– Zu Reiner Kunzes Gedicht „Das kleine Auto“ aus Reiner Kunze: zimmerlautstärke. –
REINER KUNZE
Das kleine Auto
Seufzer gibt’s die
absplittern von der seele
So
seufzte die mutter
Fremd wie die welt eines tiefseefischs
ist das bücherschreiben des sohnes
Auf einer radiowelle
kommt sein name geschwommen
Doch:
was bringt das ein
Andre söhne holen ihre eltern ab
im auto
Goethe hat gelehrt, daß das Gedicht der Gelegenheit entstammt, nicht noch so achtbaren Ideen. Darum läßt sich Dichten nicht als Beruf ausüben (ich bin versucht hinzuzusetzen: oder, noch schlimmer, als Berufung), so wenig wie Angeln, wo auch der Fisch erst anbeißen muß, also die Gelegenheit schafft.
Reiner Kunzes Gedicht macht dies ganz deutlich: Ohne die wirkliche Enttäuschung der Mutter über den ungeratenen, nämlich Lyrik schreibenden Sohn wäre das Gedicht nicht zustande gekommen. Die beiden anderen Gedichte der Trilogie „Das kleine Auto“ ergänzen die Konstellation: „Sieben jahre warten / Sieben jahre den schatz mehren / Sieben jahre befürchten müssen, die eltern /
könnten es nicht mehr erleben“, heißt das eine, und das andere, das an die karge Existenz der Mutter erinnert, schließt:
Was blieb übrig als einen sohn
zu gebären
und zu hoffen, daß er alle
bedingungen erfüllt.
Eine andere Vorbedingung der alten Dichtungslehre ist, daß sich ein Affekt, Freude oder Schmerz, im Gedicht verkörpert und durch das Gedicht fortpflanzt, daß es rührt, bewegt, erschüttert. Das Thema dieses Gedichts ist nicht der Schmerz der Mutter, sondern das Leid des Sohnes über den Schmerz der Mutter. Oder doch: auch und gerade der Schmerz der Mutter. Mit einer Maxime über den Schmerz beginnt ja das Gedicht: Seufzer gibt es sehr verschiedener Art, manche fallen bloß so, belanglos, von den Lippen. Der Seufzer der Mutter splittert von der Seele ab, von der Tiefzone der Lebensschmerzen. Dem „So“ des folgenden Satzes wird ein ganzer Vers überlassen wie nachher dem „Doch“. Das Unverständnis der Mutter ist nicht kurz und verkümmert, ach, daß Genies solche Mütter haben, sondern umgekehrt: Sie erleidet die wahre Trauer, dem Nah-und Nurmenschlichen entfremdet ist der Sohn, der Tiefseefisch. Daß sein Name auf der Radiowelle geschwommen kommt, ist eine kleine Annäherung, eine Garantie, daß es ihn gibt, aber doch: was bringt das ein?
Diese andere Welt der Leute, die es zu etwas bringen, denen ihr Beruf etwas bringt, stellt Gemeinsamkeit her: Das Auto, hierzulande gern verteufelt, ist ja doch auch ein Gemeinschaftsvehikel, ein buntbewimpelter Nachen, und auch – in der einfachen Welt der Eltern – das Signal für die Nachbarn: Der unsere hat’s geschafft. Was immer auch heißt: wir haben es in ihm geschafft.
Der Schmerz des Sohnes ist vielleicht nicht der geringere, aber der gestaltete: in einem scheinbar dahingesprochenen, aber tatsächlich so exakt wie ein Sonett gebauten Gedicht. Er wirkt um so eindringlicher, als ihm zum Ausdruck nicht einmal ein Adjektiv, eine Interjektion gegönnt ist.
Reiner Kunze lebt und schreibt in der DDR. Er hat Schwierigkeiten, aber nicht die Absicht überzusiedeln. Sein letzter Gedichtband heißt zimmerlautstärke. Im Titel drückt sich die Art seiner Begabung aus: nicht laut werden, auftrumpfen, sondern den kleinen Anlässen in einer stillen Sprache gehorchen, welche Eindringlichkeit aus der Sache und aus der Kürze gewinnt. Daß er nicht verwöhnt, nur geduldet wird, ist gewiß eine der Voraussetzungen seiner lyrischen Tonsicherheit. Ich fürchte, daß unter unseren bundesdeutschen Verhältnissen dieses Gedicht zum Beispiel gar nicht hätte entstehen können. Der erfolgreiche Autor Kunze hätte seine Eltern längst im Auto abgeholt.
Werner Ross, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976
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