7.5.2019
Ulf Heise: Volker Braun – Inspiriert von der Widersprüchlichkeit der Welt
mdr.de, 7.5.2019
Oliver Kranz: Der Schriftsteller Volker Braun wird 80
ndr.de, 7.5.2019
Andreas Berger: Interview zum 80. Geburtstag des Dresdner Schriftstellers Volker Braun
mdr.de, 7.5.2019
Fakten und Vermutungen zu Volker Braun + Instagram + IMDb + Linkliste + KLG + PIA + DAS&D + Archiv 1 & 2 + IZA 1 & 2 + Kalliope + Georg-Büchner-Preis 1 & 2 + Anmerkung zum GBP
Porträtgalerie: akg-images + Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Autorenarchiv Susanne Schleyer + Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK + Dirk Skibas Autorenporträts + Galerie Foto Gezett + IMAGO + Keystone-SDA
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