Antonio Skármeta: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Rosaura I“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Rosaura I“ aus dem Band Pablo Neruda: Das lyrische Werk – Band 2. –

 

 

 

 

PABLO NERUDA

Rosaura I

Rosaura, die der Rose, der täglichen
Stunde, aufgereckt
in der vergleitenden Stunde
der kläglichen Dämmerung, in der Stadt,
wenn die Läden erglänzen
und das Herz in der eigenen
unerforschten Zone versinkt
wie der verirrte Reisende,
spät, in der Einsamkeit der Sümpfe.

Wie ein Sumpf ist die Liebe:
zwischen Straßennummer
und -nummer,
dort sanken wir nieder,
uns ergriff tiefe Lust,
haften bleibt Leib da an Leib,
Haar an Haar,
Mund am Kuss,
und im Paroxysmus
sättigt die gierige Woge sich
und einschrumpfen
die Flächen des Schlamms.

O Liebe von Leib zu Leib,
ohne ein Wort,
und das feuchte Mehl, das die Wildheit
der Zuckungen bindet,
das heisere Gestern von Mann und Frau,
ein Schlag in den Rosenbusch,
eine dunkle Blumenkrone geschüttelt,
wirbelt der Dunkelheit Federn umher,
ein Phosphorkreis,
ich umarme dich,
verwerfe dich,
ich morde dich,
und es entfernt das Schiff sich vom Schiff
und gibt die letzten Signale
zum Traum des Meers,
der Gezeit,
die zurückebbt zu ihrem unversöhnlichen Planeten,
zu seiner Voreingenommenheit, der Reinheit:
zurück bleibt das Bett
inmitten
der treulosen Stunde,
Dämmerung, abendliche Lilie:
auf brachen die Schiffbrüchigen schon:
da blieben die zerfetzten Laken,
das verwundete
Schiff,
wir blicken zum Rio Mapocho:
auf ihm treibt mein Leben.

Rosaura, die meines Armes,
es vergeht ihr Leben mit dem Wasser,
die Zeit,
die Uferdämme aus Bruchstein,
die Brücken, wohin alle müden
Füße eilen:
das Licht in der Strömung
das Herz aus Lehm
rinne rinne
rinn Liebe in die Zeit von
1923, eins
neun
zwei drei
sind Zahlen
eine jede im Wasser,
das hinfloss
des Nachts
im Blut des Stromes,
im nächtlichen Lehm,
den Wochen,
die da sanken in den Fluss
der Stadt, wenn deine
blassen Hände ich ergriff:
Rosaura,
du hattest sie vergessen,
da sie so lange
im Rauch hinflogen:
dort vergaßen sie dich
an der Ecke
der Saziéstraße oder auf dem kleinen
Paduraplatz, bei der streng duftenden Rose
des Absteigequartiers, das uns unter andre verteilte.

Der winzige Hof
bewahrte die Exkremente
der streunenden Katzen auf,
und ein bronzener Friede war,
der da aufstieg
zwischen den beiden Nackten:
die harte Ruhe der Außenviertel:
zwischen unsre Augenlider
glitt das Schweigen
wie ein dunkler Likör;
wir schliefen nicht:
wir bereiteten uns für die Liebe:
wir hatten abgenutzt
das Pflaster,
das Müdesein,
das Begehren,
und hier waren wir endlich
ungebunden, bloß, ohne Kommen und Gehen,
und unsere Aufgabe
war,
uns zu verströmen,
als füllte uns übermäßig an
ein flüssiges Schweigen,
eine schwere
verzehrende
Säure,
eine Substanz,
die den Umriss deiner Hüften ausfüllte,
die makellose Feinheit deines Munds.

Rosaura,
Vorübergehende,
wasserfarbene
Tochter Curicós, wo,
erdrückt
vom Gewicht und Schnee
der großen Kordillere, der Tag stirbt:
du warst Tochter
der Kälte,
und bevor du dich verbrauchtest
zwischen den Lehmziegeln
erdrückender Wände,
kamst du zu mir, um zu weinen oder geboren zu werden,
dich zu verbrennen in meiner traurigen Macht,
und vielleicht gab es kein anderes
Feuer in deinem Leben, nur
damals warst du vielleicht wirklich.

Wir entflammten und löschten aus:
und du bliebst zurück im Dunkel:
ich zog weiter die Wege:
die Hände mir brechend, die Augen,
ich ließ die Dämmerung hinter mir,
schnitt abendliche Mohnblüten ab:
ein Tag zog vorüber, der mit seiner Nacht
eine neue Woche
zeugte,
und ein Jahr schlief mit einem anderen Jahre ein:
Tropfen um Tropfen
anwuchs die Zeit,
Blatt für Blatt
der durchscheinende Baum:
die staubige Stadt
wechselte vom Wasser zum Gold,
der Krieg verbrannte Vögel und Kinder
im niedergedrückten Europa,
von Atacama rückte
die Wüste vor mit Sand,
Feuer und Salz,
die Wurzeln tötend,
in ihren blauen Säuren kreisten
die bleichen Planeten,
den Mond berührte ein Mensch,
es wechselte der Maler sein Objekt
und malte keine Gesichter,
sondern Zeichen und Narben,
und du, was machtest du
ohne die Öffnung
des Schmerzes, ohne Liebe?
Und ich, was machte ich
im Laubwerk der Erde?

Rosaura, Herbstzeit, ferner
schmaler Honigmond,
schweigsame Glocke:
zwischen uns beiden der gleiche Strom,
der Mapocho, der die Wände
und Häuser zernagend hinflieht,
zum Vergessen einlädt
wie die Zeit.

 

Triumphale Rückkehr der schweigsamen Muse Albertina,

die Neruda zu den meisten seiner Zwanzig Liebesgedichte inspirierte und der er sexuell so verfallen war, dass er sie auch in Birma nicht vergessen hatte. Er wollte sie zu sich holen, doch die feurige Dame, die nun buchstäblich „in der Ferne“ weilte, lehnte ab. Seinem Sekretär, Biografen und Kritiker Heman Loyola zufolge soll Pablo ihr 1929 von Wellawatta aus ein „Ultimatum“ gestellt haben:
„Denn dies wird unser letzter Versuch im Leben sein zusammenzukommen. Ich habe das Alleinsein allmählich satt, und wenn du nicht kommst, werde ich zusehen, dass ich eine andere heirate.“
Dieses abfällige „eine andere“, irgendeine andere, sollte tatsächlich in eine eher leidige als glückliche Ehe münden, die ihn einige Jahre später zu dem Ausruf verleitete: „Warum nur habe ich in Batavia geheiratet?“
Dieses Gedicht ist der schlagende Beweis dafür, dass echtes Feuer Brandwunden hinterlässt, und wenn der Dichter verkündet, seine Liebesglut werde künftig andere verbrennen, spricht er aus Erfahrung.
„Rosaura“ ist ein Text, der alles enthält: die Biografie einer Verzweiflung, die Leiden und Wonnen einer verbotenen Liebe, eine Hymne an die bedauernswerten Liebespaare in Absteigen und schäbigen Unterkünften, eine bittere Huldigung an die Körper, die einander unter rauem Bettzeug besitzen und wieder entgleiten. In dieser Verschmelzung von Küssen und Gespenstern gibt es kein Glück, keine Worte, nur heisere, kehlige Laute; die treulose Stunde lässt keine Fröhlichkeit, sondern Schiffbrüchige zurück, und anders als die Seine, über deren Brücken die Gauloise rauchenden französischen Liebespaare Arm in Arm schlendern, ist der Mapocho in Santiago so verseucht wie kein anderer und schwemmt Schmutz, Schlamm, tote Hunde, abgestürzte Vögel und rostige Konservendosen durch die Stadt: ein Fluss mit Schimmel in den Venen.
Darum gibt es auch weder Tulpen noch Nelken, noch Mohnblumen: nur die streng duftenden Rosen einer Absteige, in deren Hof sich die Exkremente streunender Katzen häufen. „Ich wollte eine Art Komponist sein, der imstande wäre, unsere billige Liebe zu besingen“, schrieb der geniale Dichter und Sänger Chico Buarque de Holanda.
Eine Liebe der strömenden Säfte, tragisch und unausweichlich, verschwiegen, schmerzhaft, in jungen Jahren erlebt und mit bitterem Nachgeschmack im reifen Alter erinnert.
The real thing. Das Leben, wie es ist, schön und rau.

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

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