Ulrich Johannes Beil: Zu Ulrich Johannes Beils Gedicht „Hotel Dr. Caligari“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ulrich Johannes Beils Gedicht „Hotel Dr. Caligari“.

 

 

 

 

ULRICH JOHANNES BEIL

Hotel Dr. Caligari
für Christian Kiening

Yachtgroß zog der rote Mund an uns vorbei,
während der Ventilator das Abendlicht zermahlte,
bis es nach Art der frühen Filme zu flimmern begann.
Wir gingen hindurch ohne ein Wort.

Gitarren drehten sich auf Spießen, qualmten.
Zwischen ihrem dunklen und meinem hellen Körper
ergaben sich unterschwellige Verbindungen,
denen das öffentliche Gespräch („frühmorgens in der Schule
unterrichtet statt meiner der Autopilot“) nichts anhaben konnte.
Erfahrung schien wie etwas, das, nachts
von Straßenkindern unter einer Börsenkaaba angezündet,
nicht zu löschen war, das den Hunger nach sich selbst
stets von neuem erzeugte, die Schwierigkeit,
von außerhalb auf sie zurückzublicken,
von dort, wo sie erst entsteht.

Das schwarze Kätzchen des Rückspiegels,
schlafend über der Ritze im Teer…
„Bevor ich dich kennenlernte, war ich
ein pflichtbewußter Beamter“: Warst du das gestern
oder Gustav Fröhlich? Nein, ich habe nichts gesagt.
Ich überlege nur, wie es wäre, so weit zu fahren,
bis die Stadt das Gelärme, Geblinke verliert,
bis die Häuser kahl und aufrichtig werden
wie ein Totenschädel kurz nach Mitternacht.
Dann ist alles nur noch das, was es ist:
Hunger, Armut, Sex…
Ein Mann zieht sich aus, sich mit meinem Blick betrachtend.
Sein Oberkörper schimmert zwischen abgestelltem Metall,
als ob man die Masken ablegen müßte
auf dem Sprung ins flüchtigste Glück.

Ist es möglich, das Begehren zu hypnotisieren
wie Dr. Caligari es tat? Oder hypnotisierten seine Träume ihn,
die einst in sie hinabgesunkene Schrift?
Ich will den Leguan fragen, aber er sieht uns nur an
mit seinen jahrmillionenalten Fältchen, seinem Grinsen,
seinem cambrischen Grün. Es ist spät.
Nach dem Ausschalten der Air-condition –
im Vorführsaal atmende Körper. Hörbar gewordene Stille.

 

Filmplakat + Programmzettel und Speisekarte

 

Stummfilmplakate

 

Nur in dieser Stunde, in einem bestimmten Licht

„Auch Lyriker kochen nur mit Wasser. Laßt sie ihre Materialien offenlegen, so wissen wir auch, woraus das Ding, das Gedicht, ,gemacht‘ ist…“, könnte jemand sagen. Ich antworte ihr oder ihm: Nein, was wir wissen, ist, daß es diesen Aha-Effekt von Verbergen und Offenbaren so sicherlich nicht gibt. Und doch, das gestehe ich zu, sind wir neugierig, wenn ein Autor uns Gelegenheits-Voyeure kurz in diesen besonderen Schuhkarton lugen läßt und wir nicht ganz alleingelassen sind mit seinen sperrigen Versen und unserem eigenen Kopf. Was bekommen wir dann zu sehen, woraus bestehen sie, diese Materialien? Wir denken zunächst an Manifeste und zitierbare, die sogenannten intertextuellen Verweise, die der Literaturkritiker so liebt, da er dann mitreden kann. Aber es gibt auch andere, halbseidene, luftige, diffuse, es gibt einmalige blinkende Fundstücke, die ins Bewußtsein hinabgesunken sind wie ein vergessener Traum: Materialien, die nur in dieser Stunde, in einem bestimmten Licht, mit einer bestimmten Aufmerksamkeit wahrgenommen, dann von anderem überlagert, verdrängt, erinnert, neu überarbeitet werden, bis sie, nach zahlreichen, nicht zuletzt mit Bleistift und Tinte gezogenen Umwegen, ins gedruckte Gedicht gelangen, bis zur Unkenntlichkeit – oder Kenntlichkeit in einem anderen Sinne – entstellt.
Von daher gilt es, vorsichtig zu sein, auch mir selbst gegenüber, wenn ich nun ein paar Schnipsel von jenem Stoff nachreiche, aus dem mein Gedicht „Hotel Dr. Caligari“ zusammengeflickt ist. Schon der Titel zeigt an, daß es sich vorwiegend um optische Materialien, um Filmspulen und Magnetbänder handeln wird – aber auch, daß sie verfremdet wiederkehren, auf Reisen gleichsam, in veränderten Kontexten. Die Art seiner Formulierung lehnt sich an einen von mir bewunderten Buchtitel von John Ashbery an, nämlich Hotel Lautréamont. Wenn ich das Hotel umbenannte und dafür Robert Wienes legendären Stummfilmmagier von 1920 wählte, so hängt dies mit einem Besuch meines in der Schweiz lebenden Freundes Christian Kiening bei mir in Brasilien zusammen. Ihm ist das Gedicht auch gewidmet. Beide veranstalteten wir im Frühjahr 2003 an der Universidade de São Paulo ein Projekt zu Texten und Filmen der Weimarer Republik. Das Cabinet des Dr. Caligari hatte uns geradezu hypnotisiert, wir sprachen zeitweise von nichts anderem. Die Stummfilme, die wir uns angesehen hatten, prägten das Gedicht offenbar so sehr, daß sich auch hier ein gewisses Schweigen ausbreitet: „Wir gingen hindurch ohne ein Wort“, heißt es schon im vierten Vers, weiter unten: „Nein, ich habe nichts gesagt“, und in der letzten Zeile:

Hörbar gewordene Stille.

Stärker in den Vordergrund schieben sich demgegenüber die bewegten Bilder, Geflimmer „der frühen Filme“, und zwar von Anfang an. Zunächst dachte ich, die erste Zeile mit ihrem verführerisch „roten Mund“ verdanke sich lediglich der gigantischen Lippenplastik auf dem Werbeauto einer brasilianischen Speiseeis-Firma, jetzt aber sehe ich, dass dem Rot ein wenig David Lynch beigemischt ist: ich denke an das traumwandlerisch die Vorstadtidylle durchquerende Feuerwehrauto aus der ersten Szene von Blue Velvet. Mit diesem teils filmischen, teils karnevalesken, teils auf Erotisches vorausweisenden „roten Mund“ rollt der Stummfilm dieses Gedichts an, mit diesem alphabetisch abstrahierten ,Bild‘ droht es zu sprechen – oder zu schweigen. Zu schweigen wie diese seltsam fleischernen, qualmenden, duftenden „Gitarren“, die sich „auf Spießen“ drehen – wo anders als in einem der unwiderstehlichen Schlemmerpaläste São Paulos, der Churrascaria Vento Haragano, deren Gaumenmusik das anliegende Werbeblatt dokumentiert. (In Wirklichkeit verdanke ich diese Zeile jedoch Christian, der sofort die inkarnierten Gitarren sah, als wir das Restaurant betraten; ich komme nicht umhin, zuzugeben, daß er mir mein Material ,präparierte‘).
Ich könnte mich nun darüber auslassen, unter welcher „Börsenkaaba“ Straßenkinder zündelten, von wem der Satz mit dem „Autopiloten“ stammt, von wem zu wem es „unterschwellige Verbindungen“ gab, verzichte aber auf diese Art Material, nicht zuletzt aus Gründen des Datenschutzes. In meinem „Hotel Dr. Caligari“ verkehren die unterschiedlichsten Parteien, Personen, „Masken“ (ja, auch Kubricks Eyes Wide Shut besprachen wir in diesen Tagen), aber es gilt auch das Gebot der Diskretion. Bleiben wir bei den Filmen.
Während unserer Filmarbeit fiel uns ein Programm des Goethe-Instituts São Paulo in die Hände, das Clássicos da UFA 1918–1943 zu zeigen versprach: ein selten glücklicher Zufall. Mehrmals machten wir uns nach Anbruch der Dämmerung in das düstere Viertel Vila Clementino auf, um uns in der Sala Cinemateca, einem ehemaligen Schlachthof, Filme wie Dr. Mabuse, der Spieler, Spione oder Asphalt anzusehen. Der Satz „Bevor ich dich kennenlernte, war ich ein pflichtbewußter Beamter“ wird, wenn ich mich recht erinnere, in Asphalt geäußert, und es war dieser von Gustav Fröhlich gesprochene Satz, der uns zum Tuscheln und zu ironischen Identifikationen anstachelte. Ja, er kann nur in dieser Produktion von John May aus dem Jahr 1929 versteckt sein, denn in ihm kristallisiert sich das Verhältnis eines ordentlichen Verkehrspolizisten mit Else (Betty Amann), einer Diebin und Dirne, in ihm spiegelt sich jene fatale Liebe, die das Leben des Beamten in einen Sog hineinziehen wird, bis er schließlich in Notwehr einen Komplizen Elses tötet. „Hier dringt die Straße in das bürgerliche Wohnzimmer ein“, notiert Kracauer in Von Caligari zu Hitler.
Auch uns schien es oft, als verändere die geradezu aufdringliche Gegenwärtigkeit dieser Megastadt mit ihrem multiethnischen Straßenbild, den leicht bekleideten Körpern, den überquellenden Bazaren, den zwischen Palmen und Porsches postierten Wachmännern, den jonglierenden Rollstuhlfahrern oder dem Kuß, den einem ein Bettler auf den Handrücken schmatzt, die sauber polierte Existenz jener Mitteleuropäer, die wir vor unserer Ankunft (Christian vor wenigen Wochen, ich vor mehreren Jahren) gewesen waren. Zumal es Viertel in dieser Metropole gibt, die offenbar nicht mehr die Kraft haben, sich zu schminken und sich den Anschein einer Erste-Welt-Stadt zu geben: Man muß nur „so weit […] fahren, bis die Stadt das Gelärme, Geblinke verliert“. Diese Versuchung, alles hinter sich zu lassen, die Stadt so lange zu durchstreifen, bis man auf das Unverstellte trifft, das, was ,wirklich‘ passiert… Ich habe mich, mit einer jungen Mulattin am Steuer, einmal spätabends eher unfreiwillig in ein solches bairro verirrt – und wie waren wir froh, als wir es schafften, wieder in zivilisiertere Teile der Stadt zurückzufinden, in das São Paula der Villen und der Jardins, der arranha-céus (Wolkenkratzer) an der Avenida Paulista!
„Ein Mann zieht sich aus…“: Das war, entgegen der Suggestion des Gedichts, schon wieder woanders, wiederum nachts, ich entdeckte diesen Mann ganz in der Nähe meiner Wohnung am Campus der Universidade de São Paulo. Einen Augenblick lang schien mir, als betrachtete ich mich selbst, als entledigte ich mich meiner Kleidung, um es mit einer mir völlig unbekannten Frau im Fond des Autos dort zu treiben, die ab und zu das Licht eines verirrten Scheinwerfers streifte. Ein Doppelgänger! Aber wenig später rückte sich die Szene wieder zurecht: Er dort und ich hier, jeder von uns hatte seine Rolle zu spielen, da, wo er sich gerade befand. Wenn wir die „Maske“ ablegten, die uns an Herkunft, Alter, soziale Stellung band, glichen wir uns dann, taten wir dann im Grunde dasselbe? Und was hatte die „Masken“ in das Gedicht gebracht? Das ziellose Herumblättern in Levi-Strauss’ Weg der Masken, einige Tage zuvor, die Behandlung von Schnitzlers Traumnovelle im Kreis unserer Studenten, Christians Vortrag über „Bilder des Todes an den Rändern der Neuzeit“ oder das Gefühl einer décadence nach der décadence, eines letzten Rom, eines „theatrum mundi“ – wie am Ende von Das Cabinet des Dr. Caligari?
Es ist nicht schwer zu sehen, daß die von mir vorgelegten Materialien zuweilen von eher flüssiger Konsistenz sind; man muß aufpassen, ihr Gleiten nicht allzu rasch in einer musealen Vitrine stillzustellen. So läßt sich auch kaum rekonstruieren, welche Träume es denn gewesen sind, die Dr. Caligari oder seinen Regisseur hypnotisierten, eher schon, welche Palimpseste sich unter der flimmernden Oberfläche des Zelluloids verbergen – die „einst in sie hinabgesunkene Schrift“. Da kommen einem spätromantische Unheimlichkeiten wie Der Sandmann in den Sinn, Doppelgänger, wie sie durch Texte von Arnim, Brentano, Chamisso, Andersen, Stevenson oder Poe geistern: frei zugängliches Material also, das aber auch keine Antwort auf die hier gestellte Frage gibt: Erzeugen Bücher ein „Begehren“, das Caligari – oder uns – hypnotisiert, ,es‘ zu tun, ,es‘ zu realisieren? Und wenn es so wäre – wäre es dann das jahrhundertelange Begehren der Bücher, ,Film‘ zu werden, entsprechend dem einst, nach Johannes, zu „Fleisch“ gewordenen und vielleicht immer von neuem in „Fleisch“ sich verwandelnden „Wort“?
„Ich will den Leguan fragen“, schreibe ich an dieser Stelle – etwas merkwürdig, aber es war ja ein anderer, damals, im April 2003. Mit Christian und seiner Partnerin hatte der, der ich zu diesem Zeitpunkt war, das Instituto Butantã besucht, eines der renommiertesten Toxikologie- und Schlangen-Institute der Welt, 1901 von dem brasilianischen Mediziner Vital Brasil im Urwald vor São Paulo gegründet. In dem biologischen Museum mit seinen Kobras und Boa constrictors trafen wir auch auf einen Leguan, der uns aus den Tiefen der Vor- und Traumgeschichte anzublicken schien – ein stolzer, stoischer Kollege des „Axolotl“ von Julia Cortazar, den die Auslesemaschine der Darwinschen Evolution nicht ganz hat zur Strecke bringen können. Sein Grün nannte ich „cambrisch“, wohl vor allem in Bewunderung des Werkes von Stephen Jay Gould. Die Antwort, die der Leguan gab – nein, ich sage hier nichts mehr darüber.
„Hörbar gewordene Stille“, sagt mein Gedicht.

Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005

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