DIE LÄNDER ÄHNELN SICH, DIE INDUSTRIEN
Verfallen still verkabelt in Gesänge,
Berauschen sich an der Belegschaftsstrenge,
Das Klima wird belauscht in Hierarchien.
Die Zellen kriminell, im Osten waren
Verfolgungsangst und Not elementar,
Das Niederhalten von Gedichten klarer.
Zur Freude fehlt nur altes Drohgebaren.
Gedichte zählen zu den Abhördaten.
Auf engstem Raum macht sich Gesellschaft breit
In einer Sprache, die sich göttlich sperrt.
Ich hätte schießen können und verraten,
In keinem Land war ich dazu bereit.
Die Treue, nein zu sagen, war nichts wert.
virtuose, schlaue, hundsgemeine, phantastische, eigenwillige und zuweilen umwerfend komische Verse, die sich so gar nicht einfügen wollen in die zeitgenössische Lyriklandschaft. Weil sie ganz bei sich sind. Und weil sie glücklicherweise alles vermissen lassen, wofür man in den vergangenen Jahren gern Preise ausgereicht hat: ausgestellte Bildung, das clevere Jonglieren mit medialen Diskursen, vorgetäuschte Weltläufigkeit. Dieser Auswahlband versammelt Thomas Kunsts schönste Gedichte aus den Jahren 1984 bis 2014 – zum einen, weil ein Großteil der Bände seit Jahren nicht mehr lieferbar ist, zum anderen weil es an der Zeit ist, das Werk dieses Ausnahmedichters tatsächlich als Werk zu betrachten. Vor allem aber, weil unsere blasse Instagram-gefärbte Gegenwart diese Gedichte dringend nötig hat: ihre Unbedingtheit und ihren gerechten Zorn, ihre Demut vor dem Einfachen, Guten und Schönen, ihr Insistieren auf der Körperlichkeit von Erfahrung, ihre Formstrenge und ihre Lässigkeit. Nie gab es ein schöneres „Gift gegen die Mickrigkeit“ (Feridun Zaimoglu).
Zu Thomas Kunsts 50. Geburtstag
Edition Azur, Ankündigung
Mein erstes Gedicht schrieb ich mit siebzehn Jahren. Ich langweilte mich, hatte Winterferien und schrieb ein Sommergedicht: („du tauchtest deinen körper in honig, als ich dich jenseits des sandes sah…“) Im Laufe dieses Gedichtes sammelte der Gedicht-Erzähler dann sogar noch „Schmetterlingsflügel für ihre Kniekehlen.“ Ich muß gestehen, daß ich mein erstes Gedicht gleich für ein sehr enormes Gedicht hielt. Gottseidank. Bis zu diesem Zeitpunkt in den Winterferien hatte ich mich ziemlich lustlos mit den Musikinstrumenten Geige, Bratsche und Baßgitarre rumgeplagt. Ich hatte das Gefühl, ich müsse unbedingt Musiker werden. Aber meine extreme Faulheit stand dem im Wege.
Nun hatte ich also mein erstes Gedicht fertig, war sehr stolz darauf und freute mich darüber, daß der „Instrumentenwechsel“ von der Musik zur Sprache so mühelos gelungen war. Ich spielte damals in einer Band in Stralsund, Tabula Rasa. Wir waren eingeladen, eine Lesung von Uwe Lummitsch musikalisch zu begleiten. Es war 1981. Wir trafen uns jetzt jeden Mittwoch bei Lummitsch im Behindertenwohnheim, er litt an Kinderlähmung und saß im Rollstuhl. Wir tranken Rotwein, hörten Kate Bush, Mikkis Theodorakis und Pankow. Der Stralsunder Lyriker las uns Gedichte von Vallejo, Ritsos, Eluard und anderen vor. Ab da an war es vorbei: ich wollte, mußte und durfte nur noch Dichter werden: ja. Ich zeigte ihm meine ersten Gedichte. Lummitsch war mein wichtigster Freund in dieser Zeit und er war es auch, der mich ermutigte, niemals mehr damit aufzuhören. Er schrieb mir in seinen Gedichtband Mondlandung (1986, Mitteldeutscher Verlag) die Widmung:
Für Thomas, den Dichter der Zukunft.
Lummi starb 1988 an den Folgen einer Alkoholentziehung.
Meine ersten beiden Lehrmeister am Anfang der achtziger Jahre waren Paul Celan und Georg Trakl. Ich schrieb am Tag mindestens fünf bis zehn Gedichte, Gedichte, die ich selber nicht verstand. Das hielt ich für die größte intellektuelle Leistung zu dieser Zeit. Besonders Celans Komposita-Bildung hatte es mir angetan. Allerdings war so ein wunderbares Wort wie „Enzianvergessenheit“ von Friederike Mayröcker in meinen Gedichten nie dabei. Als meine Tochter geboren wurde und ich mit Windelwaschen, Breikochen und ähnlichen Dingen beschäftigt war, nur die zwei Stunden am Tag zur Verfügung hatte, in denen sie schlief, veränderten sich meine Gedichte allmählich, waren nicht mehr so idiotisch hermetisch und so gedanklich belanglos. Als sie dann zeitig sprechen lernte, war es mit dem Zauber von Celan und Trakl erstmal vorbei. Auf einmal ging es mir um mehr Klarheit und unmittelbare Authentizität im Gedicht.
Ich empfand es als sehr einfach und befreiend, in der DDR Gedichte zu schreiben, Landschaftsmalerei und Sehnsucht. Die Dampfer nach Hiddensee. Für mich damals die entfernteste Insel der Welt. Von Uwe Kolbe, den ich in meiner Jugend mit am meisten bewunderte, lernte ich, was ein Akrostichon ist. Diese Form der indirekten Botschaftsübermittlung schätzte ich wegen ihrer konspirativen, geheimnisvollen Eleganz. Ich schrieb also ein Gedicht über eine Flucht mit einer Luftmatratze nach Dänemark, und wenn man die Anfangsbuchstaben von oben nach unten las, ergab das den Satz:
Komm gut heim.
Mehr politische Aktivitäten gibt es nicht zu berichten. Wer weiß, ob ich, wenn ich in Köln aufgewachsen wäre, heute überhaupt Gedichte schreiben würde. Inzwischen denke ich aber, daß das alles mit der DDR und der Bundesrepublik nichts zu tun hat, sondern mit der Leidenschaft von poetischen Einzelsprachen, von welchem Punkt aus auch immer. Der Zusammenbruch meines Landes hat mein Schreiben kaum berührt, weil meine hauptsächlichen Themen wie: Mann und Frau, Scham, Sehnsucht und Begehren davon unbeeindruckt blieben. Im Koran ist der Satz zu finden:
Vom langen Betrachten des Meeres kommt noch kein Gewinn.
Ich beschrieb die DDR mal als ein „umzingeltes U, nur nach oben geöffnet“: hatte dabei aber völlig vergessen, daß natürlich gerade das Meer, die Ostsee, wenn ich vor ihr am Ufer stand, das Zeug dazu hatte, mir das Gefühl zu vermitteln, daß in dieser Richtung niemals Zäune auftauchen könnten oder extrem lange, aneinandergekettete, seitliche Schiffe, die Rümpfe dann natürlich bis runter, auf den Meeresboden. Ich wollte die DDR bis zum Ende nicht verlassen, Ich habe dort aus Langeweile angefangen, Liebesgedichte zu schreiben, Musik zu machen, Wein zu trinken, den Norden zu lieben: alles Dinge, die mir bis heute treu geblieben sind.
Um 1985 herum begann ich, die Texte zu schreiben, zu denen ich auch heute noch stehen kann. Ich hörte zum ersten Mal Gedichte von Thomas Brasch und Nicolas Born, zwei Dichter, die ich immer noch verehre. Je mehr Gedichte ich in dieser Zeit dann las, umso mehr wollte ich auch jemand werden, der ohne Poesie im Leben nie mehr richtig zurechtkommen würde. Bis aus meinen jämmerlichen Celan-Kopien der Anfangszeit wirkliche Gedichte wurden, vergingen wohl noch etliche Jahre. Als wenn diese Art von übertriebener hermetischer und nur anempfundener Dichtung die Geschlossenheit eines Systems wie der DDR brauchte. Als dieses Land nicht mehr existierte, war es mit solchen Texten dann langsam grundsätzlich vorbei. An die Stelle von Wörtern wie Wolkengebetsauge und Mandelblut traten plötzlich Zetkinpark und Otchanganariva. Ich hatte mein Meer am Ende der achtziger Jahre in Gedanken mit nach Leipzig genommen. Daß mich mal ein Wort wie „Fremdlingin“ von Georg Trakl so derart faszinierte, kann ich heute nicht mehr nachvollziehen. Celan ist für mich in weite Ferne gerückt. Meine DDR war die Ostsee, und die war nie tief. Keine Zäune und Barrieren mit Fähnchen, keine aneinandergeketteten, seitlichen Schiffe am Horizont, ihre mächtigen Rümpfe hätten natürlich den Meeresboden berührt. Es gab kein Durchkommen. Aber selbst das reichte mir völlig.
Als in Leipzig die Menschen 1989 auf die Straße gingen, wollte ich gerade meinen ersten Roman schreiben mit dem Titel: Die Ernennung der Jugend zum Schlaf. Zum ersten Mal hatte ich ein Gefühl von Heimat-Identität, zum ersten Mal merkte ich, daß ich nicht mehr so unempfindlich weiterschreiben konnte wie vorher. Sehnsucht und Wut, Melancholie und nördlicher Trotz stellten sich bei mir ein. Was hatten Gedichte auf einmal mit Solidarität und Gerechtigkeit zu tun. Nur die Hauptdarsteller, die Männer und Frauen habe ich nie ausgewechselt, in all ihren Süchten. Was für eine verwilderte Zeit für Gedichte. All die bestandenen Abenteuer zwischen Selbstmitleid und ausbleibender Anerkennung. Bis heute halte ich mich sehr mit poetologischen Äußerungen zurück, ich kann dieses Gefasel darüber, wie und was ein Gedicht heute zu sein hat und welche zentralen Dinge darin vorzukommen haben, nicht ausstehen. Ich habe immer gesagt: lieber die Schnauze halten und bessere Gedichte schreiben. Aber man hat heute größere Chancen, vom Literaturbetrieb wertgeschätzt zu werden, wenn man bildungsgesättigte, traditionsbemühte, wissenschaftsanbiedernde und dechiffrierbare Themen verhandelt, als sein ganzes Leben lang nur Liebesgedichte und Tiergedichte zu schreiben. Ein Gedicht ist für mich ein Gedicht, wenn mich die gewöhnlichsten Dinge in ihm auf das Heftigste irritieren. Nüchternes Metapherngeflimmer in beruhigter Normalsprache, die blinkt. Ich war nie der Auffassung, daß wir hier in Deutschland in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren über eine unverwechselbare, großartige ideen- und sprachbesessene Lyrik verfügen. Es gibt immer zu viel Gerede über zu wenig Gedichte, bis auf wenige Ausnahmen, sehr wenige. Unbestechlich und zeitgeistresistent zu sein, ja, das hat was mit unbedingter Treue zu tun, fernab von Kalkuliertheiten unbeirrbar zu bleiben. Mir fehlen die Ausreißer, die Widerspenstigen, die kühnen Sinnlichkeitsgaukler. Mir fehlt so oft der Übermut in Gedichten, Ich vermisse die groben Frechheiten, den elementaren Dreck, die groben Feste der Lakonie, der barbarischen Liebe und der dreisten Wiedererkennung von Einzelkämpferschriften. Mehr verlange ich doch gar nicht. Aber wenn gar nichts mehr geht, bleibt die Musik.
Thomas Kunst, Nachwort
– Der Leipziger Dichter Thomas Kunst präsentiert ein Best-of. –
Liegt es am unaufgeregten Parlando seiner Verse, dass Thomas Kunst nach 30 Jahren literarischer Präsenz noch immer nur wenigen bekannt ist? Der 1965 in Stralsund geborene, seit 1987 in Leipzig lebende Dichter, Romancier und Musiker hat aus seinen acht Lyrikbänden nun ein „Best-of“ gefiltert, in dem seine unverwechselbar melancholische Melodie aufs Schönste zu hören ist. Teils absurde Titel ziehen den Leser sofort hinein: „Man weiß nie wie alles kommt, aber“ oder „Ich bin mit meiner Ameise gegen Ezra Pound angetreten“.
Der Band enthält Langgedichte, ungebundene Verse in brillanter Kürze und exakt gebaute Sonette mit überraschenden Reimen. Immer geht es um Existenzielles. Kunst sinnt dem Thema nach, „wie es geht, nicht unterzugehen“. Er spricht von Liebe und Tod, dem „Überstehen“ von Grenzen, von Vergeblichkeit, Begehren und Einander-Verfehlen und vom Vermissen. Und er übt sich im leicht ironischen bis kräftig satirischen Umgang mit Unzulänglichkeiten.
Die Gedichte sind nicht monologisch, sondern dialogisch angelegt. Angeredet wird ein Du, das der Leser sein kann, der Autor selbst oder eine der Figuren, die seine Verse bevölkern: Meeresküstenbewohner, Trucker auf nordamerikanischer Ice Road, ein Gastprofessor in Südkorea, ein Entwicklungshelfer auf Mombasa Island. International ist die Besetzung, doch selbst bei überbordend Narrativem geerdet im Sozialen. In allen Rollen aber scheint das Ich unbekümmert zu scheitern, nur als Bewohner eines Dinosaurier-Hauses im Naturreservat Wye Valley behält es den Überblick. Vater, Mutter und Kinder vagabundieren durch die Verse, vor allem aber Frauen, mit denen Harmonie dauerhaft tragikomisch misslingt. Den Leser vergnügen Flüge im Heißluftballon und Landschaften mit seltsamen Tieren.
Das Ganze ist nicht jugendfrei, denn es wird – sparsam, aber wohlplatziert – mit saloppem erotischen Vokabular jongliert, reichlich Schnaps getrunken und mit literarischen Geistesverwandten angestoßen. Unter ihnen befinden sich Dichter wie Nicolas Born, Heiner Müller, Jörg Fauser, Ulrich Zieger und Wolfgang Hilbig. Letzterem hat er das Gedicht „In Deutschland gibt es keine Dichter mehr“ gewidmet.
Wenn Kunst im Nachwort behauptet, er halte sich mit poetologischen Äußerungen zurück, ist er ein Schelm. Denn immer wieder greifen seine Gedichte in literarische Diskurse ein. Sie erkunden das Wesen der Poesie als Kommunikations- und „Schutzraum“, etwa in „Wenn ich jetzt sterben würde“, einem tröstlichen Gedicht über den Tod. Gegen jede leidenschaftslose, verkopfte Poesie setzt er die „mutwillige Schönheit der Gedichte. Und den naiven / Reichtum an Beziehungstrost und Wut“.
– Das Wörtchen „Aber“ feiert rauschende Feste: Der Leipziger Dichter Thomas Kunst grüßt aus dem Untergrund. –
Diese Gedichte schöpfen aus den Verrücktheiten des Lebens. Sie entwerfen eine andere Wirklichkeit, indem sie alltägliche Dinge, Figuren und Verhältnisse zu fiktiven Gegenwelten neu ordnen. Sie erkunden Möglichkeiten, die im Glücksfall überraschend absurd erscheinen und sich doch nur um eines drehen:
Wie das geht, nicht unterzugehen
Diese Sentenz aus einem Gedicht des 1965 in Stralsund geborenen, seit 1987 in Leipzig lebenden Thomas Kunst fasst die existenzielle Grundierung seiner Romane, Erzählungen, auf CD gebrannten Rhythmen aus Wort und Musik zusammen. Vor allem aber intoniert sie den Subtext der aus acht Bänden ausgewählten Gedichte. Sie könnte über diesem Best-of aus dem nunmehr dreißigjährigen Schaffen des Dichters stehen.
Nichts in der gegenwärtigen Lyrik ist kommunikativer als die auf den ersten Blick eingängigen Sätze, die schon in den Überschriften den Leser in den Sog der Verse ziehen: „Hilde ist bestimmt gar nicht nach Bonn gefahren“, „Ach wäre ich nur an der See geblieben“, „Du wirst doch jetzt nicht etwa traurig werden“, „Ich lebe mit einer Spinne zusammen“. Das weckt Neugier auf die zwischen Tragik und Komik balancierenden Episoden und Dramen, deren Verläufe in den Versen festgehalten sind. Der Sprecher des Gedichts gesteht unerfüllbare Wünsche und gibt unlösbare Rätsel auf.
Die Langgedichte des Thomas Kunst kommen in einem unaufgeregten Parlando daher, das fabulierend auf das Subversive der Wortfolgen setzt und zum Widerspruch herausfordert. Zwischen den lässig gestreuten Aussagen feiert das „Aber“ ein Fest. Dabei sperren sich die Gedichte gegen ein schnelles Einverständnis mit dem, wovon sie bildhaft erzählen: kleine Geschichten über Liebe und Tod, Familie, Einsamkeit zu zweit und durch Distanz wachsende Nähe. Sie sprechen von Sehnsucht und Begehren, vom Vermissen und Einanderverfehlen, vom Scheitern und von Abenteuern im Heißluftballon, am eindringlichsten aber vom „Überstehen von Grenzen“. Wo Kunst die ehrwürdige Form des Sonetts verwendet, klaffen zwischen Inhalt und Form Abgründe, die zum Spielraum für Ironie und subtile Satire werden. Von den hintersinnigen Sarkasmen sind mir die kabarettreifen am liebsten:
Wozu noch Bücher, es gibt Blumenzwiebeln
Oft führen Versbrüche jegliche Zustimmung ad absurdum. Angeredet wird ein Du, das der Leser sein kann, der Autor selbst oder eine Figur im Text, eine Frau, eine Geliebte. Hier ist das Gedicht Kommunikationsraum und Provokation zugleich. Der Dichter hält poetische Zwiesprache mit anderen seiner Zunft: Querdenker und Unbequeme, die gleich ihm ähnlich leidenschaftlich und zornig waren und ähnlich süchtig, nicht nur nach klarer Sprache: Nicolas Born, Heiner Müller, Thomas Brasch, Gaston Salvatore, Wolfgang Hilbig, Jörg Fauser. Sie alle haben gesellschaftliche Utopien im literarischen Negativ entworfen und gehören – jeder auf andere Weise – zu dem, was manche Opposition oder „Underground“ nennen.
Gedichte zählen zu den Abhördaten.
Auf engstem Raum macht sich Gesellschaft breit
In einer Sprache, die sich göttlich sperrt
(„Die Länder ähneln sich, die Industrien“).
Zorn, Alkohol und andere Drogen gehören zu diesen Künstlerexistenzen. Kunsts vitales Kopfkino erscheint nicht als experimentelle Versuchsanordnung, sondern als ureigene Daseinsweise wider alle Vernunft. Unbeirrt melancholisch streift sein Alter Ego durch nahe und ferne Orte: Rom und Korsika, Amerika und Brandenburg, bevorzugt aber Landschaften am Meer.
Obwohl Kunst im Nachwort behauptet, sich „sehr mit poetologischen Äußerungen zurückzuhalten“, sind seine Gedichte voller Poetologie. Als Satiren auf den Literatur- und Medienbetrieb und auf Anpassungsstrategien von Schriftstellerkollegen zieren sie etliche Verse. Manchmal spielt Kunst ganze poetologische und gesellschaftspolitische Diskurse durch. Da geht es nicht nur um „Einzelbaumtrotz“. Er wendet den Singsang der beliebigen Aufzählung aus Inger Christensens det / „Es gibt“ ins Wesentliche und für ihn elementar Wichtige: die Schwester, die Kinder, Freunde, Musik und Schnaps und natürlich das Schreiben.
Das Gedicht ist aber nicht nur Kommunikations-, sondern auch „Schutzraum“. In „Wenn ich jetzt sterben würde“, einem ernsten, tief berührenden Gedicht über den Tod, betont er, dass nichts von Nutzen wäre „für den Abgang in die Wildnis“. Nur Gedichte erwägt er mitzunehmen, – und Gesicht und Haar der Geliebten – aufgehoben im Gedicht. Hier hat der Schutzraum die Form eines Sonetts, ebenso wie in „Ich will Gedichte, die das Land einengen“.
Dieses Gedicht ist Heiner Müller gewidmet. Es fasst das poetische Credo als „stur und lichterlos die Sprache nutzen“ zusammen, was für Kunst bedeutet, auch Elemente des saloppen oder vulgären Teils des Wortschatzes, speziell aus dem erotischen Bereich, sparsam, aber wirkungsvoll zu platzieren, Müller kannte sich da aus, vor allem aber Bertolt Brecht. Thomas Kunst balanciert mit drastischem Vokabular zwischen Trivialparodie („Die Liebe geht mit unsichtbaren Titten“) und Tragikomik, etwa wenn er im Schlussgedicht „Ich würde gern als Asche auf die Meere“ mit bewusst eingestreutem Fauxpas angesichts des Todes provoziert. Ein makabrer Männerwitz, der auf den „Aufschrei“ der Weiblichkeit zielt?
Ein Schelm, wer da den Autor als verbalen Exhibitionisten verkennt. Frauenfeindlich scheint das nicht, aber ganz den traditionellen Geschlechterrollen von männlicher Dominanz und weiblicher Unterwerfung verhaftet. In seinem Nachwort schreibt Thomas Kunst:
Ein Gedicht ist für mich ein Gedicht, wenn mich die gewöhnlichsten Dinge in ihm auf das Heftigste irritieren.
Es ist ein spannendes Vergnügen, den Irritationen in diesen Gedichten nachzugehen.
Thomas Kunst, Deutschlands bester und verkanntester Dichter, wohnt in einem ehemaligen Gesindehaus am Bahndamm. Wäscheleine. Im Nachbargarten schreien die Pfauen, der Poet stapelt in der Erdmulde Holzklötze und Zweigstücke zum Haufen. Ist dies die Stunde, da ihm die Anfangszeile eines Poems einfällt? Thomas Kunst ist gewaltiger. Er ist das Gegenteil, die Gegenwelt, die Gegengröße. Die fabelhaften Mädchen und Jungen unserer Tage schreiben mit gut Glück, mit Spucke und geliehenen Bildern recht nette Strophen hin. Sie wollen auf kurzer Strecke siegen. Kunst dichtet. Er dichtet nicht das Leben nach, er kopiert nicht, ein bisschen von allem gibt es bei ihm nicht. Er ist in seinen Langpoemen eine Naturgewalt. Der herablassende Ton der Lyrikkritiker verblüfft: Wenn sie denn mal alle zehn Jahre über seine Gedichte befinden, höhnen und spotten sie. Weshalb?
Sind die Welten, die Thomas Kunst leichthändig zeichnet, beängstigend, weil sie sich der klein geraspelten Akademikerlyrik verweigern? Was nützt dem Dichter der posthume Ruhm? Ginge es gerecht zu im Kulturbetrieb, müsste man unseren Besten bekränzen. Man schweigt ihn tot.
Kunst lebt in Markkleeberg bei Leipzig – sieht man in ihm deshalb einen randständigen Zonenbewohner. In diesem Jahr ist ein Band erschienen, der Gedichte aus 30 Jahren sammelt. Jedes Gedicht ein Juwel. Jedes Gedicht eine Feier des Lebens. In jedem entdeckt man Losungsworte der Errettung, der Abwendung vom Öden, Stumpfen, Glanzlosen. Kunst ist der Pestdoktor unserer Zeit: Er heilt. Er stiftet eine derart gute Laune, daß man hinausstürmen möchte, raus ans Meer, in den Wald, ans Feld, in die Stadt und brüllen vor Lebenslust. Seine Worte und Zeilen sind Weltenbrand, und doch setzen sie auf den eingefangenen Augenblick: Verzückung, Entrückung, Rausch, Überwindung der mittelmäßigen Heutigkeit, große Liebe in Kleinigkeiten.
Wer von Herzverrücktheit nichts hält, lese appetitliche Häppchenlyrik im Schein von Sparlampen. Wer einem Weltdichter folgen will, schlage das Buch auf und lese:
Wenn in der ersten Phase des Verliebens einer stirbt, steht Gott nicht mehr allein da…
– In zwei neuen Büchern führt der Leipziger Autor Thomas Kunst in fantastische Übermutwelten. –
Gleich mit zwei neuen Büchern beweist der Leipziger Thomas Kunst, welch ein Ausnahme-Dichter er ist.
In der Dresdner Edition Azur gibt’s nach Die Arbeiterin auf dem Eis von 2013 in diesem Herbst eine Lyrikauswahl aus drei Jahrzehnten, nicht unbescheiden mit dem Doppelsinn des Dichternamens im Titel: Kunst.
Aber die Auswahl aus den insgesamt acht seit 1991 erschienenen Lyrikbänden gibt ihn her. Thomas Kunst dichtet in einer anderen Lyrik-Liga und darf angesichts der vielen lyrischen Dünnbrettbohrer unbescheiden von sich sagen: Es ist Kunst, seit 30 Jahren! Sein erster Band erschien unter dem märchenhaften Titel Besorg noch für das Segel die Chaussee im Reclam Verlag. Die Gedichte dieser Produktionsphase waren vielleicht noch etwas kürzer, aber den heutigen nicht unähnlich. Kunst bedichtete konsequent seinen eigenen Sinn und fand schon damals so überraschende Zeilen wie:
deine Reitstiefel,
beklebt noch mit Nebel und
Kostbaren Wölfen
Woher nimmt er die Benennung des Worts Sehnsucht mit:
sie ist die
übertriebenste,
aber auch die unaufdringlichste
Strategie der
Enthaltsamkeit
Thomas Kunst ist kein Sinn-Brüter, sondern ein Wort-Musiker. Solche Musiker der Sprache, die Tonfarbe, Klang und Rhythmus höher setzen als das Erzählen von Landschaften und Gesellschaften, gibt es einige. Wenn Kunst in der Unterführung einen Flamingo sieht, dann ist das sein lyrischer Ernst, und er lässt den Sprecher wunderbar nüchtern sagen:
… aber was gehst du denn auch am
Sonntagnachmittag durch eine Unterführung.
Seine hingezauberten Welten sind mit Worten exakt vermessen und – von innen betrachtet, von der lyrischen Welt des Autors aus – als Ausdruck beruhigter Normalsprache logisch belastbar. Der Leser darf dem Dichter den Flamingo in der Unterführung genauso glauben wie dem Dichterkollegen Wolfgang Hilbig den goldschimmernden Fasan auf dem Kohleberg im Kesselhaus! Das sind keine Parallelwelten, sondern aus der Sprache hervortretende Erscheinungen, die uns Lesern Augen und Poren, Sinne und Horizont öffnen können.
Eine Klasse für sich sind die Sonette des Fünfzigjährigen, die der Auswahl gleichsam einen Rhythmus geben. Wer sich mit dem Sonett bei keinem Reim quält, sondern mit ihm tanzt, der kann nicht nur frei musizieren, der kann auch Formen.
Die Langgedichte changieren in die Prosa und sind eine Einübung in den gerade in Österreich erschienenen Roman Freie Folge.
(…)
Seine Art von Literatur – ob in Lyrik oder Prosa – wird von einer handlungssüchtigen, plottigen Sprech- und Erzählweise zum Außenseiter gemacht. Wieso eigentlich? Dann müssen wir uns von Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Nicolas Born, Thomas Brasch, Wolfgang Hilbig trennen. Sie besaßen alle einen eigenen Weltkosmos. In aller Bescheidenheit festgestellt: Thomas Kunst auch.
Michael Hametner, Sächsische Zeitung, 7./8.11.2015
Moderne Lyrik ist immer wieder und immer noch vielen modernen Lesern eine Mischung aus Gräuel und hysterischer Erheiterung. Das liegt an vielerlei (die Leserin erforsche sich bitte auch selbst!), aber ein Grund für diese virale Erheiterung und diesen Stupor-Gräuel ist einerseits die Sprache, die moderne Lyrik spricht oder zu sprechen liebt, und andererseits der Inhalt vieler dieser Gedichte, selbstbezüglich und selbstverliebt.
Die Sprache der modernen Lyrik hat seit den Expressionisten etwas Verklausuliert-Abgeschlossenes und Unwegsames gewonnen, etwas abschreckend Indirekt-Uneigentliches. Das gilt auch für die Inhalte moderner Gedichte. Wie oft passiert es dem Lyrik-Konsumenten (ja, auch Lyrik ist Ware!), dass er auszurufen versucht ist: „Oh, das meint die Lyrikerin! Kann man das nicht einfacher sagen?!“ – und mit ,einfacher‘ ist meist: ohne sprachliche Umstände oder ohne all das hermetische Wortgeflatter gemeint. Zudem ist das Inhaltliche des Gedichts häufig so verallgemeinernd und verallgemeinert, dass es schon einem Gemeinplatz gleicht, über den jeder schon mal gestampft ist bei Regen und Sonnenschein.
Wenige deutschsprachige Lyriker haben sich eine zugängliche Sprechweise – wie sie es für den anglo-amerikanischen Sprachraum fast schon Bedingung ist – bewahrt (oder schaufeln den Sprachschnee immer wieder vor ihrer Gedichthütte weg). Wenige deutschsprachige Lyriker schreiben plastische, fleischige Gedichte, die der Leser fast ekelerregend in den Mund nehmen kann, um daran zu saugen und daran herumzulutschen und sich sogar (ganz kannibalisch) davon zu ernähren. Einer dieser viel zu seltenen und (darf man sagen?) natürlichen Lyriker ist der Leipziger Thomas Kunst.
Seine Gedichte sind Ausschweifungen in Sprache – und bleiben doch immer ganz konkret, ganz hiesig und hienieden. Bei Thomas Kunst geschieht etwas, was seit den Surrealisten sehr selten geworden ist: das Imaginäre wird fassbar, gegenständlich: wenn der Dichter mit einer Ameise gegen Ezra Pound antritt oder das auf-die-Nordsee-Hinausblicken und sich nach der Liebsten oder der Entliebten Sehnen Wale ins Fenster ruft…
Kunsts Gedichte sind unmittelbar in dem Sinne, als sie wie Transformatoren wirken oder Mangeln – die Wirklichkeit wird durch sie verändert, geglättet und erstmals wahrnehmbar, vernehmbar. Und gleichzeitig ist das sprechende Ich, das ,lyrische Ich‘, perfekt getarnt hinter all den neuartigen Wortpflastern und „vergangenheitsdienlichen“ Auskunftspflichtverweigerungen und bleibt also ein Ich, mit dem wir uns durchaus identifizieren können, keines dieser Allerwelts-Ichs der formalen Lyrik zum Beispiel.
Umso mehr, als dieses Ich ein magisch-realistischer Liebhaber ist: unzählige Lieben zu leben fähig scheint, fast schon proustianisch, so scheint es dem Rezensenten, nicht nur jede Frau zur Gazelle und jede Gazelle zur Frau umwandelt, sondern in jeder Frau seine Traumgefährtin erkennt, die er aus seiner Gedichtrippe halb im Schlaf halb im Wachen zu schaffen versucht.
Das ist so romantisch, dass es schmerzt: Diese Gedichte aus 30 Jahren sind so etwas Unmögliches, Unwahrscheinliches wie umgekehrte Schwämme – in ihnen ist alles im Lieben und Leben Aufgesogene ohne Flüssigkeitsverlust in heller Feuchtigkeit (und manchmal Klebrigkeit) nach draussen gekehrt und gewandt, als hielten wir uns den Büstenhalter oder das Unterleibchen des oder der Geliebten unter die Nase. Das pralle Leben, könnte man es nennen, bis an die Schmerzgrenze.
Die Selbstverständlichkeit, mit der ein Mann hier von „Frauen bis an die Schmerzgrenze“ spricht, mag einige allzu korrekt-vorsichtige Hetrosexuelle abschrecken, die lieber (in Kunsts eigenen Worten) „Umarmungsgedichte im Westen“ statt „Liebeslieder im Norden“ hätten, aber es ist das eine berauschende, erheiternde Erfahrung. (Und wer hat schon mal von Lyrik als Rauschmittel gehört in der spröden Lyrikerfistelei der heutigen Tage?)
Auch hier aber: redet ein Romantiker und einer mit Leidenschaft und niemals durch die Blume. Und wenn er dies mit einer solchen Wortgewalt (selten ist dieses in den Feuilletonspalten arg missbrauchte Wort so treffend gewesen!) und Wortschöpfungskraft tut, dann wünschen wir nur mehr solcher Dichter und Dichterinnen, die nicht durch die Blume ihrer literaturwissenschaftlichen Verkrüppelung und emotionalen akademischen Leere sprechen, sondern mit dem vollgesogenen schamanisch-mongolischen Brustton der Aufrichtigkeit und Direktheit. (Selbst wenn da ja immer die Gefahr besteht, in einer Pose zu erstarren, denken wir an Bukowski.)
Thomas Kunsts Dichtung durchbricht in jedem Moment die Erwartungen der Leserin, sie verblüfft adjektivisch, erschreckt verbal und veräppelt nominal. Thomas Kunst ist eine der wenigen Stimmen, die keine Sprachkünstelei lispeln, keine ephemer-tragischen Kürzungs- und Kürzestgedichte säuseln, formale Tonalitäten summen oder ihre Sätze mit literarischen Einspielungen würzen, um ihre dichterische Einfallslosigkeit zu tarnen. Thomas Kunst ist ein Rabelais der deutschen Lyrik, und die Auswahl seiner Gedichte aus 30 Jahren, die wir dem Verlag Edition Azur verdanken, lässt den Rezensenten begeistert ausrufen: Danke, Herr Kunst! Mehr davon, Herr Kunst!
– Thomas Kunst hat sich von seiner mehrdeutigen Wortspielkunst abgewendet und bekennt sich zur Klarheit der Sprache. Wo andere Künstler ihre Inhalte überhöhen, rückt er die Dinge wieder zurück ins Kleine und poetisiert aufs Wunderbarste Alltäglichkeiten. Florian Pahlke liest Kunst. Gedichte 1984–2014. –
Es ist noch nicht all zu lange her, dass Thomas Böhm in der ZEIT die Idee aufwarf, Gedichte nicht mehr (nur) in Buchform zu präsentieren, sondern sie stattdessen wie bildende Kunst zu betrachten und einzeln ausgedruckt, großflächig als verschriftlichtes Kunstwerk in Szene zu setzen. Mit diesem Gedankenspiel im Hinterkopf gewinnen insbesondere Anthologien wie Thomas Kunsts Sammlung seiner Gedichte von 1984 bis 2014 einen ganz eigenen Reiz – und zeigen, wieso es doch gut ist, sie in gebündelter Form vorliegen zu haben.
Klarheit in Sonett
Thomas Kunst, 1965 in Stralsund geboren, hat sich neben Lyrik und Prosa insbesondere der Musik und Tonkunst verschrieben. Das ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, dass es seine Lyrik in Form von Hörbüchern gibt, auch in geschriebener Sprache lässt sich das erkennen. Kunsts Lyrik ist, das würde er selbst wohl kaum bestreiten, nicht bildgewaltig, nicht mystisch oder gar hermetisch. Von seiner anfänglichen Faszination Celans und Trakls ist nicht mehr viel übrig geblieben und so bezeichnet er selbst erst seine deutlich klareren und verständlicheren Gedichte ab 1985 als ernstzunehmend; womit auch die Auswahl der Texte in Kunst begründet ist, die vor allem aus den Bänden Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd, Was wäre ich am Fenster ohne Wale, Estemaga und Legende vom Abholen stammen, die allesamt zwischen 1998 und 2011 erschienen sind. Nur spärlich vertreten sind hingegen Gedichte aus den ganz frühen Büchern Besorg noch für das Segel die Chaussee und Die Verteilung des Lächelns bei Gegenwehr sowie aus seinem neuestem Werk Die Arbeiterin auf dem Eis. Gemeinsam ist den Gedichten dabei ihre Einschränkung auf wenige Formen: Kunst schreibt fast nur in Langgedichten oder Sonetten.
Das Buch trägt dieser geringen Varianz von Gedicht-Formen auf elegante Art und Weise Rechnung. Angefangen vom schlichten Cover, das hohen Wiedererkennungswert in sich birgt, zeigt sich das insbesondere an der Aufteilung im Inneren: Die Gedichte sind in lediglich vier Kategorien unterteilt, die jedoch nicht die chronologische Zusammenstellung der Werke abbilden, sondern eher thematisch bündeln und dabei sowohl Orte als auch Geschichten in den Vordergrund rücken. Nur kurz äußert sich Kunst in einem Nachwort der Gedichtsammlung zu seinem Schreiben. Trotz seiner gerade dort erkennbaren Abneigung gegen poetologische Äußerungen lässt sich Kunst jedoch nicht einfach als unreflektiert solchen Überlegungen gegenüber bezeichnen, er überlässt es allerdings seiner Lyrik, ein programmatisches Ziel abzubilden, das dem Übermut des Alltages genauso nachspürt wie dessen Abgründen.
Ich habe dich anscheinend nie beschissen
Genug behandelt, daß es für uns langte,
Mir war nicht klar, woran ich mehr erkrankte,
Am Tod oder am Handy unterm Kissen.
[aus: „Du brauchst dich niemals mehr für mich zu schämen“]
Die Konzentration des Sammelbandes auf einen schmalen Abschnitt im künstlerischen Schaffen und die Abkehr von verklausulierter und chiffrierter Lyrik ist auch inhaltlich weniger Eingeständnis, denn Erkenntnis der Stärke: Kunsts Texte leben mittlerweile von präzisen Beschreibungen der Alltäglichkeiten: Anstatt blumiger Worte erfährt man lakonische Bemerkungen, die dann am Ende – oftmals überraschend – einen fast schon zarten Ausklang nehmen.
[…] Wenn ich so, in meinem Leben, die Frauen
Durchgehe, die mir Cassetten überspielt haben,
Bleiben wirklich nur wenige übrig, von denen ich es,
Im Nachhinein, noch einmal fordern würde, aber du,
Du gehörst ganz ohne Zweifel zu denen,
Von denen ich das fordern muß, hoffentlich hast
Du das noch nicht vergessen, […]
[aus: „Wenn in der ersten Phase des Verliebens einer stirbt“]
Kunst beschränkt sich darauf, in seinen Gedichten um die Themen zu kreisen, die ihn persönlich berühren, die aus seinem Leben gewachsen sind – woraus er auch gar keinen Hehl macht. Prägende Themen sind dabei die DDR-Vergangenheit und neben seiner fortwährenden Verbindung zur Musik auch die Nähe zur See. Seine Lyrik atmet, meistens ungefiltert, die (Sehn-)Süchte der Arbeiter und gewöhnlichen Leute. In diesen Betrachtungen fehlt es dann auch nicht an pointierten Ausflügen in die überzeitlichen Themenfelder von Liebe, Tod und Sehnsucht. Es sind dabei aber immer der Alltag und all die kleinen Trivialitäten, die in diesem hervorstechen (sollten) und von Kunst besonders herausgehoben werden, ohne (sprachlich) an Bodenhaftung zu verlieren.
ACH WÄRE ICH NUR AN DER SEE GEBLIEBEN
Und hätte eine Frau an meinem Fenster
Am Strand die Hunde und die frechen Wänster:
Die habe ich schon länger abgeschrieben.
Kein Haus am Strand und später ohne Gelder,
Nur eine Tonne voller Glut im Winter,
Mein ganzes Hab und Gut in einem Sprinter,
Für eine letzte Fuhre nach Den Helder.
Wozu noch Bücher, es gibt Blumenzwiebeln
Das Pflegeheim Den Koogh und die Marine.
Die Sehnsucht, bald zu sterben, wird schon kleiner:
Julianadorp aan Zee mit seinen Giebeln.
Die Zugehfrau kriegt eine Apfelsine,
weil sie Flaschenmüll entsorgt, sonst keiner.
Hohekunst der Leichtigkeit
Es ist gerade in solchen Gedichten vor allem Kunsts Sprache, die heraussticht. Fast wirkt es so, als ob die lyrischen Formen eher zufällig zugegen sind und sich an das Gesprochene anpassen – nicht andersherum. Das ergibt vor allem in der klassischen Sonettform ein interessantes Spiel, das zwischen der rigiden Form und der teils fast als lapidar einzustufenden Sprache ein Spannungsverhältnis hervorruft. Kunst kann in solchen Gedichten zeigen, wie versiert er mit Sprache und Formen umzugehen weiß: Die Alltäglichkeit wird hier erkennbar als Stilmittel gegenüber dem Hohe-Charakter der Versform eingesetzt. Kunst orientiert sich dabei durchaus an historischen Vorbildern und arrangiert den inhaltlichen Aufbau klassisch mit These/Antithese/Synthese – schafft es aber gerade hierbei, diese Vorgaben ironisch zu brechen. So gibt das (jambische) Versmaß dem Gedicht eine Leichtigkeit, die den Inhalt zwar nicht banalisiert, aber dennoch teilweise zu unterlaufen scheint. Es ist dann nur folgerichtig, dass es beispielsweise die Zugehfrau ist, die entlohnt wird, und das auch nur mit einer Apfelsine, nachdem zuvor noch der komplette Lebensentwurf des Protagonisten in Frage zu stehen scheint.
Wo andere Künstler ihre Inhalte überhöhen, rückt Kunst die Dinge wieder zurück ins Kleine. Selbst Überschriften würden dieses Gesamtbild stören, und so gibt es im gesamten Buch kaum mal ein Gedicht, welches nicht einfach den ersten Vers als Überschrift trägt. Wer sich auf Kunsts Lyrik einlässt, der wird an vielen Stellen entdecken, wie viel sich hinter solch vermeintlichen Kleinigkeiten verbirgt und wie bewusst Kunst mit diesen umgeht.
Thomas Kunst nimmt auf Facebook Stellung zur Besprechung seines Gedichtsbandes beim Lyrischen Quartett
WAS HABEN SIE IM LETZTEN SOMMER GEMACHT. (I)
Sehr geehrtes Quartett, Leipzig, 14.07.2015
es hat natürlich immer etwas Demütigendes, sich von winzigen, literarisierten Gönnern der deutschen Gegenwartslyrik beurteilen lassen zu müssen. Sich mit ihrem eigenen, akademischen Erhabenheitsgekritzel von Anfang an Lichtjahre unter dem angebotenen sprachlichen Niveau zu bewegen, spricht selbst eine Sprache, die von Macht und Angriffsstellung genauso viel versteht wie von Unterdrückung und Zurückweisung poetisch unabgesicherter Einzelbekennerschreiben. Daß eine Jury keine Kenntnis davon besitzt, daß es sich bei dem Begriff „Weiber“ auch um den Titel einer Erzählung von Wolfgang Hilbig handeln könnte, ist erbärmlich. Das würde allerdings die mir von Ihnen attestierte „Machogeste“ bläßlich dastehen lassen. Daß ich mir nach beinahe fünfundzwanzigjähriger Ignoranz durch den kleingeistigen, lächerlichen, nur immer der Gewinnerseite zugeneigten Literaturbetrieb abgewöhnt habe, „Zweifel am Ich“ zu haben, brauche ich wohl keinem gebildeten Menschen mehr nachhaltig zu erklären. Mit welch bedingungslosen, gehaltvollen Adjektiven hier abgeurteilt wird, (mäßig, hübsch, miserabel) erstaunt mich sehr. Ich betone es gern wieder und wieder: Das Maß an Fehlbesetzungen in Jurys und anderen literarischen Gremien ist so nicht weiter hinnehmbar. Wie mein Kollege Tom Schulz so derart unwürdig und respektlos von Ihnen abgeurteilt wurde, ist schlicht eine Unverschämtheit.
Thomas Kunst
In Deutschland gibt es kaum noch große Dichter.
Der letzte hat ne Frau in seinem Spind.
Ein Kesselhausfasan hat davon Wind
Bekommen und fliegt gegen Landelichter.
Ich schreibe ein Sonett in zehn Sekunden,
Im Lyrikkabinett sogar in sieben,
Wenn die vorbei sind, bin ich abgeschrieben.
Ich hab mich metrisch damit abgefunden.
Sobald ich schwächle, wird es ingeniös.
Ich bin Rimbaud und Baudelaire zugleich
Mein Zweifel-Ich hat hitzefrei und blinkt.
Wir lesen Hartung, Detering, Deleuze.
In Einzelfällen macht uns sowas reich:
Es gibt Quartette, Flaute und Instinkt.
WAS HABEN SIE IM LETZTEN SOMMER GEMACHT. (II)
Leipzig, 15.07.2015
Ich bin noch immer sehr fassungslos darüber, Herr Detering, mit welcher lässigen und gar dreisten Anmaßung Sie versucht haben, 30 Jahre Kunst auszulöschen. Wie perfide und menschlich erbärmlich es ist, mein Buch einzuladen, um es hernach so arrogant und derart selbstverliebt vorzuführen. Solch eine Respektlosigkeit ist mir in meinem ganzen Leben noch nie begegnet. Seien Sie froh, daß Ihnen die Machtverhältnisse in diesem Land so gewogen sind. Wenn es andersherum wäre, würde ich Sie aus sämtlichen literarischen Gremien und Ämtern entfernen, in denen Sie sitzen, damit Sie endlich nicht mehr dazu in der Lage sind, sich so abschätzig und süffisant über Dichter und ihre geleistete Arbeit erheben zu können. Meine Enttäuschung über soviel menschliches Versagen ist enorm.
Thomas Kunst
Felix Schiller: Leute, lest Kunst!
fixpoetry.com, 24.7.2015
Ab Minute 43:46 spricht Claudia Kramatschek über Thomas Kunst: Kunst.
HINTER DEN SÄULEN DES HERAKLES II
Für Thomas Kunst
1
Und wenn schon – macht doch nichts,
dass ich all die Jahre,
mit westlichem Zement zugemauert,
deutsch gewesen bin – das heißt eine Sprache
des Dichters von der Weser und Aller
wie auch aus dem Café Grün, in dem die Bremer Stinte,
gealterte Studenten des Jahres 1968, gewirtschaftet haben.
Poesie ist schließlich kein goldener
unsterblicher Sarg,
zu dem Götterliebhaber beten –
in Erwartung eines Wunders: nicht nur an der Łyna-Alle,
dem Fluss meiner indianischen, weil westbaltisch-
esoterischen Kindheit unter den Pruzzenstämmen.
Ihre Angst – dieser Götterliebhaber –
vor dem schwarzen Himmel hinterm Fenster
ist allerdings so mächtig, dass sie auch die Flügel
der Störche und Flamingos beben lässt,
sei es auf Mallorca oder vor den Toren Jerusalems,
und wenn die Sonne erlischt,
fliehen die Vögel genauso wie die Menschen
auf der Suche nach strahlender Helligkeit.
Also, ob ich war oder nicht war –
die Poesie floss weiter,
denn hinter den Säulen des Herakles
denkt niemand über unseren Charakter
und über die Tugend nach.
Dort beginnt ganz einfach die große Unbekannte,
und die Frage ist – was man damit machen soll?
2
Dieses Problem konnte ich auch nicht lösen,
obwohl ich es dreist benannte – wie der Schneider
in seinem Nadelelement.
Schließlich geht es ja nicht nur um den neuen Gedichtband
„Za słupami charakteru“ – „Hinter den Säulen des Charakters“,
wie mich Thomas Kunst – Freund und Dichter aus Mexiko
bei Leipzig, aber aus Fleisch und Blut, also ein Deutscher und
Kosmopole und Mexikaner, allerdings in der DDR-Ausgabe
und vom Namen her Sztuka-Arte – anwies,
die Gedichte aus meiner polnischen, verschwitzten, zitternden
Hand zu betiteln.
Was für ein Fehler und Versprecher!
Hatte Thomas doch das Heulen wilder Tiere nie kennengelernt,
denen man 1939 den Wald und das Futter genommen hatte –
in diesen vaterländischen Gebieten weilte er nie,
wo die blutenden Segel, die Angeln, die Ertrunkenen
und die Heiligen Jungfrauen die nationale Stärke ausmachen,
und später dringt noch in unser Bewusstsein der Emigranten
diese Sehnsucht nach Heimkino ein –
manchmal spuckt dich auch jemand an,
weil du ein Verräter in der Straßenbahn bist
und fremde Zähne, Münder, Sprachen kennst,
Gedanken und Unterhemden wie auch den Tod,
eben so einen, der sich vor Fremden versteckt –
in Wahrheit sind das doch stets nur
deine Friedhöfe, Kirchen und Parkplätze für die Sterne –
jedoch deine.
3
Deshalb – und wenn schon, macht doch nichts, Bruder
Tomasz aus Mexiko bei Leipzig –,
andere werden ein noch schwereres Brot verdauen müssen –
werden zu den Sternen fliegen, dort wird ein abgefahrener
Tanzabend ihrer Seelen gestartet – echt kosmisch!
Und nur die Erinnerung an den Wohnungsschlüssel
an der Halsschnur,
im Winter hinter einem Zaun verloren,
als du von der Schule heimkehrtest,
wird dir helfen zu überleben,
weil er für immer und ewig verlorengegangen ist –
im knietief weißen Garten der Nachbarn,
die Erde hatte ihn gefressen – die Zeit schmolz
in ihm dahin,
also lebe weiter und suche nicht mehr nach ihm
hinter den Säulen des Herakles.
Schreibe weiter unter dem Diktat der Poesie und suhle
dich nicht im nationalen Sand,
weil du kein Köter bist – gefangen in einem Tellereisen
der Straßen und Jägerkanzeln.
Artur Becker, Verden-Bremen, 18.10.2017
Gespräch des Monats: Seilers Shortlist. Am 17.2.2015 stellte er die von ihm gelobten Lyriker Thomas Kunst, Farhad Showghi und Nadja Küchenmeister in der literaturwerkstatt berlin vor.
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Schriftsteller Thomas Kunst: Jedes gelesene Buch ist ein Bildungserlebnis.
„Für Gedichte und Romane nehme ich Urlaub oder Überstunden.“ Thomas Kunst, Schriftsteller auf dem Lande 14.9.2021. Onlineinterview am 18.7.2021 mit Walter Pobaschnig in der Reihe Literatur outdoors – Worte sind Wege.
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