DAS FLIESSBAND
Im Fließband der Zeit
Folgt Abend auf Abend
Wir zerstreuen uns vom Fließband der Fabrik
Und kehren im Fließband mit dem Schichtwechsel
aaaaaheim
Über uns
Zieht das Fließband der Sterne das Himmelsgewölbe
an unserer Seite
Starren Bäumchen im Fließband stumpf vor sich hin
Die Sterne sind sicherlich schon müde
Seit Tausenden von Jahren
Ist ihre Reise dieselbe geblieben
Und die kleinen Bäume sind alle krank
Staub, der wie Rauch dahingeht, und Monotonie
Haben Ihnen die Gestalt und Farbe genommen
Ruhend in ein und demselben Takt
Ging all das in mein Empfinden ein
Aber seltsam
Allein ich vermag nicht zu spüren
Meine eigene Existenz
Dem Waldesdickicht gleich, der Sternenfülle
Vielleicht aus Gewohnheit
Vielleicht aus Schmerz
Fehlt mir die Kraft, mich zu scheren
Um die Verdinglichung meines Körpers
Shu Ting
− Chinas Suche nach der verlorenen poetischen Form. −
Die chinesische Literatur ist berühmt für ihre Lyrik. Weit mehr als tausend Jahre war das shi-Gedicht das literarische Ausdrucksmittel des chinesischen Beamten-Literaten. Andere literarische Ausdrucksformen wie Erzählung, Singspiel oder Roman, die durchaus auch von einem Beamten-Literaten verfaßt sein konnten, galten dagegen aufgrund der verwendeten Umgangssprache (baihua) als zweitrangig. Hätte es also seit der Jahrhundertwende keine Wiederentdeckung und Neubewertung besagter Gattungen gegeben, so hätte von der chinesischen Literatur als einer Geschichte der Dichtkunst gesprochen werden müssen, einer Geschichte, die bereits 700 v.Chr. mit dem Buch der Lieder (Shijing) einsetzt und im 3. Jahrhundert von den Liedern des Südens (Chuci) fortgeführt wird. Beide Werke sind nicht nur erste Höhepunkte der chinesischen Literatur, sondern aus heutiger Sicht auch der Weltliteratur zuzurechnen. Bis in dieses Jahrhundert hinein haben sie nichts von ihrer poetischen Kraft und Wirkung eingebüßt. Obwohl das erste halbe Jahrhundert n.Chr. ebenfalls großartige Dichtkunst hervorgebracht hat, das Prosagedicht (fu), das archaische Lied (yuefu), die Dichter Xie Lingyun (385 bis 433) und Tao Yuanming (365–427), so schafft doch erst die Tang-Zeit (618–906) mit der meisterhaften Poetisierung der Außenwelt (jing) als Innenwelt (qing) und dem streng geregelten Versmaß die vollendete Form des klassischen Gedichtes (shi). Der Tang-Lyrik ebenbürtig sollte im folgenden Jahrtausend nur noch das klassische Lied (ci) der Song-Zeit (960–1279) werden, so daß das Tang-Gedicht (Tangshi) und das Song-Lied (Songci) bis heute – auch über China hinaus den Charakter vorbildlicher Poesie nicht verloren haben.
Die neue Lyrik (xinshi), die sich mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unter dem Einfluß des Westens und durch eine Neubewertung der klassischen Tradition und umgangssprachlichen Literatur zu entwickeln begann, hatte sich also gegen mehr als zweieinhalb Jahrtausende national und international anerkannter Poesie durchzusetzen. Dieser Prozeß kann heute, nach bald einem Jahrhundert, noch nicht als abgeschlossen gelten. Auch wenn die Schule der Obskurantisten (Menglongshipai) sich stolz als der eigentliche Vollender der neuen Lyrik versteht, so ist doch gerade das Obskure Gedicht (menglongshi) am Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre die von der offiziellen Kulturpolitik der VR China am heftigsten bekämpfte literarische Erscheinungsform seit der Liberalisierung im Oktober 1976. Insofern ist das neue Gedicht allgemein gesehen immer noch das „mißratene Kind“, von dem David Y. Chen spricht.
Den Beginn der literarischen Revolution (wenxue geming) im Bereich der Dichtkunst muß man nach ersten Lösungsversuchen von der Tradition (neue Thematik, neue Wortwahl, Sprengung der traditionellen poetischen Formen) Ende des letzten Jahrhunderts – hier ist besonders Huang Zunxian (1848–1905) und seine Forderung „Ich schreibe, wie ich spreche“ (wo shou xie wo kou) zu nennen – mit Hu Shi (1891–1962) ansetzen. Dessen Acht-Punkte-Programm (babuzhuyi, wörtl. Die Acht Nein) von 1916/17 verlangt – wohl unter dem Einfluß von Ezra Pounds A Few Dont’s (1913) und Amy Lowells Forderung nach common speech und poetry in the syntax of prose (1915) – die vollkommene Befreiung von der Tradition und den inhaltlich wie grammatisch klaren Ausdruck, welcher der Wahrheit, nicht der Pose (Simulierung von Schmerz z.B.) verpflichtet ist und in der Umgangssprache gründet. Auch wenn Hu Shi manchen als „Vater der modernen chinesischen Lyrik“ gilt, so sind seine 1920 publizierten Poetischen Experimente (Changshiji) mit ihrem „Gemisch aus klassischen Versformen und moderner Prosastruktur“ wenig geglückt. Lediglich die unter dem Einfluß von Rabindranath Tagore (1861–1941) entstandenen Kurzgedichte der Bing Xin aus dieser Zeit können als gelungene Verkörperungen des freien Gedichtes (ziyoushi) angesehen werden, wie es das Acht-Punkte-Programm intendiert hatte. Dem Problem der Form des neuen Gedichts, das als freier Vers von Prosa oft kaum unterscheidbar war und daher ebensogut mitunter als Prosatext hätte gezeilt werden können, wie z.B. Lu Xuns Prosagedichte (sanwenshi) der Wilden Gräser, widmen sich die beiden wichtigsten Vertreter der Neumondgesellschaft (Xinyuepai) Wen Yiduo und Xu Zhimo. Gegen die Praxis des freien Verses stellte Wen Yiduo in seiner Versschule (Shi de gelü) von 1926 die Forderung nach einer neuen Form, die durch ihre visuelle und klangliche Struktur die Gestaltlosigkeit des neuen Gedichtes beendete. Wichtig für die Poesie der Form (gelüshi) seien „der harmonische Rhythmus, die klare Stropheneinteilung, die Skandierung und der Reim“. Als vollendetes Beispiel für diese Forderung und als Vorbild für das neue Gedicht ist „Totes Gewässer“ (s. S. 65) in die Geschichte der modernen chinesischen Lyrik eingegangen. Mit seinem metrischen Maß von drei Zweierfüßen und einem Dreierfuß im Chinesischen, mit seinem Reim a b c b und mit seiner klaren Gliederung in vier Strophen à vier Verse plus Zeilenschluß stellt es, nicht zuletzt aufgrund seines synästhetischen Charakters, eine kompakte formale Einheit dar, die dem Fluß der chinesischen Sprache entgegenkommt.
Eine erfolgreiche Sinisierung westlicher Formen läßt sich für Xu Zhimo und weiter auch für Feng Zhi, der ebenfalls (wie Wen Yiduo und Xu Zhimo) zu den Formalisten zählt, konstatieren. Berühmt ist Xu Zhimos Limerick „Zufällig“ (s. S. 46), der nicht nur in den dreißiger Jahren – vertont – eine Art Gassenhauer darstellte, sondern auch heute noch auf Taiwan viel gesungen wird. Der ungeheuren Beliebtheit seines Verfassers, vor allem vor 1949, tat die vielfache Verwendung des für chinesische Leser ungewöhnlichen Enjambements (es kommt in der klassischen Lyrik nur ausnahmsweise, etwa bei Han Yu, 768–824, vor) ebensowenig Abbruch wie der gleichzeitige Gebrauch von Umgangssprache und klassischen Wendungen. Zu den vollendetsten Beispielen moderner chinesischer Lyrik im Gewand westlicher Form sind Feng Zhis Sonette zu rechnen. Zwar hat bereits Dai Wangshu um 1927 die bis dahin in China fremde Sonett-Form eingeführt, doch erst Feng Zhi hat diese mittels einer flexiblen Sprachgestaltung als Möglichkeit chinesischer Lyrik erwiesen. Vielleicht kam diesem Unternehmen zugute, daß diese Sonette zwar überwiegend unter dem Einfluß Rilkes stehen, aber gleichzeitig einen starken Einfluß von Lu Xuns Philosophie des Weges (s. die Erzählung „Meine Heimat“) zu erkennen geben.
Es war jedoch nicht nur der formale Aspekt, der das neue Gedicht als „mißratenes Kind“ erscheinen ließ, sondern auch die inhaltliche Seite. Hier müssen der Doppelcharakter der 4.-Mai-Bewegung von 1919 und die Ambivalenz des neuen Selbstbewußtseins erwähnt werden. Ba Jin (geb. 1904) hat in seinem Roman Die Familie (1931) am anschaulichsten und auch optimistischsten den Aufbruch der chinesischen Jugend am Ende des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts gezeigt. Mit dem Zerbrechen der traditionellen Bande von Familie und Gesellschaft erfuhr sich der Mensch in dieser Zeit zum ersten Mal als Person im modernen Sinne, d.h. als ein autonomes Ich. Guo Moruos Gedichte „Himmelshund“ (s. S. 35) und „Ich bin ein Bilderverehrer“ (s. S. 38) sind nicht nur bemerkenswert als Feier dieses neuen Ich, sondern auch weil noch nie zuvor ein chinesischer Dichter so oft Ich gesagt und sich damit als autonom gesetzt hat. Die traditionelle chinesische Lyrik kennzeichnet ja gerade aufgrund des konfuzianischen, daoistischen und buddhistischen Einflusses (alle drei Lehren legten dem Menschen nahe, sein Selbst in Familie/Staat, Kosmos oder Buddha aufzuheben) das Verschwinden des Ich hinter oder in den Dingen. Die Befreiung, die Guo Moruo stellvertretend für sein Zeitalter durch Walt Whitmans Leaves of Grass erfährt, und der Einfluß Goethes, Lord Byrons und des deutschen Expressionismus führen in den „Göttinnen“ zu einem ekstatischen Preisgesang des dynamischen Ich, das sein Vorbild u.a. in Prometheus und Faust hat.
Guo Moruo war es später selbst vorbehalten, das „splitternackte Ich“ aus dem „Prolog“ zu den „Göttinnen“ (s. S. 34) als Rhetorik zu entlarven und damit auf die andere Seite des neuen Ich hinzuweisen, die Ba Jin undiskutiert läßt. Der Verfasser der Familie sieht nur den Aufbruch, er vermag selbst mehr als ein Jahrzehnt nach der 4.-Mai-Bewegung, als aus der Rückschau der Roman entsteht, nicht zu sagen, wohin denn der Aufbruch ging. Der von der Tradition zu sich befreite Mensch bedurfte eines neuen Ortes, wollte er nicht seine Energie in der Welt der reinen Vorstellung einbüßen. Doch in dem Maße, wie sich aufgrund der real existierenden politischen und sozialen Gegebenheiten Ideale nicht individuell realisieren ließen, geriet das Ich in die Gefangenschaft seiner selbst, d.h., es konnte sich nicht mehr gesellschaftlich vermitteln und war schmerzvoll auf sich selbst zurückgeworfen. Zwar kann das lyrische Werk des Xu Zhimo als Ausdruck des sich über Werther definierenden und in seinem Leid befangenen Ich angesehen werden, doch der eigentliche Ort für die kritische Auseinandersetzung mit dem von Handlungshemmung und Melancholie gezeichneten Selbst findet in der Erzählkunst der Subjektivisten statt: Yu Dafu (1896–1945) begreift das moderne (männliche) Selbst als Pose, und Ding Ling (geb. 1904) sieht das moderne (weibliche) Selbst als Schwächung des Willens durch die Gefühlswelt. Die „Krankheit zum Tode“ war das dominierende Thema der zwanziger und dreißiger Jahre, das auch in der Lyrik von Xu Zhimo und Wen Yiduo und vielleicht noch in der Lebens- und Todesbereitschaft von Feng Zhis Sonetten mitschwingt.
Die Krise des modernen Ich führt zu einer Krise der Literatur. (Wen Yiduo: „Stille Nacht“, s. S. 68; He Qifang: „Das letzte Geleit“, s. S. 144, hier ist explizit von der „Grablegung des Selbst“ die Rede!; Lu Xun: „Wilde Gräser“, „Vorwort“, s. S. 75; Zang Kejia: „Der Schrei des Lebens“, s. S. 149). Diese Krise sucht die Intelligenz in den dreißiger Jahren durch eine Abkehr von jeglichem Ästhetizismus und eine Politisierung, Radikalisierung der Literatur zu überwinden. In der Folge verstummen die um lyrische Schönheit und Wahrheit ringenden Dichter, um später mit mehr oder minder sozialkritischen Gedichten wieder an die Öffentlichkeit zu treten. Sehr gute Beispiele dafür sind Dai Wangshu, der wichtigste chinesische Vertreter der Modernistischen Schule (Xiandaipai), und He Qifang, der ebenso wie Xu Zhimo und Wen Yiduo unter dem starken Einfluß der englischen Romantik (Keats, Shelley) zu schreiben begann.
Mao Zedongs Plädoyer für die Erneuerung der modernen Literatur ist damit durch die Intelligenz selbst bereits vorbereitet. Gleichwohl stößt seine Forderung, das Formproblem durch die Rückkehr zur Volkstradition zu lösen und mit der Übernahme einer dem Volke vertrauten Sprache sich auch eine neue geistige, sprich (tages)politische Richtung zu geben, 1942 in Yan’an nicht nur auf Zustimmung. Die Rückbindung an die Volkstradition bedeutet den Abschied nicht nur vom leidenden Selbst, sondern auch vom modernen kritischen Ich, das sich literarisch autonom äußert, und den Rückfall in die feudalistische communis opinio, die den Lyriker z.B. zum Hofpoeten degradiert. Und in der Tat hatten die nach 1949 gegen Hu Feng (1955) und Ding Ling (1957) ins Leben gerufenen Kampagnen ebenso wie die Kritik an der Hundert-Blumen-Phase (1957) das Ziel, den letzten Äußerungen eines autonomen Selbst die Basis zu entziehen. Bereits in den vierziger Jahren führt die Auslöschung des Ich zu einer Verflachung der chinesischen Dichtkunst. Besonders deutlich wird das am Beispiel von He Qifang und Zang Kejia, die ihre unter dem Einfluß des Westens erlangte poetische Ausdruckskraft zugunsten (tages)politischer Poeme aufgeben. Auch Ai Qing, einer der namhaftesten Dichter Chinas in diesem Jahrhundert, der immer das Lob der KPCh gesungen hat und nur dort sein poetisches Talent aufblitzen ließ, wo in schlichter Sprache die Eintönigkeit des Nordens beschrieben wurde, sieht sich gezwungen, von seiner in den dreißiger Jahren ganz der Not des Volkes gewidmeten Lyrik Abstand zu nehmen und sich noch eindeutiger auf die Seite der Partei(propaganda) zu schlagen. Seine Lyrik, auch in den dreißiger Jahren schon an der Grenze des Lyrischen (sein Langgedicht „Mein Vater“ liest sich fast wie ein Prosatext, die Zeilung in Verse wirkt willkürlich), kommt nicht nur nach 1942, sondern auch nach 1979 (des Dichters Rückkehr aus zwanzigjähriger Verbannung) nie über das Vordergründige hinaus. Daß Ai Qing nur sagt, was er sagt (A = A), und das in einer leicht lesbaren, leichtverständlichen Form, mag der Grund für seine Popularität sein.
Der Grund für den Mangel an guten Gedichten zwischen 1949 und 1979 (mit der Ausnahme einiger neuer Volkslieder und der Poesie von Mao Zedong, der sich nicht unter das Diktat der Volkstradition begab, sondern sich gleich den klassischen Versformen zuwandte) liegt nicht nur in der Ersetzung des lyrischen Ich durch ein kollektives (Partei-)Wir, das vorgab, im Namen aller Chinesen und jeder Generation zu sprechen, sondern auch in der voreiligen und verordneten Lösung des Formproblems neuer Dichtkunst. Die Losung hieß Klassik plus Volkslied (gudian jia minge) und hatte eine Bildwelt, ein Vokabular, einen Aufbau zur Folge, die sich leicht mit dem Buch der Lieder und der Tang-Lyrik in Zusammenhang bringen lassen. Neu war hier lediglich der „neue“ Geist, der den Menschen als Herrn seiner Geschichte und die Partei als Verwalterin dieser Geschichte pries. He Jingzhi (geb. 1924) ist u.a. mit seinen unzähligen „Ahs“ und „Ohs“ ein beredtes Beispiel für die affirmative Rolle der Lyrik nach 1949. Der Aufbau eines Gedichtes in den letzten drei Jahrzehnten gestaltete sich gewöhnlich in drei Stufen: Beschreibung (miaoxie) im Stil einer Anrufung oder eines Natureingangs, Ausführung (puchen) und Schlußsentenz (shenghua). Es fehlt also lediglich der Wendevers des Tang-Gedichtes. Die Lyrik seit 1949 insgesamt unterscheidet sich weniger von Werk zu Werk als vielmehr durch ihren zeitlichen Standort.
Lautete die Devise in den vierziger Jahren, die Dichtung „zu vermassen“ (dazhonghua) und „zu nationalisieren“ (minzuhua), so verlangten die fünfziger Jahre, „von den neuen Volksliedern zu lernen“ (xiang xin minge xuexi). In letzterem Fall konnte lediglich der Ton von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wechseln: In den fünfziger Jahren war der „Hirtenton“ (mugeshi) angesagt, in den Sechzigern die „Rationalität“ (lixing) und in der Kulturrevolution (1966–1976) das „Religiöse“ (zongjiaoshi). Kurzum, die Lyrik trug drei Jahrzehnte lang „ein offizielles Kostüm“ (guanfang secai), wie es der Hongkonger Publizist Bi Hua ausdrückte.
Der in den dreißiger Jahren durch die Intelligenz eingeleitete und in den vierziger Jahren durch Mao Zedong vollzogene Abschied vom Ausdruck subjektiven Schmerzes mag für die Zeit plausibel erscheinen: Es war die Aufgabe auch der Schriftsteller, das Leben aktiv gegen den japanischen Imperialismus und die Vernichtungspolitik der Guomindang zu verteidigen. Aber nach 1949 wuchs sich die Absage an Literatur als Selbstausdruck zu einem Herrschaftsinstrument aus, der Schmerz war nur als Ausdruck der leidvollen Vergangenheit legitimiert, in der Gegenwart hatte er nichts mehr zu suchen; da wurde er als „kleinbürgerlich“ oder gar als „antikommunistisch“, „antiparteilich“ diffamiert. Die Folge war „das ichlose Ich“ (yizhong feiwo de ,wo‘), „ein Stein zur Pflasterung der Straße“. Ohne Innenleben stellte es sich niemals die Frage nach seiner (Nicht-)Existenz, denn alles, was es war, war die Partei, wo sein Glück beschlossen lag.
Ein erstes Nachdenken über das Selbst des Menschen setzt mit dem Ende der Kulturrevolution ein, zunächst ganz systemimmanent im Rahmen der Wundenliteratur (shanghen wenxue). Der literarische Ausdruck des während der Kulturrevolution erlittenen Leides war hier funktionalisiert als ein Erklärungsmodell für die Notwendigkeit des politischen Wechsels im Oktober 1976. Dieser vor allem unter den jungen Schriftstellern verbreitete Trend verliert jedoch bald an Bedeutung, aber auch bei den 1978/79 rehabilitierten Schriftstellern der mittleren Generation findet die Suche nach dem Menschen (ren) innerhalb der gegebenen Ordnung statt. Die Frage nach den Konstituenten der menschlichen Existenz ist auch die Frage nach den historischen Ursachen für das Zerbrechen der Ideale, Ernüchterung, nicht Resignation kennzeichnet z.B. Wang Mengs Protagonisten. Eine radikale und schutzlose Suche nach dem Selbst (ziwo) und dem Begriff ren (Mensch) unternimmt dagegen erst die nach 1949 in der VR China geborene und herangewachsene Generation. Ihre Publikationsorgane sind zunächst nicht die offiziellen Zeitschriften und Zeitungen, sondern während des Pekinger Frühlings (1978–1980) selbstverlegte und hektographierte Magazine, die in Peking z.B. an der Demokratischen Mauer (Xidan) verkauft wurden. Die Herausgeber repräsentieren in erster Linie die städtische Jugend und Intelligenz, die während der Kulturrevolution aufs Land verschickt war. Sowohl die Desillusionierung gegenüber den Jahren 1966 bis 1976 als auch der Rückgriff auf westliches Denken, wie es in China bis in die vierziger Jahre hinein bekanntgeworden ist (das abendländische Denken der siebziger und achtziger Jahre scheint mir bisher eine untergeordnete Rolle zu spielen), bilden die Grundlage für eine vollkommen neue Sicht der VR China seit deren Gründung im Jahre 1949. Das bisherige Leben wird als Zufall, Abrichtung, Schicksal begriffen, die Kritik gilt nicht nur der Kulturrevolution, sondern der Entwicklung Chinas in den letzten drei Jahrzehnten schlechthin; manche Kritiker gehen so weit, die Partei als Hochburg nicht nur der Privilegien, sondern gar des Feudalismus zu verstehen.
Die künstlerischen Ausdrucksformen für diese neue Sehweise waren in erster Linie Erzählungen, Malerei und Lyrik. Nur in letzterem Fall läßt sich jedoch von einem in sich geschlossenen und weithin Wirkung erzielenden ästhetischen Gebilde sprechen. Es ist die Rede vom sogenannten Obskuren Gedicht (menglongshi), eine despektierliche Bezeichnung (so Feng Zhi zu mir im Mai 1982. in Heidelberg) für eine literarische Erscheinung, die nach Bi Hua als der heftigste Angriff gegen Chinas Entwicklung seit der Ausrufung der Volksrepublik 1949 auf dem Gebiet der Literatur angesehen werden muß. Sein offizielles Erscheinen in den nationalen Literaturzeitschriften hängt unmittelbar mit dem Niedergang der minban zazhi zusammen, also jener Organe, die Publikationsort für die nichtoffizielle Literatur und Kunst waren. Infolge der „Aufsaugungspolitik“, die das Ende des Pekinger Frühlings begleitete, wandern die Redakteure und Herausgeber besagter Magazine in die staatlich geleiteten Monatszeitschriften ab, wo nun ihre literarischen Werke zu erscheinen beginnen. Insofern markiert das Jahr 1980 in dem Journal für Poesie (Shikan) den offiziellen Beginn der Menglongshipai. Als das (vorläufige?) Ende muß der Oktober 1983 gelten, als innerhalb der Kampagne zur „Ausrottung der geistigen Verschmutzung“ (qingchu jingshen wuran) die Obskure Lyrik neben der neueren Frauenliteratur zum Hauptangriffsziel wird.
Das menglongshi galt jedoch nicht erst ab dieser Zeit als umstritten, es war von Anfang an beargwöhnt worden. Absurd (guguai), verschwommen (menglong), unverständlich (kanbudong), mysteriös (wuli kanhua) lautete der Tenor der Vorwürfe. Denn sowohl formal als auch inhaltlich stellte das Obskure Gedicht für den chinesischen Leser etwas völlig Neues dar. Doch der Vorwurf einer kranken Literatur wurde an die Gesellschaft zurückgegeben: Das menglongshi sei die Reaktion des Selbst auf die Krankheit der Zeit. Gegen literarische Erscheinungen als „Versteinerungen der Neuzeit“ (jindai huashi), gegen die Gewohnheit als „Feind der Poesie“ und „Maske der Gefühle“ wird Lyrik verstanden als „ein Spiegel, in welchem der Mensch sein Selbst (ziji) schauen kann“, als „die Geschichte der Seele des Dichters“, als „das seelische Porträt des historischen Prozesses“. Nicht die Partei und deren Direktiven sind Leitlinie des schöpferischen Prozesses, sondern der Mensch (ren) und dessen Innenwelt (neixin). Insofern fordert Liang Xiaowu den Dichter auf, „ins Innere des Menschen zu dringen“, eine Forderung, die die Kulturpolitik seit 1942 nicht nur nicht gestellt hatte, sondern die auch als Angriff verstanden werden mußte, da mit ihr die Innenwelt des Menschen sich als eigene Instanz neben und außerhalb der Partei zu etablieren begann. Shu Tings „Ich möchte, so weit wie möglich, mit meinen Gedichten meine Betroffenheit gegenüber dem ,Menschen‘ zum Ausdruck bringen“ und Yang Lians „Ich werde nie vergessen, als Mitglied der Nation (minzu) Lieder zu singen, aber zuallererst will ich als Mensch Lieder singen“ weisen in diese Richtung. Es ist nicht die Parteivernunft, die im Zentrum steht, sondern das Menschengefühl. Es ist auch nicht der Anspruch, für ganz China zu sprechen (der Anspruch der offiziellen Literatur seit 1949), sondern nur für eine einzige Generation, nämlich die Jugend (z.B. Shu Tings „Die Stimme einer Generation“, s. S. 215). Die neuen Schlagworte in dem Spannungsfeld von Glaubensverlust (s. Bei Daos „Ich glaube nicht“, S. 184) und Suche (zhuiqiu) lauten Liebe (aiging), Glück (xingfu), Leben (shenghuo) und vor allem immer wieder Mensch. „Statt das Leben widerzuspiegeln, gilt es nun, einfach das Leben zu beschreiben (miaoxie shenghuo).“ Warum? Die Widerspiegelungstheorie hat jahrzehntelang dazu herhalten müssen, das Wirkliche über den Begriff der Tendenz zu verklären, statt es zu erläutern. Insofern stellt der einfache Akt des Beschreibens, „Sagen, was Sache ist“ (zhenshi miaoxie), eine Herausforderung für die Lyrik seit 1949 dar, der das Wirkliche nur Durchgangsstadium zur apriori festgesetzten ideologischen Aussage war.
Mit der Konzentration auf Stimmung (qingxu), Selbst (ziwoxing), Subjektivität (zhuguanxing) geht auch eine neue Form einher. Zum ersten Mal in der modernen Literatur Chinas entfallen Satzzeichen, wird die Grammatik zerbrochen, werden Zeit und Logik bewußt aufgehoben, so daß auch von einer Thematik im herkömmlichen Sinne nicht mehr die Rede sein kann. Das Un(ter)bewußte, bald vier Jahrzehnte aus der Literatur verbannt, findet oftmals in emphatischer Zeilung sichtbaren Ausdruck. Es bedingt ein neues Vokabular, das des Schmerzes, und rückt trotz oftmals einfacher Sprache das Symbol, meist privates Zeichen, in den Mittelpunkt. Obwohl die offizielle Literatur für sich in Anspruch nahm, in der Sprache des Volkes zu schreiben, waren ihre Ausdrucksmittel oft zu genormt, um unmittelbar verständlich zu sein. Eine „lebendige Sprache“ (shenghuohua), eine „schlichte Sprache“ (danchunhua) und eine „Umgangssprache“ (kouyuhua) nimmt daher die Obskure Lyrik nicht ganz zu Unrecht für sich in Anspruch.
Während der Kampagne zur „Ausrottung der geistigen Verschmutzung“ lautete der offizielle Vorwurf gegenüber dem menglongshi, es sei neben seiner Unverständlichkeit nihilistisch, narzißtisch, es richte sich gegen die chinesische Tradition und stehe unter dem Einfluß von Sartre und Freud. Da die chinesische Literaturwissenschaft jedoch in erster Linie moralische Anstalt ist und insofern dort stehengeblieben ist, wo vor 150 Jahren im Falle von Flaubert und Madame Bovary die französischen Tugendwächter angesiedelt waren, ist ihr entgangen, daß das Obskure Gedicht alles andere als nihilistisch ist. Selbst Bei Daos „Die Antwort“, das als das erste nach 1976 veröffentlichte neue Gedicht und als das Gedicht der chinesischen Jugend anzusehen ist, endet trotz des „Ich glaube nicht“ mit dem Hinweis auf den Wendepunkt der Zeit und die kommende Generation. Oder auch das Gedicht „Auf den Winter zu“ (s. S. 198), das den Ausstieg propagiert, redet zu guter Letzt von der grundsätzlichen Erneuerung. Trotz aller Beschwörung der gegenwärtigen menschlichen Existenz als Verbrechen („Morgen, nein“, S. 196, „Komplize“, S. 204) ist die Hoffnung auf ein neues Dasein unüberhörbar. Die chinesische Literaturkritik unterschlägt in ihren Vorwürfen den Generationskonflikt und unterläßt es, klarzustellen, daß die Hoffnung der Jugend nicht die Hoffnung derjenigen ist, die in der chinesischen Revolution großgeworden sind, und umgekehrt. Die Generationskluft wird deutlich bei einem Vergleich der Lebensläufe von Ai Qing („Mein Vater“, S. 155) und Bei Dao („Ein Lebenslauf“, S. 202). Auch der Vorwurf eines extremen Individualismus, Egoismus, einer Ich- Verfallenheit ist nicht aufrechtzuerhalten, wie sich bei Shu Ting zeigen läßt. In der ständig wiederkehrenden Formula „Ich bin a“ repräsentiert es die chinesische Generation nach 1949, bzw. es steht für die Gesamtheit des weiblichen Selbst dieser Generation, das im historischen Prozeß, wo es Objekt war, nicht Subjekt, verdinglicht worden ist. Daher die starke Verwendung einer Körpersprache.
Die Auswahl moderner chinesischer Lyrik, die zum ersten Mal in deutscher Sprache vorgelegt wird, ist nach den Kriterien der Bekanntheit von Autor/in und der Bedeutung der jeweiligen Texte zusammengestellt worden. Eine Orientierungshilfe waren mir dabei Kai-yu Hsü, Twentieth Century Chinese Poetry, Garden City 1963, und Julia Lin, Modern Chinese Poetry, London 1972. Gedichte, die trotz eines gewissen Ruhms mehr von historischem Interesse sind und heute eher Vorurteile gegenüber einer Literatur aus China bestätigen würden, sind nicht aufgenommen worden. Die Übersetzungen, die um die Einheit von Exaktheit und sprachlichem Ausdruck bemüht waren, entstanden in Peking, Berlin und Cabbio. In Peking habe ich Bonnie McDougall für die Bekanntschaft mit Bei Dao und für ihre Übersetzungshilfen zu danken und Zhang Suizi für die Suche nach der Lyrik des Jahres 1984 (Bei Daos „Boddhisattva“, S. 205, erschien in Shanghai wenxue 8/1984). In Berlin war mir Zhang Xianzhen bei schwierigen Textstellen behilflich und machte mich gleichzeitig auch auf Zheng Chouyu aufmerksam. In Cabbio danke ich dem Bäumchen über der Alpe di Germania für die Suche nach dem Titel dieser Anthologie, der auf Bei Daos Zyklus „Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne“ (Anspielung auf Campanellas Sonnenstaat; das Gedicht „Leben“, S. 183, stammt hierher) zurückgeht. Ich habe auch Rupprecht Mayer, München, zu danken, der mich mit der Schönheit von Shu Tings Gedichten vertraut machte, und dessen (bald erscheinende) Übersetzungen von besagter Autorin mir ein Leitbild waren.
Wolfgang Kubin, Vorwort, November 1984
die chinesische Literatur in ihrer Funktion und Bedeutung wahrzunehmen. Dabei kontentrierte sich die Aufmerksamkeit, zumindest für das „moderne China“ seit 1919, vor allem auf Erzählung und Dramatik. Die chinesische Literatur ist jedoch berühmt für ihre Lyrik. Hätte es seit der Jahrhundertwende keine Wiederentdeckung und Neubewertung der umgangssprachlichen Formen von Erzählkunst und Singspiel gegeben, so hätte sich von der chinesischen Literatur als einer Geschichte der Dichtkunst sprechen lassen. Aufgrund dieser langen Tradition mußte sich die neue Lyrik die sich mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unter dem Einfluß des Westens und einer Neubewertung der klassischen Tradition zu entwickeln begann, gegen mehr als zweieinhalb Jahrtausende national und international anerkannter Poesie durchsetzen. Die Auswahl moderner chinesischer Lyrik, die hier zum ersten Mal in deutscher Sprache vorgelegt wird, versucht, diesen Prozeß zu dokumentieren.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1985
Thomas Kliemann: Liebe zu zwei Welten
General-Anzeiger, 16.12.2020
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