ALS ICH EINES ABENDS AUSGING
Als ich eines Abends ausging,
durch die Bristolstraße schritt,
Da war die Menge am Gehsteig
Ein Weizenfeld vor dem Schnitt.
Ich hörte beim schäumenden Fluß,
Wo der Eisenbahnbogen sich schwang:
„Liebe hat kein Ende.“
Das war ein Verliebter, der sang.
„Ich liebe dich, Liebe, ich lieb dich,
Bis der Fluß den Berg überspringt,
Bis sich China und Afrika treffen
und der Fisch auf der Straße singt.
Ich lieb dich, bis vom Wäschestrick
Der trocknende Ozean weht
Und eine schreiende Gänseschar statt
Der sieben Sterne am Himmel steht.
Wie Hasen sollen die Jahre
Laufen. Mein Arm hält
Die Blume aller Zeiten
Und die erste Liebe der Welt.“
Von den Glockentürmen der Stadt
Aber scholl es und schrie:
„Laß nicht die Zeit dich trügen,
Du besiegst die Zeit nie.
In den Wühlstollen des Alptraums,
Wo Gerechtigkeit nackt sein muß,
Wartet die Zeit unter Schatten
Und hustet vor deinem Kuß.
In Kopfschmerz und in Sorgen
Wird das Leben im Nebel verstreut,
Die Zeit tut, was ihr einfällt,
Morgen oder heut.
In viele grüne Täler
Weht der schlimme Schnee;
Zeit bricht die verschlungenen Tänze
Und des Tauchers Sprung in die See.
O tauch deine Hände ins Wasser,
Tauch ein bis ans Handgelenk,
Starre, starre ins Becken
Und was du versäumt hast, denk.
Der Gletscher poltert im Kasten,
Im Bett die Wüste ächzt,
bis die Straße ins Land der Toten
Aus dem Sprung in der Teetasse wächst.
Wo die Bettler Banknoten verlottern
Und der Riese die Kinder nicht frißt
Und der Däumling ein schrecklicher Raufbold
Und Mariechen gefallen ist.
O schau, schau in den Spiegel,
Schau deinen Kummer an;
Dir auch ist Leben ein Segen,
Dir, der nicht segnen kann.
O steh, steh beim Fenster,
Jetzt kommt der Träne Schmerz;
Du sollst lieben den krummen Nachbar
Mit deinem krummen Herz.“
Es war spät, spät am Abend,
Keine Glocke rief;
Die Liebenden waren gegangen,
Und der Fluß rann tief.
Übertragen von Ernst Jandl
Wystan Hugh Auden liest „As I Walked Out One Evening“ (1937).
Er entsprach nicht dem Bild, das ich mir, aus Nachwortinformationen („neben Pound, Eliot der bedeutendste…“ usw.), von ihm gemacht hatte. Er war kein Träger seines Ruhmes: über Auden sprach er ungern. Ich wunderte mich, daß er Hausschuhe trug, auch auf der Straße. Jahre später, in einem Sommer am Meer, las ich einen Nachruf. Ich erinnere mich an das Zitat: „Und Gedanken an meinen eigenen Tod / wie das ferne Rollen / von Donner beim Picknick.“ Inzwischen hatte ich seine Bücher gelesen und wußte, wer tot war: ein Poet im ursprünglichen, ein Literat im besten Sinn, ein Mann, seinem Talent gewachsen.
Heiner Müller, Verlag Neues Leben, Klappentext
Für Franco Buffoni
1
Im Jahr 1984, nach dem Symposium W.H. Auden 1907–1973, das von der Niederösterreich-Gesellschaft für Kunst und Kultur, zusammen mit der Internationalen Auden-Gesellschaft und dem British Council veranstaltet wurde, stiftete das Land Niederösterreich einen Preis für Übersetzer, den Wystan-Hugh-Auden-Übersetzer-Preis.
Wie kommt es, daß der Name Auden mit einem derartigen Preis in Zusammenhang gebracht wird? Auden war ein großer Schriftsteller, ein Dramatiker, ein Essayist, ein hervorragender Librettist, vor allem ein großer Dichter, einer der wichtigsten und einflußreichsten in der englischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Zugegeben, er veröffentlichte eine Anzahl von Übersetzungen, die, vor allem aufgrund des eigenwilligen Konzepts vom ,Übersetzer‘, zum Werkkanon des Autors gerechnet werden können. Aber kann man ihn deswegen als einen großen Übersetzer bezeichnen und einen Übersetzerpreis nach ihm benennen? Meiner Meinung nach, eher nicht. Es gibt zwar zahlreiche Beispiele berühmter Dichter in der europäischen Literaturgeschichte, die übersetzten, aber auch wenn ihre Übersetzungen als hervorragend oder anregend betrachtet werden, so gilt in der Regel das Urteil eines italienischen Kritikers über die Übersetzungen des großen Dichters Ungaretti:
Ungeachtet des außerordentlichen technischen und interpretatorischen Geschicks Ungarettis in diesen Arbeiten, sollte klar ausgesprochen werden, daß sie als zweitrangige Hervorbringungen betrachtet werden sollten, interessante Übungen in technischer Finesse, Quellen der Inspiration, aber eben als Arbeiten, die mit jenen gänzlich Schöpferischen nicht vergleichbar sind.1
Das ist nicht überraschend, ist doch die Hauptaufgabe jedes Dichters, seine eigene Dichtung zu schreiben, eine Aufgabe, die die Konzentration aller seiner kreativen Kräfte benötigt.
Je größer er sein will, desto ichbezogener muß er sein. Und groß wollen sie alle sein! I should like, schrieb Auden in einem Gedicht, to become, if possible / a minor Atlantic Goethe.2 Dieser natürliche Egoismus des Dichters steht in klarem Gegensatz zu den Eigenschaften, die ein Übersetzer haben müßte, die Heine z.B. in A.W. Schlegel feststellte, dem großen Übersetzer Shakespeares, als er von der weiblichen Natur von Schlegels Talent sprach und seiner charakterlosen Geschicklichkeit, die sich liebevoll und getreu dem anderen Geist anpaßt. Der natürliche Mangel an weiblicher Anpassung und die eigensinnige männliche Behauptung der Selbständigkeit der eigenen schöpferischen Persönlichkeit machen aber den Dichter ziemlich ungeeignet für die Rolle des Übersetzers. Als Übersetzender ist er zumeist unfähig, sich mit der Position eines Mit-Autors abzufinden – die jeder gute literarische Übersetzer einnimmt – und schafft ein neues Original in seiner Sprache, das auf dem Text von jemand anderem in einer anderen Sprache basiert. Das trifft auf Stefan Georges Übersetzungen von Baudelaire zu, die sich wie Gedichte Georges lesen, oder auf Rilkes Übersetzungen von Valéry, die einen penetranten, unverkennbar Rilkeschen Ton haben, oder auch von Ingeborg Bachmanns Übersetzungen von Ungaretti… Das trifft auch auf Audens publizierte Übersetzungen zu, die weniger als Übersetzungen an sich von Interesse sind, als vielmehr wegen der Tatsache, daß der große Dichter Auden damit befaßt war, sie zu machen.
2
Lange Zeit hindurch war das englische Literaturleben durch eine erstaunliche Autarkie gekennzeichnet. Erst im Zweiten Weltkrieg änderte sich diese Situation. Die allmähliche Integration von Immigranten vom Kontinent, besonders aus deutschsprachigen Ländern, weckte größeres Interesse an der europäischen Literatur. Vor diesem Hintergrund sind Audens zahlreiche und über verschiedene Lebensabschnitte verstreute Kontakte mit den Literaturen Europas exzeptionell. Die Gründe dafür finden sich in Audens Biografie. Auf seinen häufigen Reisen nach Österreich und Deutschland zur Vorkriegszeit, während seiner Emigration in den USA in den 40er-Jahren, wo er mit Emigranten aus Europa in Verbindung trat, während seiner Aufenthalte in Italien in der Nachkriegszeit und vor allem während seiner Sommer in Österreich zwischen 1958 und 1973 nahm Auden sowohl in seiner kritischen Prosa wie in seiner Dichtung eine große Zahl kreativer Anregungen auf, und die Wärme und der positive Geist, mit dem er auf viele davon reagierte, sind sicher bedeutsame Faktoren in seinem Schreiben und seiner Persönlichkeit gewesen.3
Eine seiner Reaktionen auf diese Anregungen war das Übersetzen. Alle Übersetzungen Audens wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht und veröffentlicht, mit Ausnahme der Übersetzung der Liedtexte in Ernst Tollers Theaterstück Nie wieder Friede!, einer Satire auf aktuelle politische Ereignisse, die in England 1937 unter dem Titel No more Peace veröffentlicht wurde.
19 Jahre später stellte Auden seine Übersetzung einiger Gedichte von Adam Mickiewicz für eine englische Ausgabe ausgewählter Gedichte des polnischen Dichters aus dem 19. Jahrhundert zur Verfügung. Mit der Übersetzung von Goethes Italienische Reise im Jahr 1962 erreichte Audens lebenslange Auseinandersetzung mit Goethe ihren Höhepunkt. Er hatte dieses Projekt viele Jahre lang im Auge gehabt, in der Hoffnung, eines Tages eine angemessene und lesbare Übersetzung4 dieses Buches zu machen. Zusammen mit Horaz und Hammarskjöld scheint Goethe eine Art Modellgestalt für Auden gewesen zu sein. Er glaubte, in seinem eigenen Leben ein Muster erkennen zu können, das Analogien zu dem des deutschen Dichters aufwies. Im Jahr 1964 veröffentlichte er eine Übersetzung von Dag Hammarskjölds Vagmaerken, einer Sammlung von ,Gedanken‘ und ,Haiku‘-artigen Gedichten. Auden fühlte eine starke Nähe zu dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Er glaubte, daß Hammarskjöld mit seinem exzeptionell aggressiven Super-Ego5 die gleiche Art von Versuchung, den Messias zu spielen, erfahren hatte, die ihn, Auden, in den Dreißigerjahren heimgesucht hatte. Bald darauf übersetzte er einige Gedichte seines schwedischen Zeitgenossen Gunnar Ekelöf, die 1971 erschienen; 1969 veröffentlichte er englische Versionen von Gedichten des russischen Dichters Andrei Voznesensky. 1968/69 unternahm er ein größeres Übersetzungsprojekt: er übertrug zwei der ältesten Werke der Isländischen Mythologie, Voluspa und Die Ältere Edda, ins Englische. 1971 steuerte er zu einer englischen Ausgabe von Goethes Die Leiden des jungen Werthers und „Novelle“ seine Übersetzung der Gedichte bei. Zwei Jahre nach seinem Tod erschien seine Übersetzung eines Gedichtbandes des Schwedischen Nobel-Preis-Trägers Pär Lagerkvist, eine Arbeit, die ihn während seines letzten Sommers in Kirchstetten beschäftigt hatte.
Erwähnt werden müssen auch Audens, in Zusammenarbeit mit Chester Kallman entstandenen Übersetzungen von Librettos von Opern von Mozart, Dittersdorf und Weill; und die Übersetzung von 8 Songs aus Brecht’s Mutter Courage, die Auden in den 1969 erschienen Band City Without Walls aufnahm.
3
Die Anzahl der Sprachen – Deutsch, Italienisch, Schwedisch, Isländisch, Russisch, Polnisch -, aus denen Auden übersetzte, ist beeindruckend. Sogar noch beeindruckender, wenn man in Betracht zieht, daß Auden, der so wie viele Englischsprachige nicht besonders begabt war für das Erlernen und Sprechen fremder Sprachen, die meisten dieser Sprachen überhaupt nicht beherrschte.
Sein Deutsch soll ausgezeichnet gewesen sein, sowohl die Fähigkeit zu lesen wie auch die zu sprechen. Er hatte es zu seiner zweiten Sprache gemacht. Er soll imstande gewesen sein, die kleinsten sprachlichen Feinheiten im Deutschen zu erfassen. Er verstand sogar Wiener Dialekt und konnte ihn nachmachen. Sein Italienisch soll weniger gut gewesen sein. Seltsam mutet die Abwesenheit des Französischen aus dem Sprachkanon Audens an. Aber Auden, der sein Leben lang eine Vorliebe für nationale Vorurteile hatte, hatte eine notorische Abneigung gegenüber den Franzosen, ihrer Sprache und Kultur, die wahrscheinlich auf die übertriebene Verherrlichung alles Französischen durch die vorhergehenden Generationen in England zurückzuführen ist.
Wie schaffte er es also, russische, schwedische, polnische Gedichte zu übersetzen?
Während seiner ganzen literarischen Karriere war Auden ein Genie der Zusammenarbeit, bei seinen Theaterstücken, seinen Essays, den Librettos, den Anthologien – und vor allem bei seinen Übersetzungen. Da er die meisten Sprachen, aus denen er übersetzte, nicht beherrschte, mußte er sich auf die Hilfe von „Muttersprachlern“ verlassen. Und Auden, der große Dichter als Übersetzer, ist umgeben von einer Schar williger Helfer. Zuallererst ist da sein ,chum‘, Chester Kallman, für die Übersetzung der Librettos, dann die deutsche Emigrantin Elizabeth Mayer, für die Übersetzung von Goethes Italienische Reise, dann Leif Sjöberg, Professor für Skandinavische Sprachen und Literatur, Paul B. Taylor und Peter H. Salus, Experten für isländische Literatur, Max Hayward, Übersetzer und Experte für russische Literatur und eine ganze Anzahl von weniger namhaften ,native speakers‘, die anonym blieben.
Audens Vorgehen war immer das gleiche: ein Muttersprachler oder ein Experte in der jeweiligen Sprache verschaffte ihm eine wörtliche Übersetzung, von der er eine ,polished version‘ herstellte. Bei allen seinen Übersetzungen, die er entweder aus finanziellen Gründen machte – bemerkenswert oft der Fall bei Audens literarischer Produktion im allgemeinen – oder aus einem Gefühl der Wahlverwandtschaft heraus – z.B. Goethe oder Hammarskjöld – war Auden abhängig von einer von jemand anderem hergestellten Interlinearversion.
Sein Beitrag bestand im ,Ausfeilen‘ der Interlinearversion, indem er diese seinen Vorstellungen von der jeweiligen literarischen Gattung gemäß bearbeitete, und im Überlassen seines Namens als Dichter für die Veröffentlichung.
Sich derart auf den Einsatz seines außergewöhnlichen Sprachgefühls und -könnens und seinen literarischen Ruhm beschränkend, scheint mir Auden, in seiner Tätigkeit als Übersetzer, mehr ein genialischer Herausgeber gewesen zu sein als ein Übersetzer.
In dem Buch Il Malpensante gibt der Autor Gesualdo Bufalino eine hübsche Definition des Übersetzers:
Der Übersetzer ist offensichtlich der einzige authentische Leser eines Textes. Sicherlich authentischer als jeder Kritiker, vielleicht authentischer als der Autor selbst. Denn der Kritiker ist nur der wankelmütige Freier eines Textes, der Autor der Vater und Ehemann, während der Übersetzer der Liebhaber ist.6
Wenn, nach Bufalino, der Übersetzer als der einzige authentische Leser der wahre Liebhaber eines Textes ist, könnte Auden, der immer ein Leser in eigener Sache war, als gönnerhafter Zuhälter bezeichnet werden, benützte er doch das Übersetzen dazu, sich mit seinem virtuosen Sprachgeschick und seiner enzyklopädischen Gebildetheit, in der für ihn typischen Diva-Manier, zu brüsten.
4
In der Einleitung zur Übersetzung von Goethes Italienische Reise, die, keineswegs überraschenderweise, mehr über Auden mitteilt als über Goethe und sein Werk, vergleicht Auden den übersetzten Text mit einem Text in Blindenschrift: der Übersetzer müsse annehmen, daß seine Leser das Original zu lesen nicht fähig seien noch jemals fähig sein würden. Der übersetzte Text, der mehr oder weniger fest auf dem Original basiert, müsse daher eine autarke Wesenheit in der neuen Sprache sein. Um das zu erreichen, sei die schwierigste Aufgabe des Übersetzers nicht, wiederzugeben, was der Autor sagt, sondern wie er es sagt, also den spezifischen Tonfall zu treffen.
Wie soll ein Mensch, der deutsch dachte und schrieb, englisch denken und schreiben und trotzdem eine einmalige Person mit dem Namen Goethe bleiben?7
Aber zu wissen, wie Goethe geschrieben hätte, wäre Englisch seine Muttersprache gewesen, würde die Fähigkeiten eines Mediums erfordern, sagt Auden, womit er insgeheim seine eigenen Talente und Leistungen als Übersetzer mystifiziert. Was er tatsächlich macht ist gestützt auf das Gefühl der Wahlverwandtschaft, Sprache, Ton und Gegenstand des Originals auf eine erstaunlich freie Art zu behandeln, vom Originaltext oft recht radikal abzuweichen, ihn, wie er glaubte, derart zu verbessern. Zur Rechtfertigung dieser Vorgangsweise zitierte er als Autorität Goethe, den Meister selbst:
If the translator has really understood his author, he will be able to evoke in his own mind not only what the author has done, but also what he wanted and ought to have done. (An Streckfuss, 1827)8
Aber Auden geht sogar noch einen Schritt weiter: er betont den Aspekt des kreativen Mißverständnisses:
Es ist nicht sonderlich wichtig, ob die Übersetzer das Original richtig verstanden haben; oft ist das Mißverstehen, vom Standpunkt des Übersetzenden aus, von größerem Nutzen.9
Und als höchst nützlich betrachtete Auden, für den die Idee des Nutzens stets im Vordergrund stand, die Tätigkeit des Übersetzens als solche. Er glaubte, daß das Übersetzen anderer Autoren einen fruchtbaren Einfluß auf das eigene Schreiben habe, denn:
erstens, stellt es neue Arten von Sensibilität und Stil vor… und unverbrauchte literarische Formen… Zweitens, und vielleicht wichtiger, fördert das Problem, equivalente Bedeutungen in einer anders als die Originalsprache strukturierten Sprache zu finden, die Entwicklung der Syntax und des Wortschatzes der Sprache des Übersetzers.10
Er betrachtete Übersetzen als eine Pflicht für jeden Schriftsteller, als politische Pflicht: Schriftsteller sollten Prosa und Lyrik anderer Länder übersetzen, um sie Lesern in ihrem eigenen zugänglich zu machen.
Audens Ansichten zum Übersetzen, die alles in allem nicht sehr originell sind, finden sich verstreut in seiner Korrespondenz mit seinen Mitarbeitern und in einleitenden Essays zu Anthologien. Die einzige zusammenhängende Darstellung dieser Ansichten bietet der mit Chester Kallman gemeinsam geschriebene Aufsatz „Das Übersetzen von Opernlibretti“, eine wortreiche Rechtfertigung der Arbeitsmethoden der beiden Librettisten.
Librettos zu übersetzen, ist ein besonderer Fall des Übersetzens, ein sogar noch unmöglicheres Unternehmen, als das Übersetzen von Lyrik, weil der Übersetzer nicht nur den Unterschied zwischen den Sprachen berücksichtigen muß, sondern auch deren jeweilige Beziehung zur komponierten Musik. Auden löste dieses Problem wieder einmal, indem er mit dem Original in seiner wie üblich selbstgerecht freien Art und Weise umsprang, die oft auf dem erwähnten „kreativen Mißverständnis“ basierte.
Über die Übersetzung der Zauberflöte schreibt Charles Osborne, selbst der Verfasser einer Prosaübersetzung des Librettos von Schikaneder:
die Fassung Audens ist ein Fehlschlag, und was für einer! Jede Zeile hat viel zu viele Silben, (…) und einige der Adjektive sind schlecht gewählt. Papageno sollte sich sicher nicht als ,großer‘ Vogelfänger bezeichnen. Das tut er nicht im deutschen Text, (…). Bei Auden verändert sich die dritte Zeile „Ich Vogelfänger bin bekannt“ zu „In vain do all the pretty little creatures fly“, was die geschmeidig fließende Zeile des Originals zu einem unmöglichen Geschnatter macht. Papageno ist natürlich ein liebenswerten Schwindler; er kennt nicht wirklich die Namen der verschiedenen Vögel; für ihn sind sie alle ,Vögel‘. Der gebildete Auden aber zählt auf „Lerche, Rotkehlchen, Weidenlaubsänger, Nachtigall, Schnepfe, Rebhuhn, Turteltaube“ und sogar die „melodische Singdrossel“.11
Und das berühmte Pamino-Papageno-Duett verschandelte Auden, so Osborne, indem er den jambischen Rhythmus im Deutschen durch einen Anapäst ersetzte und es derart zu einem Plapperlied á la Gilbert and Sullivan verfremdete.12
Audens idiosynkratisches Konzept der Übersetzung resultierte in einer Anzahl zweifellos interessanter und anregender Übersetzungen. Das theoretische Ideal des Übersetzens scheint Auden in einer Aussage Franz Rosenzweigs, des berühmten Übersetzers der Bibel ins Deutsche, formuliert gefunden zu haben, den er in seiner Zitatensammlung A Certain World. A Commonplace Book (1970) ausführlich zitiert:
What is needed is neither a translation that is so far from being a translation as to be the original (…), nor one that is in effect a new original.13 – ein Ziel, das Auden, der große Dichter, in seiner praktischen Arbeit als Übersetzer, weder erreichen wollte noch konnte.
Hans Raimund, englische Fassung in La traduzione del testo poetico, Milano 1989, deutsch in Hans Raimund: Das Raue in mir. Aufsätze zur Literatur und Autobiografisches 1981–2001, Literaturedition Niederösterreich, 2001
Georges Albert Astre: Zum dichterischen Werk von W.H. Auden, Merkur, Heft 27, Mai 1950
Hannah Arendt: Ich erinnere an Wystan H. Auden, Merkur, Heft 485, Juli 1989
Das Zeitalter der Angst – Wystan Hugh Auden
Timo Frühwirth, Sandra Mayer: W.H. Auden in Kirchstetten: Selbsterfindung und überraschende Netzwerke
Der Standart, 10.11.2022
Hannes Stein: Ein Ruhmeslied für W.H. Auden und seine Verse
Berliner Morgenpost, 20.2.2007
Die Wahrheit mit eigenen Augen
Die Welt, 21.2.2007
Jens Brüning: Marx und Freud zum Vorbild
Deutschlandfunk Kultur, 21.2.2007
Erich Klein: Wenn die Nacht am tiefsten ist: W.H. Auden
Der Standart, 17.2.2007
Rüdiger Görner: Denkspiele im Zauberkreis der Sprache
Neue Zürcher Zeitung, 17.2.2007
Andreas Brunner: Die Poesie kann nichts bewirken
Wiener Zeitung, 16.2.2007
Daniela Strigl: „Stop all the clocks“
Die Furche, 15.2.2007
Kurt Leutgeb: W.H. Auden, Wahl-Kirchstettner und Weltliterat
Der Standart, 24.9.2023
Wystan Hugh Auden liest sein Gedicht Zum Gedenken an W.B. Yeats.
Schreibe einen Kommentar