DER Winter ist zuversichtlich.
Aber die Schneegrenze täuscht
und ihr Fall
meint es nicht ehrlich mit ihm.
Sommers war hier und so weiter
jetzt wäre hier nichts
als steigendes Weiss, die Steigung
führt unter die Erde
und unter der Erde so weiter
jeder Vorschritt weiss
dass er aussetzen muss
und zurück an den Anfang der Steigung
Der Winter ist meine Zuversicht.
Eines Morgens wird sie
südaussen der Steine
die Krokusse einzeln
von Flocke zu Flocke
sät sich der Winter, sagt
der Schnee von den Steinen
mit dem üblichen Verlegenheitsgefühl
zwischen Basel XIII und Den Helder IV
Herzblatt-Programme, der Wasser-
spiegel im Klo
wird unruhig. Hinter dem Sonntagsstüll
des hinreichend hohen
Fensters fällt eine Tür ins Schloss.
Nachrichtenströme, Diskursebenen, Inter-Netz: das überträgt, überlagert, überschichtet, schiebt und verschiebt, schlingt und verschlingt sich zu Knoten, an denen bei allem Beharrem kein Element in Bewegung ist. Diese Fremdkörper im Zeichen-Energie-Universum sind nicht stumm. Jeder spricht die Sprache der Sprachen, aus denen er sich bildet und umbildet, jeder beharrlich seine eigene: Fremdkörpersprachen.
Gollenstein Verlag, Klappentext, 2001
„Ein Gedicht ist immer die Frage nach dem Ich.“ In Wolfram Malte Fues’ 1995 erschienener Aufsatzsammlung Text als Intertext bildete Benns früher Befund die zentrale Referenz für ein Bild des dichterischen Ichs als „Objekt, das sich der binären Grundoperation moderner Vernunft, Identifikation und Differenzierung vollkommen beugt, um mit einer eleganten Verbeugung einen Seitensprung zu machen und im Augenblick seiner Objektivierung neben sich selbst zu stehen, nicht zu sein, was es ist, dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten zärtlich und unbeugsam Hohn zu sprechen“.
Im dem dieser Tage aufgelegten Buch Fremdkörpersprachen nun realisiert Fues den postulierten „Seitensprung der Verbeugung“ in eigenen Gedichten. Es ist, nach Fremde Systeme (1994), Fues’ zweite Lyrikveröffentlichung. Mit ihr bestätigt sich der in Basel lehrende Autor als eine der bemerkenswertesten Stimmen einer Gegenwartspoesie, die immer auch die Bedingungen ihres Entstehens und den Status der vermittelnden Instanz reflektiert. Man darf in bezug auf Fues’ Fremdkörpersprachen, gerade wo sie ein Ich von Welt und Sprache als einerseits knapp identisch, andererseits als (ebenso knapp) unidentifizierbar setzen, von im klassisch-modernen Sinn „kritischen“ Gedichten sprechen.
Die Gestalt eines allein in Schnitten, Fugen und Fransen, in korrespondierenden Lockerungen sich ausbildenden Ichs zeichnet Fues in seinen Gedichten. Lesbar wird sie als Selbstentfaltung einer präzisen Unentschiedenheit, die ihr eigenes wie jedes andere auch noch mögliche Ich aufgeben möchte, im doppelten Wortsinn, gleichsam prospektiv sich verlierend an jenes „Vergessen gewesen zu sein“, das bereits Samuel Beckett propagierte und durchführte.
Fues geht einen Schritt über Beckett hinaus. „Vergiss anders“, lautet seine nüchterne Parole für ein sprach- und erkenntnisästhetisches Unternehmen, in dem sich „alles, was spurloser sein kann als nicht“ herausstellen und erhalten soll. Man möchte von einer Selbstverwaisung unseres pronominal verkitteten Welterlebens sprechen; mit einem eher elegischen als nur „eleganten“ Kalauer unterstellt sie Fues einem „kategorischen Imperfekt der dritten Person Unzahl“. Der Ort, an dem Fues dieser betörend dubiosen Inkarnation eines freigestellten, frei gesetzten Subjekts zu ihrem unabschliessbaren Gewesensein verhilft, ist ein Gedicht und heisst „Ellipse“:
Unten vor der Tür
geben die Türen
einander die Tür in die Hand
ruhe- und reibungslos
in Angeln und Ösen.
Ich
vor der Hand
auf der anderen Seite der Türe
muss (m)i(h)r noch Rede und Antwort stehn
oben am Eingang.
Viele wesentliche formale und inhaltliche Motive von Fues’ Fremdkörpersprachen sind in dem Beispiel konzentriert. Hervorzuheben wären etwa die Raffung und die metonymische Eindellung unserer raum-zeitlichen Kategorien, die wechselseitige Durchdringung von Objekt(en) und Subjekt(en), die Überblendung von Abstraktem und Konkretem, von Wörtern und Dingen, Begrifflichem und Zeichenhaftem. In der poetischen Ellipse fokussieren sich Ich- und Fremdwahrnehmung im Bild eines durch bewegte Räume gleitenden Scharniers, „reibungslos“ sich aufreibend zwischen Aufschub und Erwartung, zwischen „unten innen“ (wo ich bin oder lauere) und „oben aussen“, wo ich (mir als Tür und der Tür selbst) Rechenschaft ablegen werde (über das schiefe Hochsteigen der Ausgänge in einem Rohrsystem, das sie als Eingang immer schon passiert haben). Und all dies nur, um „vor dem Einbrechen der Nacht ohne Nachricht von mir zu sein“. Zu begreifen ist das „vor der Hand“ nicht; zu verstehen, wenns denn sein muss, wiederum nur in einem Bild: als „Gleichung für das Vergehen und das Knistern des Dunkelns im Dunkeln“. Man möchte bei einer Lyrik, die ihre medialen Aporien in derart stringenter Weise zu Kunst macht, nur zitieren; man muss es bei Erhellungsgesten belassen.
Als synästhetisch aromatisierte Stauchungen unseres genuinen Dazwischenseins können Fues’ Gedichte gelesen werden. Ihre Rätselhaftigkeit ist nicht die der notorischen hermetischen Knacknuss, vielleicht aber, wo ein archimedisch verbindliches Geheimnis der Welt nicht mehr auszumachen ist, die des Nussknackers. Womöglich hat man es bei Fues’ Gedichten mit Gerätschaften, mit Instrumenten im musikalischen Sinn zu tun: mit Klangkörpern. Vermittelt, interpretiert und realisiert wird durch diese nicht ein irgend Innen- oder Aussenliegendes, sondern ein Gefüge von Umschlagplätzen, Gelenkstellen – von Intertexten.
Dass Wolfram Malte Fues als Literaturwissenschaftler sich im „Papieraschestrom“ der Schriften und Kommentare bestens auskennt, wird in so manchen Anklängen lesbar. Schon das Eingangsgedicht etwa potenziert Günter Eichs legendäres Restinventar zu einem possesiven Nichts. Etliche Komposita und Neologismen erweisen Paul Celan die Reverenz, während „weisser geforderte Wolken“ und andere „freundlich äussere Dinge“ eher an Trakl und Hölderlin erinnern. Dass Fues ein aufmerksamer Beobachter etwa auch von Paul Wührs grammatikgenerierter Lyrik ist, kann nur vermutet werden.
Es ist Fues’ kunstvoll umgesetzte „Empfindungsempfindlichkeit“ für die im überindividuellen Zwischentext waltenden semantischen Energien, die seine Gedichte zu ganz unverwechselbaren, eigenen macht. Und damit zu unseren. „Warum lesen Sie eigentlich nicht so, wie ich schreibe?“, wunderte sich schon Gertrude Stein. In der Antwort seiner eigenen Fremdkörpersprache darf der Leser wie der Rezensent von Fues’ ingeniöser Wortkunst zum Mitarchitekten des „Kartenhauses“ auf dem babylonischen „Magnetberg“ werden, über dessen weder von Sinn noch von Sinnen zu bestätigendem allerschmalsten Grat wir unsere „Flaggalphabete an die Hippe“ (bei Jandl hiess das noch Mütze) hängen – unter den Sirenentönen einer „getigerten Trompete“.
Deren Nachhall scheinen die dem Band beigegebenen Zeichnungen der Basler Künstlerin Mireille Gros zu kartographieren. In dieser Karte, die die Landschaft ist, wird jeder Vers zur sozusagen erstgültigen letzten Warnung:
Der Wind im demnächst ins Niemandsland faulenden Suchgitter faltet den Plan.
Vor einem unfreiwilligen Verpassen des Augenblicks der Faltung möchten uns Wolfram Malte Fues’ kluge, reiche und, man wird es trotz ihrer Perfektion so schlicht sagen dürfen, schöne Gedichte bewahren.
Bruno Steiger, Basler Zeitung, 9.10.2001
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