– Zu Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ aus dem Band Paul Celan: Die Gedichte. Neue Kommentierte Gesamtausgabe. –
PAUL CELAN
Todesfuge
Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Er ruft stecht tiefer ins Erdenreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith1
Das erste Deutschlandgedicht
In Paul Celans gesamtem lyrischen Werk findet sich das Wort „Deutschland“ nur in zwei Gedichten, nämlich in „Todesfuge“ (hier gleich sechsmal) und in „Wolfsbohne“. „Todesfuge“ ist zuallererst Kaddisch, ein Gebet für die in der Shoah Ermordeten. Aber gleichzeitig bestimmt der Autor seinen Standort gegenüber dem Land, dessen Sprache er spricht und schreibt.
Wann genau Celans berühmtestes Gedicht entstanden ist, weiß man nicht. In einer Prosanotiz des Autors vom Herbst 1960 heißt es:
das Jüdische – / als ich im Mai 1945 die Todesfuge schrieb, ich hatte damals, in der Izvestia, wie ich mich zu erinnern glaube, die Berichte über das Lemberger Ghetto gelesen.2
Barbara Wiedemann weist in ihrem Kommentar darauf hin, dass besagter Bericht aus der sowjetischen Parteizeitung Izvestia bereits am 23. Dezember 1944 erschienen war. So ist es wahrscheinlich, dass Paul Antschel ihn las, als er sich noch in Czernowitz aufhielt. Und so kann man weiter folgern, dass die Entstehung des Gedichts „Todesfuge“ „vor Antschels Ausreise nach Bukarest im April 1945 […] zumindest wahrscheinlich“ ist.3 Der Schulfreund und Dichterkollege Alfred Kittner ist sich sogar sicher, dass Antschel ihm die „Todesfuge“ vorgelesen habe, kurz nachdem er „im Spätfrühling“ 1944 wie Immanuel Weißglas nach „dreijährige[m] Lagermartyrium“ mit seinen Eltern aus Transnistrien zurückgekehrt war.4 John Felstiner vermutet zudem, dass Antschel auch die Broschüre The Lublin Extermination Camp vom August 1944 über das Vernichtungslager Majdanek bei Lublin von Konstantin Simonov gelesen habe. In ihr wurde u.a. berichtet, dass die SS-Männer in diesem Lager die Gefangenen Tango und Foxtrott spielen ließen.5
Es gibt kein anderes Gedicht Paul Celans, das sich genauer auf wirkliche Vorgänge und Einzelheiten des Massenmords an den Juden bezöge als dieses. Das sagt uns das Gedicht selbst, und das sagt uns in diesem Fall – eine große Ausnahme – auch der Dichter in einzelnen Notaten und Briefen aus den Jahren 1959 bis 1961, in denen er sich zu dem Gedicht als ganzem wie auch zu einzelnen Stellen geäußert hat. Die Ursache für die Vielzahl von Erläuterungen Celans zum Wirklichkeitsbezug des Textes ist die Plagiatsanschuldigung von Claire Goll, die den Autor in eine schwere seelische Krise stürzte und ihn (so meinte er) dazu zwang, Detailliertes zu seinen Gedichten zu sagen, auf die sich diese haltlosen Anschuldigungen bezogen. Dazu gehört auch und vor allem „Todesfuge“. So ist in einem Brief vom 7. Juni 1960 an Václav Lohniský lapidar zu lesen:
In diesem Gedicht habe ich versucht, das Ungeheuerliche der Vergasungen zur Sprache zu bringen.6
Und an Walter Jens in Tübingen schrieb er:
Das Grab in der Luft […], das ist, in diesem Gedicht, weiß Gott weder Entlehnung noch Metapher.7
Damit meinte Paul Celan – das ist nicht misszuverstehen – die Verbrennung der vergasten oder erschossenen Leichname, die „als Rauch in die Luft“ steigen und so ein „Grab in den Wolken“, ein „Grab in der Luft“ finden. Vor allem finden sich in dem von Celan erwähnten sowjetischen Zeitungsbericht über das Lemberger Ghetto auffällige Korrespondenzen zur „Todesfuge“. Dort heißt es unter anderem:
Folter, Quälerei und Erschießungen führten die Deutschen mit Musik aus. Zu diesem Zweck bildeten sie ein besonderes Häftlingsorchester. […] Von den Komponisten verlangten die Deutschen, eine besondere Melodie zu komponieren, die sie „Todestango“ nannten. Kurz nach der Räumung des Lagers erschossen die Deutschen alle Orchestermusiker.8
Eines der Fotos, das den Zeitungsartikel begleitete, zeigt Musiker (Geiger, Bläser und Akkordeonspieler), die im Kreis um einen Dirigenten herum stehen. Außerhalb des Kreises stehen einige Wachmänner. Ein anderes Foto zeigt „die deutsche Maschine zum Vermahlen der Knochen von verbrannten Leichen“.9
Dem Gedicht „Todesfuge“ liegt also ein mittlerweile beträchtliches Wissen seines Autors über die nationalsozialistische Mordmaschinerie zugrunde: das Sterben in den Gaskammern, das Verbrennen der Leichname und deren Auflösung in Asche und Rauch, aber auch Einzelheiten wie die Befehle zum Graben des eigenen Grabes und zum Musizieren und Tanzen als Auftakt zum eigenen Sterben gehören dazu. So konnte der Dichter auch damit einverstanden sein, dass der rumänische Erstdruck seines Gedichts mit dieser Erläuterung versehen war:
Das Gedicht, dessen Übersetzung wir veröffentlichen, geht auf Tatsachen zurück. In Lublin [der Stadt benachbart lag das KZ Majdanek] und anderen ,Todeslagern‘ der Nazis wurde ein Teil der Verurteilten gezwungen aufzuspielen, während ein anderer Gräber schaufelte.10
Und Antschel hatte wohl auch nichts dagegen, dass in der übergroßen Überschrift „Tango ul mortii“ (Todestango) die beiden i-Punkte in „mortii“ mit zwei kleinen Hakenkreuzen notiert wurden. Unter diesem Titel reproduzierte die Zeitschrift Contemporanul einen Holzschnitt, auf dem man Hände sieht, die abgeschnittene Haare in einen Korb füllen.
Deutsche kommen in dem ersten großen Gedicht Paul Celans, das sich mit Deutschland und den Deutschen auseinandersetzt. nur in Gestalt eines einzigen Mannes vor – und in der Gestalt, an die seine Briefe gerichtet sind: Margarete. Von dem Mann erfahren wir einiges. Er wohnt „im Haus“, wo er „mit den Schlangen spielt“ (während die Sterbenden sich außerhalb dieses Hauses befinden); er hat Hunde, die er nach Lust und Laune auf die Häftlinge hetzt; er erteilt diesen Häftlingen Befehle – Gräber zu graben, zu musizieren und zu tanzen –, und er schreibt einen Brief „nach Deutschland“ an „Margarete“, offenbar seine Frau oder Geliebte. Er beruft sich bei seinen todbringenden Befehlen quasi auf eine höhere Instanz: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, ruft er den Häftlingen viermal zu. Man kann auch sagen, dieser „Mann“ ist die Inkarnation des meisterlichen Zu-Tode-Bringens nach deutscher Art und Kunst; er steht für viele seinesgleichen. Andere Deutsche kommen in diesem Deutschland-Gedicht nicht vor. Fragt man nach dem Verhältnis von Antschel-Celan zu ,den Deutschen‘ in diesen Jahren, dann klingt diese Feststellung vermutlich trivial. Aber er kannte aus der Zeit der Besetzung der Bukowina 1941–44 nur uniformierte deutsche Männer, und von diesen hielt er sich so fern wie nur möglich. Er hatte das Glück, bei seinem Einsatz als Zwangsarbeiter zum Straßenbau nur von Rumänen befehligt zu werden. Später wird zu fragen sein, was für andere Menschen aus Deutschland er kennenlernte und wie sich die Beziehungen zu ihnen, von denen viele zwischen 1939 und 1945 auch eine Nazi-Uniform trugen, gestalteten.
Gleichzeitig kannte der junge Dichter sehr viel von Deutschland und den Deutschen, nämlich die Sprache und die Literatur, die ihm beide fraglos zugehörten. Das Gedicht „Todesfuge“ erweist sich als Manifestation einer Gedanken- und Spracharbeit, die, während sie das Morden der SS-Männer und das Sterben der Juden evoziert, gleichzeitig Vers für Vers in die Speicher deutscher und jüdischer Geistigkeit hinabsteigt und dieselbe zur Sprache bringt. In diesem Sinne ist „Todesfuge“ (was lange verborgen blieb) ein durch und durch poetologisches Gedicht. Poetologisch heißt: Das Gedicht besinnt sich auf seine eigenen (ästhetischen) Möglichkeiten und Unmöglichkeiten angesichts des bis dato einmaligen Massenmords an Millionen von Menschen, die man als zu vernichtende definierte.
Natürlich ist „Todesfuge“ zuallererst, wie schon gesagt, ein Gedenken an die Ermordeten, ein Totengebet, ein Kaddisch (frei: ich – gegen die Regel – von den Sterbenden selbst gesprochen). Es ist eine Grablegung der grablos Ermordeten, ein Textgrab.11 An den Freund Rolf Schroers hatte Celan geschrieben:
Die Todesfuge ist ein Grabmal.12
Und an Ingeborg Bachmann genauer:
dass die Todesfuge auch dies für mich ist: eine Grabschrift und ein Grab. […] Auch meine Mutter hat nur dieses Grab.13
Wahrscheinlich im August 1959 notierte der Autor zu seinem Gedicht:
Das Gedicht wird immer tödlicher (knapper)
Ein Gedicht mit dem Tod und „zum Tode“
Milch der Frühe – das Nährende des Anderen
Es sprechen die Sterbenden, sie sprechen nur als solche – der Tod ist ihnen sicher – sie sprechen als Gestorbene und Tote. Sie sprechen mit dem Tode, vom Tode her. Sie trinken vom Tode (sie trinken und trinken) sie trinken und trinken: dieses Trinken dauert fort, – es hört auch am Ende des Gedichts nicht auf.14
Was wäre dieser Selbstdeutung noch hinzuzufügen? Doch, die Behauptung, das Gedicht sei ein poetologisches, muss näher erläutert werden. „Todesfuge“ ist nicht nur ein Gedicht zur Shoah und ein Gedenkort für deren Opfer. Es ist – so wird hier behauptet – auch, und aus den ernstesten Gründen, ein literaturbesessenes Gedicht, das eine durchgängige Zitatstruktur aufweist.15
Auf die Spur dieser Entdeckung führte zuerst das fremdartige Eingangsbild „Schwarze Milch der Frühe“. Im Lauf von zwei, drei Jahrzehnten hat man herausgefunden, dass sich ganz ähnliche, ja, identische Oxymora-Wendungen nicht nur bei den Bukowiner Dichterkollegen Isaac Schreyer, Rose Ausländer und Alfred Margul-Sperber finden, sondern auch – und damit beträchtlich früher – bei Georg Trakl, Arthur Rimbaud, Jean Paul und im „Alten Testament“ („Klagelieder Jeremias“). Unter anderem in diesem Kontext tauchten dann auch jene von Claire Goll lancierten Plagiatsvorwürfe auf, die Celans Leben spätestens ab 1960 vergifteten. Doch es geht um viel mehr als um ein Oxymoron – die „schwarze Milch“ –, das vielfach weitergereicht wurde. „Todesfuge“ bilanziert umfassendere Traditionsbestände: Bachs „Kunst der Fuge“ und Goethes Faust, von Heine die „Lorelei“ und „Das Sklavenschiff“ und ein populäres Lied von Eduard Mörike, das von „Jung Volker“ erzählt; sodann die mittelalterliche Totentanzliteratur und Lyrik von Georg Heym und Georg Trakl. Auch kann der rhythmische Ablauf der Todesfuge mit seinen eingangs trochäischen, dann überwiegend daktylischen Taktreihen als verdecktes Zitat großer Teile der deutschen Lyriktradition gelesen werden, von Goethe bis zu Hofmannsthal und Rilke. Freilich sind es in „Todesfuge“ dominant fünfhebige Daktylen, die in der Geschichte der deutschen Lyrik kein direktes Vorbild haben. Am ehesten kann man an Rilkes Sonette an Orpheus (1923) denken, in denen zum Ende hin gehäuft Verse von ebendieser Gestalt auftauchen. Rilke hatte diese Sonette geschrieben „als ein Grab-Mal [sic] für Wera Ouckama Knoop“ (so lautet der Untertitel), eine jung verstorbene Tänzerin, die ihn berührende Aufzeichnungen hinterlassen hatte. Orpheus – das war der mythische Sänger, der mit seinem Gesang selbst Tiere, Pflanzen und Steine betören konnte. Sein Vermögen, die geliebte Tote Eurydike aus der Unterwelt heraufzuführen, ist im Zeitalter des „Zivilisationsbruchs“ obsolet. Orpheus’ Nachfolger als Sänger, Paul Celan, kann nur noch „die Sterbenden […] sprechen lassen“ und ihrer gedenken, nicht aber sie zum Leben erwecken.
Von den vielen mittlerweile erkannten Zitaten und Traditionsbezügen in der „Todesfuge“ sei hier nur noch eine signifikante Korrespondenz vorgestellt. Der Dichter verwendet an einer einzigen Stelle, in der vierten Strophe, einen Endreim:
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
Schon in der ersten Strophe war der „Mann“ mit der Farbe seiner Augen charakterisiert worden („seine Augen sind blau“). Natürlich gibt es Zufälle, aber es ist doch wahrscheinlich, dass Paul Antschel Eduard Mörikes Lied von „Jung Volker“ kannte, das dieser auch in seinen Roman Maler Nolten eingebaut hat.16 Die regelrecht programmatischen Parallelen scheinen mir so eklatant, dass Mörikes Gedicht hier vollständig eingerückt wird:
Jung Volker, das ist unser Räuberhauptmann,
Mit Fiedel und mit Flinte,
Damit er geigen und schießen kann,
Nach dem just Wetter und Winde.
Fiedel und die Flint,
Fiedel und die Flint!
Volker spielt auf.
Ich sah ihn hoch im Sonnenschein
Auf einem Hügel sitzen:
Da spielt er die Geig und schluckt roten Wein,
Seine blauen Augen ihm blitzen.
Fiedel und die Flint,
Fiedel und die Flint!
Volker spielt auf.
Auf einmal, er schleudert die Geig in die Luft,
Auf einmal. er wirft sich zu Pferde:
Der Feind kommt! Da stößt er ins Pfeifchen und ruft:
„Brecht ein. wie der Wolf in die Herde!“
Fiedel und die Flint,
Fiedel und die Flint!
Volker spielt auf.17
Schon das Gedicht „Russischer Frühling“ hatte Antschels Faszination durch die Gestalt des Nibelungenhelden Volker von Alzey gezeigt, der die Fiedel ebenso wie das Schwert zu gebrauchen wusste und zu Hagen von Tronjes getreusten Gefährten gehörte.18 Der Volker dieses Liedes von Mörike, jetzt ein blauäugiger Räuberhauptmann, setzt die Tradition fort, sowohl die Fiedel als auch seine Waffe (statt des Schwerts nun eine Flinte) virtuos zu gebrauchen. Er ist ein „Meister“ beider Disziplinen, und das qualifiziert ihn offenbar zum Anführer der Räubermeute, der er „wie der Wolf in die Herde“ einzubrechen befiehlt. Der Wolf und das Wölfische werden später bei Celan zu einem Symbol für tödliche Gewalt, wie weiter unten bei der Analyse des Gedichts „Wolfsbohne“ deutlich wird. Antschel-Celans blauäugiger „Mann“ variiert die Verbindung von Kunst und Töten. Er musiziert nicht mehr selbst wie dieser Räuberhauptmann Volker (oder Volker von Alzey), er lässt spielen, und zwar die, die zum Tode bestimmt sind.
Die Koppelung von Töten und einmaligem Endreim als quasi tödlichem ,Treffer‘, die Antschel-Celan in diesen beiden Versen formuliert, lässt sich nun auch als entschiedene Absage an „den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim“ verstehen, eine Absage, die schon in „Nähe der Gräber“ erwogen wurde. Denn das ist ein Thema der „Todesfuge“: Ihr Autor erkennt den Zusammenhang alles dessen, was fälschlich und sträflich auf Vollkommenheit, auf Perfektion zielt (das wird in „Wolfsbohne“ 1959 wieder eine Rolle spielen). Sein Gedicht unterstellt den Deutschen eine doppelte Meisterschaft, die in der Kunst und die im Töten. Enggeführt findet sich das zweifache Virtuosentum im Befehl des Mannes an die dem Tod überantworteten, ihr eigenes Ermordetwerden durch Musik und Tanz als Kunstwerk zu inszenieren:
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
In beiden Akten manifestiert sich der moderne männlich-narzisstische Traum, der Rausch des unbegrenzten Verfügens über eine Welt, die nur Material zu einem selbstgesetzten Zweck ist (im zweiten Fall ist es das ,Menschenmaterial‘), das diesem Zweck entsprechend zugerichtet wird. Celans Mann, sein Meister aus Deutschland, steht vor uns als die Inkarnation eines faszinierten Liebhabers der reinen, absoluten (im wörtlichen Sinn a-sozialen) Kunst, die er als Stimulus einsetzt, um den ebenso reinen, absoluten Akt des Massenmords in Gang zu setzen. Paul Celans Bild von Deutschland, von ,dem Deutschen‘ konzentriert sich im Jahre 1945 in diesem Befund. Er kennt natürlich noch nicht die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die ziemlich genau zur gleichen Zeit wie „Todesfuge“, nämlich 1944, in den USA entstand.19 In diesem „ihrem schwärzesten Buch“20 wird in subtilen Gedankengängen dargetan, dass Aufklärung totalitär ist bzw. sein kann. Indem ihr Anspruch per definitionem grenzenlos ist, sich alles und jedes inner- und außerhalb des Menschen unterwirft, wird, so sagen Horkheimer und Adorno, aufklärerische Rationalität zur nivellierenden „Instanz des kalkulierenden Denkens, das die Welt für die Zwecke der Selbsterhaltung zurichtet und keine anderen Funktionen kennt als die Präparierung des Gegenstandes aus dem bloßen Sinnmaterial zum Material der Unterjochung“.21 Gerade die Entdeckung und Handhabung der Vernunft, die keiner religiösen oder sonstigen Pietät mehr gehorcht, die Einsetzung des „Verstandes ohne Leitung eines anderen“ (Immanuel Kant) habe es praktisch möglich gemacht, so Adorno und Horkheimer, Vernunft als „Organ der Kalkulation“ zu gebrauchen, die „gegen Ziele […] neutral“ ist, bis hin zu ihrer faschistisch rationalisierten Gestalt“ in den Vernichtungslagern.22 Paul Celans „Meister aus Deutschland“ ist die frappierende poetische Verkörperung dieses Menschentyps, den unsere Zivilisation hervorgebracht hat.
Parallel zu dem deutschen wird in „Todesfuge“ ein zweiter Traditionsbestand in Erinnerung gerufen: der jüdische. Neben Jeremias Klageliedern (Kap. 4, V. 7/8) ist das der Psalm 137 (hier in der Übersetzung Luthers), der eingangs, wie „Todesfuge“, Terror gegenüber den in der Fremde Gefangenen und erzwungenes Musizieren zusammenführt:
An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hingen wir an die Weiden, die daselbst sind. Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserem Heulen fröhlich sein: „Singet uns ein Lied von Zion!“
Schließlich Sulamith, die Geliebte Salomos aus dem „Hohelied“: dort mit purpurfarbenem, nicht aschenem Haar ausgestattet; eine Gestalt des Versprechens der glücklichen Heimkehr nach Zion. Der Dichter stellt sie in seinem Gedicht am Ende unvermittelt einer, wo nicht der literarischen Lieblingsgestalt der Deutschen gegenüber: der Margarete aus Goethes Faust, hier mit blondem Haar (wie Heines „Lorelei“). Goethes Gretchen, die „Schmerzensreiche“, ist eine Verkörperung des Leidens, aber am Schluss vom zweiten Teil des Faust wird sie doch „gerettet“ , ganz im Gegenteil zur Sulamith in Antschel-Celans Gedicht. Ihr Haar ist „aschen“. Ihr gehört des letzte Vers des Gedichts, als Grablegung, stellvertretend für alle jüdischen Opfer.
Aber deutsche und jüdische Literaturtradition verlaufen ja nicht nur voneinander getrennt, vielmehr begegnen und durchdringen sie einander, so in den Bibelübersetzungen oder auch in den Gedichten Heinrich Heines. Seine „Lorelei“ „kämmte ihr goldenes Haar“, und sein „Superkargo Mijnheer van Koek“ lässt in der späten Ballade „Das Sklavenschiff “ die Schwarzen aus dem Senegal schon just so tanzen wie jetzt die SS ihre Opfer:
Musik! Musik! Die Schwarzen solln
Hier auf dem Verdecke tanzen.
Und wer sich beim Hopsen nicht amüsiert,
Den soll die Peitsche kuranzen.23
Nicht zuletzt gehören die vielen deutsch-jüdischen Dichter der Bukowina zum Erbe, das mit seiner lyrischen Musikalität und seinen Metaphern in die „Todesfuge“ eingeht. Bei der Revision dieses Vermächtnisses wird vollends deutlich, dass der junge Dichter, der ganz unbefangen an die deutsch-jüdische Symbiose geglaubt hatte, gerade dadurch in eine bis an sein Lebensende nicht aufhebbare existenzielle Not geraten ist. Mit der „Todesfuge“ beginnt eine Wiederannäherung des weitgehend Assimilierten an sein Judentum – in dem historischen Augenblick, in dem die jüdischen Menschen in Europa ausgelöscht werden. In welche neuen geistigen Räume, aber auch in welche Aporien der nicht gläubige, in vieler Hinsicht ganz ,westliche‘ Autor damit geriet, wird uns später noch beschäftigen. Hier genügt es festzuhalten, dass es sich bei der „Todesfuge“ um ein durch und durch ambivalentes Gebilde handelt. Es zitiert die bisher vereinten deutschen und jüdischen Traditionsbestände herbei und distanziert (teilweise: verwirft) sie nachfolgend als enteignete, nicht mehr fraglos verfügbare. Am Ende des Gedichts stehen die nicht mehr miteinander vermittelbaren Herkünfte, die deutsche und die jüdische, getrennt da. Das Gretchen Goethes, der noch aus dem „Hohelied“ übersetzt hatte, und die zu Asche gewordene Sulamith bleiben unversöhnt:
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith.
Gleichzeitig bewahrt das Gedicht jedoch eine berückende Schönheit, einen musikalischen Reiz, eine beinahe magische Zauberkraft, der selbst ein nicht auf Verharmlosung des Themas ausgehender Leser zu erliegen droht. Allzu leicht war es möglich, so zeigte sich in den 50er Jahren in der Bundesrepublik, die „Todesfuge“ einfach als ein über die Maßen schönes Gedicht zu lesen – und zu genießen. Der Dichter zog seine Konsequenzen daraus und begann, seine Gedichte in einer „,graueren‘ Sprache“ zu schreiben. Dieser neuen Sprache – so heißt es 1958 –
geht es, bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision. Sie verklärt nicht, sie „poetisiert“ nicht, sie nennt und setzt, sie versucht, den Bereich des Gegebenen und des Möglichen auszumessen.24
Im Februar 1970 wurde in Bukarest in der deutschsprachigen Zeitschrift Neue Literatur das Gedicht „Er“ von Immanuel Weißglas veröffentlicht, das nach dessen eigener – glaubwürdiger – Angabe 1944 verfasst wurde. Manchen Dichterkollegen von Celan und Weißglas war es schon lange vorher bekannt, nicht aber einer breiteren Öffentlichkeit. Weißglas’ Gedicht weist auf der Motivebene eine frappierende Ähnlichkeit mit der „Todesfuge“ auf, und diese Tatsache lässt die Frage noch einmal drängender erscheinen, was den singulären Rang von Antschel-Celans Gedicht eigentlich ausmacht.
ER
Wir heben Gräber in die Luft und siedeln
Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort.
Wir schaufeln fleißig, und die andern fiedeln,
Man schafft ein Grab und fährt im Tanzen fort.
Er will, daß über diese Därme dreister
Der Bogen strenge wie sein Antlitz streicht:
Spielt sanft vom Tod, er ist ein deutscher Meister,
Der durch die Lande als ein Nebel schleicht.
Und wenn die Dämmrung blutig quillt am Abend,
öffn’ ich nachzehrend den verbissnen Mund,
Ein Haus für alle in die Lüfte grabend:
Breit wie der Sarg, schmal wie die Todesstund.
Er spielt im Haus mit Schlangen, dräut und dichtet,
In Deutschland dämmert es wie Gretchens Haar.
Das Grab in Wolken wird nicht eng gerichtet:
Da weit der Tod ein deutscher Meister war.25
Auch in Weißglas’ Gedicht gibt es einen „deutschen Meister“, der „mit Schlangen“ spielt und dem chorischen Wir des Gedichts befiehlt, „Gräber in die Luft“ zu „heben“, während andere Sterbende fiedeln und tanzen. Auch von „Gretchens Haar“ in Deutschland ist die Rede. Anders als bei Antschel-Celan gibt es ein lyrisches Ich (Strophe 3), das ein „Haus“ in den Lüften gräbt für die Sterbenden. Auch Weißglas’ Gedicht ist also eine Grablegung. Abgesehen davon, dass mehrere dieser Motive in dem besagten Izvestia-Artikel (bzw. auf den Fotos) vorkommen, den vermutlich auch Weißglas gekannt hat, kann man fragen: Hat Antschel-Celan Weißglas vielleicht plagiiert? Oder muss man – wie ein Teil der Forschung – Weißglas’ Gedicht am besten ignorieren und der Plagiatsfrage aus dem Weg gehen, indem man behauptet, Antschel habe es nicht gekannt, als er „Todesfuge“ schrieb?26 Mir scheint der umgekehrte Weg vielversprechend: die beiden Gedichte zu vergleichen auf der Basis der Annahme, dass Antschel Weißglas’ „Er“ kannte, als er an seinem Gedicht arbeitete.27 Dabei zeigt sich sehr schnell, dass die Frage nach einem Plagiat falsch gestellt ist und geradezu in die Irre führt. Ja, auch Weißglas „Er“ ist dem erschütternden Thema des Massenmords an den Juden gewidmet und verwendet dabei suggestive Motive. Dennoch ist es mit seinen vier Reimstrophen ein durch und durch konventionelles, um nicht zu sagen: kunstgewerblich gedrechseltes Gedicht. Der ästhetische Gegensatz zu „Todesfuge“ könnte nicht größer sein.28 Auch Peter Horst Neumann spricht von der „Ohnmacht des traditionellen Gedichts vor dem Grauen“.29
Weißglas war ein halbes Jahr älter als Antschel; er starb 1979 in Bukarest. Die beiden kannten sich aus dem rumänischen Gymnasium in Czernowitz. Ein Jahr waren sie in Parallelklassen, dann nicht mehr, weil Weißglas eine Klasse wiederholen musste. Gemeinsam war ihnen jedenfalls ihr ausgeprägtes Interesse für Lyrik. Immanuel Weißglas hat sich 1975 in einem Brief an Gerhart Baumann so zu seinem Verhältnis zu Paul Antschel geäußert:
Im Bereich der Dichtung kommt es – mag auch der Umriß einer Metapher von einem Gebilde ins andere herüberleuchten – immer nur auf Gewinn und Verlust im rein Künstlerischen an. Und die „Todesfuge“ ist tief verankert im lyrischen Bewußtsein unserer Zeit. Parallelismen bezeugen keineswegs irgendeine Priorität. Ein ,kameradschaftlicher Kontrapunkt‘ verband oft ,zwei wortbesessene Freunde‘ in gemeinsamer Bemühung um das Gedicht. […] Es kam so: wir sprachen Verse vor uns hin, zu Gedichten geronnen. In einer solchen geistigen Nacht suchten uns die Bilder heim.30
Nun, so kann es gewesen sein. Und jedenfalls war es nobel von Weißglas, mit diesem mittelbaren Urteil über die „Todesfuge“ deren hohen Rang anzuerkennen. Aber wie haben andere über das Verhältnis der beiden zueinander geurteilt? Edith Silbermann31 und Alfred Kittner32 behaupten eine enge Dichterfreundschaft, einen permanenten literarischen Dialog zwischen den beiden bis in die Bukarester Zeit, während Ruth Lackner und Rose Ausländer eine solche Freundschaft entschieden dementieren (und Israel Chalfen folgt ihnen).33 Der engste Freund der Bukarester Zeit, Petre Solomon, spricht sogar von einer feindlichen Haltung Antschel-Celans gegenüber Weißglas.34 Möglich, und plausibel, wäre beides zugleich: ein intensiver literarischer Dialog, ein die meiste Zeit freundschaftlicher Wettbewerb der beiden angehenden Lyriker – und ein, zumindest auf Seiten Antschels, über die Jahre anwachsendes Gefühl der Unangemessenheit, der Verfehltheit der lyrischen Bemühungen des anderen.
Diese Hypothese führt zur „Todesfuge“ in ihrem Verhältnis zu Weißglas’ „Er“ zurück: Hat man einmal die durchgängige Zitatstruktur der „Todesfuge“ als eine Rechenschaftslegung gegenüber der literarischen deutschen Tradition erkannt, dann erscheint es sofort plausibel, dass sich Antschel von Weißglas’ „Er“ zu einer lyrischen Polemik, um nicht zu sagen: zu einer Par-Odie, einem Gegengesang, herausgefordert fühlen musste, der die von diesem selbst noch im Angesicht der Shoah eingehaltenen ästhetischen Konventionen sprengen sollte. Und dieser Gegengesang enthält am Ende sehr viel mehr als die sofort erkennbaren übereinstimmenden Motive. Er ist das bitterste, radikalste Deutschlandlied, das je geschrieben wurde.
Wolfgang Emmerich, aus Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen, Wallstein Verlag, 2020
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