Elaine Feinstein: Marina Zwetajewa

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Elaine Feinstein: Marina Zwetajewa

Feinstein-Marina Zwetajewa

MOSKAU UND JELABUGA 1939–1941

Marina und Mur nahmen den Zug von Le Havre nach Polen und reisten über Warschau nach Moskau, wo sie am 18. Juni ankamen. Nachdem Marina Paris verlassen hatte, drangen Gerüchte zu den Emigranten, Serjoscha sei bereits tot; und jemand war davon so überzeugt, daß er Marina ein Telegramm vorausschickte, um sie zu warnen. Die Botschaft erreichte sie nie, und sie war ja ohnehin falsch. Serjoscha und Alja (die schwanger war von einem Mann mit dem Spitznamen Mulia, mit dem sie zusammenlebte) waren in Freiheit, als Marina in Moskau ankam. Zwei Monate war die ganze Familie in einem kleinen Haus im Dorf Bolschewo in der Nähe von Moskau wieder vereint. Serjoscha war in der ziemlich privilegierten Lage, für frühere Dienste, die er dem Sowjetstaat geleistet hatte, eine kleine Vergütung zu bekommen; Alja hatte einen Posten bei der Gesellschaft für Kulturelle Beziehungen zu ausländischen Staaten. Allerdings war Serjoscha von Anfang an krank, und Marina mußte sich auf eine zunehmend unsichere Situation einstellen.
Sie begann wieder Aufzeichnungen in ihrem Notizbuch zu machen, und selbst die wenigen Passagen, die erhalten sind, verraten sowohl Enttäuschung als auch Erleichterung. Serjoschas Schwäche jagte ihr Furcht ein, wenn sie sich auch den Mühen, für ihn zu sorgen, wie gewöhnlich unterzog; doch ihre Notizen zeigen, wie sehr sie ihm seinen Mangel an Energie verübelte, seine geistige Hilflosigkeit – impotent war das Wort, das sie in ihren Notizen benutzte: 

In die Datscha. Wiedersehen mit S., der krank ist. Petroleum geholt. S. kauft Äpfel. Herz wird immer schwerer. Verhängnis am Telephon. Alja rätselhaft, trotz ihrer gekünstelten Fröhlichkeit. (All das nur für mein eigenes Gedächtnis, für niemanden sonst. Mur wird es nicht verstehen, wenn er es je lesen sollte – er wird nicht, denn er flieht vor solchen Dingen.) Kuchen, Ananas – das macht die Sache nicht leichter. Spaziergänge mit Lilja [Serjoschas Schwester]. Meine Einsamkeit. Abwaschen, Wasser, Tränen. Der Oberton und der Unterton des ganzen ist – Grauen. Uns wird eine Trennwand zugesagt – und die Tage vergehen. Hoffnung auf eine Schule für Mur – und die Tage vergehen. Und die gewohnte hölzerne Szenerie – ohne Stein, ohne festes Fundament. S.’s Krankheit. Die Angst vor seiner Angst. Bruchstücke von seinem Leben ohne mich; ich habe keine Zeit, zuzuhören. Der Keller: hundertmal am Tag. Wann soll ich schreiben?1

Marinas fortgesetzte Einsamkeit, selbst nach der Vereinigung mit denen, die sie am meisten liebte, ist herzzerreißend. Ihre Schwester Anastassja war bereits zu Lagerhaft verurteilt worden, und Mur hatte für seine Mutter wenig Interesse. Trotzdem waren diese ersten beiden Monate relativ hoffnungsvoll. Am 27. August ging auch diese kurze Zeit der Hoffnung mit Aljas plötzlicher Verhaftung zu Ende. Etwa einen Monat später wurde auch Serjoscha verhaftet.
Die letzte glückliche Erinnerung an ihre Tochter war ihr Anblick in einem roten tschechischen Kopftuch, einem Geschenk, das Marina mitgebracht hatte. Vier Tage später wurde Alja gewaltsam fortgeschleppt. Mutig versuchte sie die Bedeutung der Verhaftung mit Lachen herunterzuspielen, doch die Anklage wegen Spionage war schwer genug, um ihr fünfzehn Jahre Haft einzubringen. Traurig hielt Marina die Unerbittlichkeit von Aljas Verhaftung in ihrem Notizbuch fest: 

Ich: Was ist los Alja? Warum sagst du uns nicht auf Wiedersehen? Sie, in Tränen, blickte über die Schulter – und zuckte die Achseln.2

Die Trennung von Serjoscha machte sie rasend. Und es war nicht leicht, sich alten Freunden zuzuwenden.
Wie vorauszusehen, war Marinas Begegnung mit Pasternak nach ihrer Rückkehr enttäuschend. Vielleicht lag es daran, daß beide von ihren häuslichen Problemen zu mitgenommen waren, wenn diese auch verschiedener Art waren. Pasternak hatte inzwischen eine zweite Familie, und seit er überaus schmerzhaft mit der ersten gebrochen hatte, erschreckte ihn die Drohung jeglicher emotionaler Störung – und das einzige, was sich Marina nach ihrer langen brieflichen Romanze mit Sicherheit versprach, war emotionale Zuwendung. Er wußte, daß er weder ihr Bedürfnis stillen noch riskieren durfte, sie zu enttäuschen.
Pasternak hat nie eine zusammenhängende Schilderung seiner ersten Begegnung mit Marina Zwetajewa nach ihrer Rückkehr gegeben. Es quälte ihn, sich daran zu erinnern, wie unangemessen er sich verhalten hatte, und als seine Gefährtin Olga Iwinskaja ihn mit dem maliziösen Vorschlag aufzog: „Du hättest Marina heiraten sollen“, machen die Heftigkeit seines Leugnens und der Hinweis auf den Schrecken, den ihm weibliche Hysterie einjage, deutlich, daß er sein Versagen spürte. Später machte er sich Vorwürfe, nicht zu jener Art von leidenschaftlicher Intimität gefunden zu haben, die sie erwartet haben mußte. Er entschuldigte das damit, daß sie andere Freunde habe, doch in Wahrheit wollte er die Nähe nicht.
Gerechterweise muß man sagen, daß Zwetajewa und Pasternak in menschlichen Belangen gegensätzliche Persönlichkeiten waren. Jewgeni, Pasternaks Sohn, erinnert sich noch immer an den Besuch Marinas in ihrem Hause, als er etwa siebzehn Jahre alt war, und er macht den Unterschied zwischen den beiden Dichtern an ihrer Einstellung gegenüber dem gewöhnlichen, häuslichen Leben fest. Der tägliche Trott war für Marina eine Last – nicht nur weil sie eine Frau war, obgleich sie diese Arbeit gerade deswegen als Last empfand. Für Pasternak hingegen war das häusliche Leben eine Quelle endloser Abwechslung und Freude.
Er wollte ihr helfen, und er unternahm vieles, um ihre Lage zu erleichtern. So war es Pasternak, der Marina mit dem Redakteur Viktor Golzew zusammenbrachte und dafür sorgte, daß sie sofort eine Arbeit bekam. Man bot ihr an, georgische Dichter zu übersetzen, eine Arbeit, mit der Pasternak selbst einige Jahre seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Man gab ihr auch Werke jiddisch schreibender Autoren, wobei sie wörtliche Übersetzungen benutzte, und sie machte die Erfahrung, daß sie für Arbeiten bezahlt wurde, ohne auf deren Veröffentlichung warten zu müssen. Emotional mag Marina sich zurückgewiesen vorgekommen sein, aber Pasternak tat viel für sie, und einige Übersetzungen aus dem Französischen, besonders die Lyrik von Baudelaire, waren so anspruchsvoll, daß die Arbeit ihr Vergnügen bereitete.

Da Serjoscha jedoch verhaftet worden war, hatte Marina keine Wohnung mehr. Einige Zeit wohnte sie mit Mur in einem kleinen Zimmer, das Serjoschas Schwester, Jelisaweta Efron, gehörte, dann zog sie für kurze Zeit in die Merzlik-Straße. Alles war nur vorübergehend. Pasternak unternahm einige Anstrengungen, für sie eine Unterkunft zu finden, und suchte sogar Fadejew in Peredelkino3 auf. Doch, wie so oft, wenn er unter Druck stand, konnte er nur in einer aufgeregten, weitschweifigen Weise sprechen, ohne je zum Zweck seines Besuches zu kommen. Doch ein paar Abende später, als Fadejew Marina in Pasternaks Haus traf, muß der Funktionär gemerkt haben, für wen sich Pasternak indirekt verwenden wollte.
Dieser Kontakt blieb ohne Ergebnis, doch Marina war so verzweifelt, daß sie es riskierte, sich selbst an ihn zu wenden. Seine Antwort war erwartet kühl (ohne „liebe“ oder „geschätzte“ in der Anrede und ohne Gruß am Schluß). Trotzdem war er nicht gänzlich abgeneigt, ihr zu helfen, wenn er sich auch der besonderen „Umstände“ deutlich bewußt ist, von denen er im ersten Abschnitt indirekt spricht und die sie für den Schriftstellerverband nicht akzeptabel machten. 

17.1.40
Genossin Zwetajewa!
Betr. Deine Anfrage: Ich werde versuchen, etwas zu finden, obwohl das in Anbetracht der Umstände nicht leicht sein wird. Jedenfalls werde ich versuchen, etwas zu tun.
Aber es ist absolut unmöglich, in Moskau für Dich ein Zimmer zu finden. Wir haben eine große Gruppe guter Schriftsteller und Dichter, die einen Platz zum Leben brauchen. Und seit Jahren haben wir für sie nicht einen einzigen Quadratmeter auftreiben können.
Die einzige Lösung für Dich: nimm ein Zimmer oder zwei in Golizyno: Die Leiterin des dortigen Erholungsheimes wird Dir helfen (sie ist Mitglied des örtlichen Einquartierungssowjets). Das wird Dich 200 bis 300 Rubel im Monat kosten. Teuer, gewiß, aber bei Deiner Qualifikation kannst Du recht gut durch Übersetzungen verdienen – für Verlage und Zeitschriften. Was Arbeit angeht, wird der Schriftstellerverband Dir helfen, bei der Zimmersuche in Golizyno wird auch der Litfond helfen. Ich habe schon mit dem Genossen Oskin (Leiter des Litfonds) gesprochen, und ich rate Dir, Dich an ihn zu wenden. 

A. Fadejew4

In ihrem Tagebuch dachte Marina über ihren Charakter nach, dem jedermann eine fast unmenschliche Stärke zusprach: 

Über mich selbst. Alle halten mich für tapfer und männlich. Ich kenne keinen furchtsameren Menschen als mich. Ich habe Angst vor allem: vor Augen, vor der Dunkelheit, vor Schritten und am allermeisten vor mir selbst, meinem Kopf (falls es wirklich mein Kopf ist, der mir bei meinen Notizen so treu dient und mich im wirklichen Leben mordet). Niemand sieht, niemand weiß, daß ich schon seit über einem Jahr nach einem Haken suche. Aber es gibt keine Haken; überall ist elektrischer Strom keine ,Lüster‘…
Seit einem Jahr erwäge ich den Tod. Alles ist häßlich und furchteinflößend. Du schluckst – scheußlich; du springst – Feindseligkeit, das ureigentlich Abstoßende des Wassers. Ich will nichts durcheinanderbringen (nach dem Tod), ich glaube, ich habe bereits Angst vor mir nach dem Tod. Ich will nicht sterben. Ich will nicht existieren.
Unsinn. Solange man mich braucht… aber, Gott weiß, wie klein ich bin, wie wenig ich zu tun vermag! Zu Ende leben, zu Ende kauen. Den bitteren Wermut
.5

Marina hatte keine Hoffnung, ihre Schwester Anastassja besuchen zu können, doch sie meinte, daß ihr Sohn Mur sie noch immer brauche, obgleich er dafür nur dürftige Beweise lieferte. Um seinetwillen blieb sie außerhalb von Moskau, um ihn zur Schule von Golizyno bringen und wieder abholen zu können. Sie haßte es, ihn jeden Tag dort abzuliefern, sich von ihm loszureißen, um an ihre Übersetzungsarbeit zu gehen, die sie den ganzen Tag beschäftigte. Sie kam sich vor wie ein Ochse im Joch. Wenn sie in Moskau ankam, hatte sie sogleich den Wunsch, sich wieder aus dem Staub zu machen. Immer noch hatte sie nicht mehr als einen Verschlag, kein Fenster, keinen Tisch. Und (für Marina eine schreckliche Einschränkung) die Regeln verboten das Rauchen. Die ersten sechs Monate des Jahres 1940 waren ein Alptraum an Einsamkeit und Kummer. Marina übersetzte georgische Dichter, während sie zugleich von Haus zu Haus zog und es nichts gab, das sie ihr eigen nennen konnte.
Nichtsdestotrotz wohnte sie in einem Heim des Schriftstellerverbandes, wo sie und Mur ordentliche Mahlzeiten erhielten. Doch die Situation war nicht von Dauer. Im März 1940 teilte ihr der Verwalter des Heims mit, daß sie für ihre Mahlzeiten zweimal soviel bezahlen müsse als andere Gäste, und da das ihre Verhältnisse nicht erlaubten, war sie gezwungen, auszuziehen.
Bald hatte sich Marinas wirtschaftliche Lage noch mehr verschlechtert, als sie es für möglich gehalten hatte. In Moskau fand sie ein armseliges Zimmer, dessen Kochmöglichkeiten so eingeschränkt waren, daß sie sich mit zwei kleinen Kochtöpfen behelfen mußte. Es gab keinen Platz, um die riesigen Mengen von Material, das sie für ihre Arbeit brauchte, abzulegen. Andererseits wußte sie, daß sie, immer noch im Genuß der Freiheit, glücklicher zu schätzen war, als viele derer, die sie liebte und die hinter Steinmauern schmachteten.
Viele alte Freunde waren tot. Einer davon war Ossip Mandelstam, dessen Witwe Nadeshda in der Provinz lebte, doch niemand teilte ihr mit, daß Marina zurückgekehrt war. Aber Anna Achmatowa konnte Marina 1940 treffen. Anna hielt sich in Moskau bei der Familie Ardow auf, als Pasternak sie anrief, um ihr zu sagen, daß Marina sie gern aufgesucht hätte.
Anna Achmatowas Situation in der Sowjetunion war ebenso bitter gewesen wie Marinas jetzige – zum Beispiel hatte Stalin ihren Sohn viele Jahre im Gefängnis als Geisel gehalten. Dann wurde 1940 unerwartet das Publikationsverbot aufgehoben, und im Frühsommer erschien eine Auswahl aus ihren früheren Büchern, zusammen mit ein paar neuen Gedichten. Obgleich das Buch nicht die besten Gedichte enthielt, die sie geschrieben hatte, brachte es ihr die freudige Anerkennung vieler Freunde ein, unter denen auch Pasternak war. Die Leute standen Schlange, um das Buch zu erwerben, und der Preis für ein antiquarisches Exemplar erreichte 150 Rubel. In ihrer Handtasche hatte Anna überall eine Abschrift des Gedichtzyklus mit sich getragen, den Marina 1916 für sie geschrieben hatte. Kurz bevor sie sich endlich begegneten, hatte sie selbst ein Gedicht für Marina geschrieben, in dem sie sich ausmalt, wie sie zusammen durch die winterlichen Straßen Moskaus gehen.
Nach Pasternaks Anruf meldete sich Anna Achmatowa sofort bei Marina, um ein Treffen zu vereinbaren. Die Unterhaltung am Telephon war kurz. Als Anna Achmatowa fragte, ob sie zu Marina kommen solle, erwiderte Marina bloß:

Es wäre besser, wenn ich zu Ihnen käme.

Viktor Ardow ließ Marina ein, doch er brauchte seine beiden Gäste nicht miteinander bekannt zu machen. Sie begrüßten einander ohne die üblichen Floskeln mit einem einfachen Händedruck. Dann gingen die beiden Dichterinnen in das winzige Zimmer, das Anna gewöhnlich bewohnte, wenn sie sich bei den Ardows aufhielt, und dort verbrachten sie allein den größten Teil des Tages. Worüber sie sich unterhielten, hat Anna Achmatowa nie im Detail geschrieben, doch da sie so gut wie jeder andere wußte, daß die kürzlich veröffentlichte Auswahl nicht ihre besten Stücke enthielt, dürfte sie Marina ihre großartigen Gedichte für das Requiem gezeigt haben. Sie sagte bloß, Marina Zwetajewa habe sich als eine vollkommen normale Person gezeigt, die wegen des Schicksals ihrer Familie in tiefer Sorge sei.
Als Marina am folgenden Tag anrief, schlug Anna Achmatowa vor, man solle sich bei ihrem Freund Nikolai Chardschiew treffen. Dieser erinnert sich gut an das Zusammensein. Sie saßen in seinem Haus, unterhielten sich und tranken Wein. Marina hatte ihren Elan wiedergefunden und erzählte geistsprühend, vor allem von Paris. Anna Achmatowa sagte später zu Chardschiew, verglichen mit Marina sei sie sich schwerfällig und beschränkt vorgekommen, doch auf Chardschiew machte sie überhaupt nicht diesen Eindruck. Im Gegenteil: Neben der quecksilbrigen Marina wirkte Annas ursprüngliche Kraft faszinierend auf ihn. Sie verließen Chardschiews Haus gemeinsam, und als sie durch die Straßen gingen, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten und folgte ihnen. Anna Achmatowa fragte sich:

Folgt sie mir oder ihr?

Ungeachtet der mißbilligenden Bemerkungen Anna Achmatowas über sich selbst war das Treffen mit Marina für Anna keine Enttäuschung. Es bestätigte sie in ihrer Überzeugung, daß es zwischen ihr, Mandelstam und Marina Zwetajewa eine besondere Verbindung gebe, und fügte ihren eigenen Leiden eine neue, tragische Dimension hinzu. Als Anna Achmatowa viele Jahre nach Marinas Tod über sie schrieb, veranlaßte sie ihr Eindruck von der vollkommenen Rechtschaffenheit ihrer Freundin dazu, sie „Marina, die Märtyrerin“ zu nennen. Sie hatte sich durch Marinas geistreiches Feuerwerk nicht täuschen lassen, das diese eine ungeheure Nervenkraft gekostet hatte – es war typisch für sie, dem Anlaß auf diese Weise Hochachtung zu bezeigen.
Marina konnte sich ihren sinkenden Mut nur mit großer Mühe bewahren, wie sie sie in einem Brief an Vera Alexandrowna Merkurjewa6 vom 31. August 1940 schreibt: 

Mein Leben ist sehr schlecht. Mein Nichtleben. Gestern bin ich von der Herzen-Straße, wo wir uns sehr wohlgefühlt haben, in ein vorübergehend leerstehendes winziges Zimmerchen in der Mersljakowski-Gasse gezogen. Die ganze Habe (gewaltig groß, immer noch unermeßlich trotz eines ganzen Monats Ausverkauf und Wegschenken) haben wir bis zum 15. September im leerstehenden Zimmer eines Professors in der Herzen-Straße gelassen.
Und weiter???
Ich habe mich an einen Stellvertreter Fadejews gewandt – Pawlenko –, ein bezaubernder Mensch, er hat volles Mitgefühl, kann aber nichts geben, die Schriftsteller haben in Moskau
nicht einen Quadratmeter, und ich glaube ihm. Er schlug etwas außerhalb der Stadt vor, ich führte mein Hauptargument an: hündische Schwermut, und er hat wenigstens nicht darauf bestanden. (Außerhalb der Stadt läßt es sich in einer großen, einträchtigen Familie leben, wo einer dem anderen hilft, für ihn einsteht usf. – aber so: Mur in der Schule und ich von einem Morgen bis zum anderen allein mit meinen Gedanken [nüchternen, ohne Illusionen] und Gefühlen [törichten, scheinbar törichten – prophetischen] und den Übersetzungen – ein solcher Winter hat mir gereicht.)
Ich habe mich an den Literaturfonds gewandt, man versprach, mir zu helfen, ein Zimmer ausfindig zu machen, warnte aber, daß jeder Vermieter einen alleinstehenden Mann ohne Kocherei, Wäsche etc. einer Schriftstellerin mit Sohn vorzieht – wie soll ich mich mit einem alleinstehenden Mann messen!
Mit einem Wort, Moskau nimmt mich nicht auf.
Ich beschuldige niemanden. Auch mich selbst nicht, weil es mein Schicksal ist. Nur – womit soll das enden?

Mein Werk ist geschrieben. Ich könnte natürlich noch schreiben, aber ich kann es nicht frei. Übrigens übersetze ich seit mehr als einem Monat nichts mehr, ich komme einfach nicht dazu: das Zollamt, das Gepäck, der Verkauf, Geschenke (wem – was), Laufereien nach Anträgen (vier habe ich gestellt – und nichts ist dabei herausgekommen), die Familie, der Umzug… Wie lange noch?
Schön, nicht ich allein… Ja, aber mein Vater hat das Museum der Schönen Künste geschaffen – einzig im ganzen Land –, er ist der Begründer und Sammler, 14 Jahre hat er dafür gearbeitet. Von mir will ich nicht reden, nein, ich sage es trotzdem mit den Worten von Chénier, seinen letzten Worten: et pourtant, il y avait quelque chose là… (er wies auf die Stirn) – ich kann mich nicht, ohne zu heucheln, mit jedem beliebigen Kolchosbauern gleichsetzen – oder Odessaer – für den sich
ebenfalls kein Platz in Moskau fand.
Ich kann aus mir nicht die Gefühle
des Rechts ausrotten (schon gar nicht davon zu reden, daß im Rumjanzew-Museum unsere drei Bibliotheken stehen: die des Großvaters Alexander Danilowitsch Meyn, die der Mutter Maria Alexandrowna Zwetajewa und die des Vaters Iwan Wladimirowitsch Zwetajew. Wir haben die Stadt Moskau überhäuft mit Geschenken. Und sie wirft mich hinaus, stößt mich aus. Wer ist sie denn, um sich vor mir zu brüsten?).
Ich habe Freunde, aber sie sind machtlos. Mich bemitleiden (was mich schon irritiert, nachdenklich macht) völlig fremde Menschen. Das ist am allerschlimmsten, weil ich vom kleinsten guten Wort – einer Intonation – von Tränen überschwemmt werde wie ein Felsen von einem Wasserfall. Mur gerät davon in Wut. Er begreift nicht, daß da nicht eine Frau, sondern ein Felsen weint.
… Meine einzige Freude – Sie werden lachen – ist der orientalische muselmanische Bernstein (den ich vor zwei Jahren auf einem Pariser Trödelmarkt kaufte als völlig toten, wächsernen, schimmelbedeckten Stein, und der zu meiner Freude mit jedem Tag auflebt, von innen heraus leuchtet). Ich trage ihn am Körper, unsichtbar. Ähnlich einer Ebereschenbeere.

Mur ist in eine gute Schule gekommen, war heute schon zur Parade und geht morgen den ersten Tag in die Klasse. 

Wenn in des Herzens Wüste
Um eines leid mir war,
So nur um den Sohn, das Liebste,
Wolfjunges – wölfischer gar.

(Das sind alte Verse. Übrigens sind alle alt. Neue gibt es nicht.)
Mit dem Ortswechsel verliere ich allmählich das Gefühl für die Wirklichkeit: ich werde immer weniger und weniger wie jene Herde, die an jedem Zaun ein Flaumbüschel zurückließ… Bleibt nur mein grundsätzliches
Nein.
Noch eins. Ich bin von Natur sehr fröhlich (vielleicht heißt das anders, aber ich habe kein anderes Wort dafür). Ich habe sehr wenig gebraucht, um glücklich zu sein. Meinen Tisch. Die Gesundheit der Meinigen. Beliebiges Wetter. Volle Freiheit. – Das ist alles. Und daß ich nun – um dieses unglückselige Glück – so ringen muß, darin liegt nicht nur Grausamkeit, sondern Dummheit. Über einen glücklichen Menschen sollte sich das Leben freuen, sollte ihn in dieser seltenen Gabe ermuntern. Denn von einem Glücklichen geht Glück aus. Von mir ging es aus. Reichlich. Ich habe mit fremden (aufgebürdeten) Lasten gespielt wie ein Athlet mit Gewichten. Von mir ging Freiheit aus. Der Mensch hatte – in seinem Innersten – die Gewißheit, wenn er sich aus dem Fenster stürzt, fällt er nach oben. Durch mich lebten die Menschen auf wie der Bernstein. Sie begannen von innen heraus zu leuchten. Ich bin nicht in meiner Rolle – der eines Felsens unter dem Wasserfall: eines Felsens, der zusammen mit dem Wasserfall auf den Menschen (das Gewissen) niederfällt… Die Versuche meiner Freunde verwirren und verstimmen mich. Es ist mir peinlich, daß ich noch lebe.
So müssen sich hundertjährige (kluge) Greisinnen fühlen. Wenn ich zehn Jahre jünger wäre – nein, fünf! –, wäre ein Teil dieser Last –
von meinem Stolz – genommen durch das, was wir kurz weibliche Reize nennen (ich rede von meinen männlichen Freunden), aber so, mit meinem grauen Kopf, habe ich nicht die geringste Illusion. Alles was man für mich tut, tut man für mich und nicht für sich… Und das ist bitter. Ich bin es so gewöhnt zu schenken!

(So weit hat mich das „Zimmer“ gebracht.)
Mein Unglück besteht darin, daß es für mich keine äußeren Dinge gibt, Herz und Schicksal sind alles.
Gruß an Ihre wunderbaren stillen Orte. Ich hatte keinen Sommer, doch ich bedaure es nicht, das einzige, was an mir russisch ist, ist das Gewissen, und das würde mir nicht erlauben mich an der Luft, der Stille, der Bläue zu erfreuen, weil ich weiß und keinen Augenblick vergesse, daß ein anderer in dem gleichen Augenblick in Hitze und Stein erstickt.
Das wäre eine unnötige Qual.
Der Sommer ist gut verlaufen: Ich habe mich mit einer 84jährigen Kinderfrau angefreundet, die 60 Jahre in dieser Familie gelebt hat. Und es gab einen wunderbaren Kater, mausfarben, einen Ägypter, auf hohen Beinen, ein Scheusal, aber eine Gottheit. Ich würde meine Seele hergeben für eine solche Kinderfrau und einen solchen Kater.
Morgen gehe ich zum Literaturfonds („noch viele, viele Male“), um nach einem Zimmer nachzufragen. Ich glaube
nicht daran. Schreiben Sie mir an die Adresse: Moskau, Mersljakowski-Gasse, Haus 16, Quartier 27. An Jelisaweta Jakowlewna Efron 

(für M. I. Z.) 

Ich bin hier nicht gemeldet, und es ist besser, nicht an mich zu schreiben.
Ich umarme Sie, danke herzlich, daß Sie an mich gedacht haben, herzlichen Gruß an Inna Grigorjewna
.7

Marina arbeitete, wenn auch langsam, an ihren Übersetzungen weiter. In der März-Nummer der Zeitschrift Dreißig Tage wurde eines ihrer alten Gedichte, geschrieben 1920, abgedruckt:

EIN LIED 

Gestern sah er8 mir ins Auge noch,
Heut, ach, kann ich seinen Blick nicht fangen.
Gestern blieb er bis zum Morgen doch,
Heut schrein Raben, dort wo Lerchen sangen.

Du bist klug, ich töricht; sieh mich an:
Stein bin ich und kann dich nicht geleiten.
„Liebster, sag, was hab ich dir getan?“
O du Schrei der Frauen aller Zeiten.

Liebe: nur ein Stiefkind sind wir dir.
Ach, erwartet nicht Gericht noch Gnade.
Tränen gelten nur wie Wasser dir,
Blut und Tränen wählst du dir zum Bade;

Schiffe führen die Geliebte fort,
Ziehen fort auf ihrer weißen Bahn.
Und ein Stöhnen eilt von Ort zu Ort:
„Liebster, sag, was hab ich dir getan?“

Gestern kniete er vor mir. Im Spiel
Hat er Königsnamen mir gegeben.
Jäh tat er die Hand auf, aus ihr fiel
Eine rostge Münze nur: das Leben.

Mich, die Kindesmörderin, verklagen
Vor Gericht die, die mich mutlos sahn,
Selbst noch in der Hölle werd ich sagen:
„Liebster, sprich, was hab ich dir getan?“

Stuhl und Bett, euch will ich nochmals fragen:
„Wofür dulde, wofür leide ich?“
„Ausgeküßt. – Du wirst aufs Rad geschlagen;
Eine andre küßt er und nicht dich.“

Ach, du lehrtest mich, im Feuer leben,
Warfst mich dann auf eisger Steppe Plan.
Das, Geliebter, hast du mir gegeben.
„Liebster, sag, was hab ich dir getan?“ 

Nicht die Deine mehr, weiß ich zu sehen.
Widersprich mir nicht: kein Blick, kein Du.
Will die Liebe lieblos von uns gehen,
Tritt der Tod, der Gärtner, auf uns zu.

Ja, von selbst, was schüttelst du die Zweige? –
Fällt die Frucht, will ihre Zeit sich nahn.
Ach, verzeih – das Leben geht zur Neige –
Alles, Liebster, was ich dir getan
.9

Die Ironie wollte es, daß ein Freund aus jener Periode erregenden Theaterspielens, Pawel Antokolski, in Moskau wohnte, doch er zog es vor, den Umgang mit ihr sehr einzuschränken. Als er fünfunddreißig Jahre später befragt wurde, erzählte er von einer Gruppe von Freunden, die Marina unterstützt hätten, darunter der Lyriker und Übersetzer Arseni Tarkowski. Sie sei nicht ohne finanzielle Mittel gewesen, und sie hätte Arbeit gehabt, doch in Antokolskis Erinnerungen war sie eine Frau, die von jener, die er zwischen 1917 und 1922 gekannt hatte, völlig verschieden war. Es waren freilich nicht nur Entbehrungen und Leid, die diese Frau hatten altern lassen. Er beschrieb eine Lesung, die im Haus von Viktor Golzew stattfand. Marina las mit einer Stimme, die der ihren nicht ähnlich war, und schien dem Publikum entrückt zu sein. Alles in allem zeichnet Antokolski das Bild eines Menschen, dessen Existenzangst derart von den Zuhörern Besitz ergriff, daß keine gewöhnliche menschliche Beziehung mehr möglich schien – mit Antokolskis Worten:

Elle est autre.

Er machte auch eine Bemerkung über das formelle, wenn nicht gar offen feindselige Verhältnis zwischen Marina und ihrem Sohn Mur, der sie üblicherweise mit „Vous“ anredete. An jenem Abend hörte Antokolski, wie er der Haltung seiner Mutter die Schuld an ihrer Situation gab.
Es war nicht nur das Fehlen ihrer früher so ungewöhnlichen Ausstrahlung, das Antokolski betroffen machte, sondern auch ihre gedämpfte Art, zu lesen. Er beschrieb sie als furchtsam und gar nicht auf ein Publikum bezogen. Auch die Veränderung ihrer äußerlichen Erscheinung schockierte ihn. Er hatte sie in den Jahren zuvor einmal, 1928, in Paris getroffen, wo sie mit ihm auf dem Boulevard St. Michel gesessen hatte. Damals hatte er sie schlanker und grauer gefunden als in ihrer Jugend, doch noch immer erstaunlich schön.
Etwa um die Zeit ihrer Rückkehr nach Moskau muß jenes Photo von Marina aufgenommen worden sein, auf das sich Bella Achmadulina, die moderne russische Dichterin, in den ersten Zeilen ihres Gedichtes „Ich schwöre“ bezieht:

ICH SCHWÖRE
bei jenem sommerlichen Foto, auf irgendeiner
Veranda aufgenommen, die so schief steht,
daß sie einem Galgen ähnelt und aussieht,
als führe sie vom Hause fort und nicht hinein;
wo Du ein grellfarbenes Satinkleid trägst,
das Deine Halsmuskeln wie eine Rüstung umschließt;
und Du sitzt einfach da, mit dem Gleichmut
eines erschöpften Pferdes, nach all der Mühe –
bis zum Ende von deinem Schmerz und Verlangen zu singen
10

Für Antokolski blieb sie, wenn er die Größe ihrer Dichtung auch bewunderte, „zuallererst eine Frau“.
Daß Marina Zwetajewa überhaupt in der Öffentlichkeit erscheinen konnte, ist vielleicht bemerkenswerter als die Tatsache, daß von ihrem früher so stolzen Selbstgefühl nichts mehr übrig war. Gezwungen, unaufhörlich von einer Bleibe in die nächste zu ziehen, befand sie sich in einem Zustand ständiger Panik. In hastigen Aufzeichnungen am Rand ihres Notizbuches schrieb sie am 24. Januar 1940:

Ein neues, unbehagliches Haus – wieder kann ich nachts nicht schlafen. Ich fürchte mich – zuviel Glas – zuviel Einsamkeit – Nachtgeräusche und Ängste; ein Auto (Gott weiß, wohin es fährt); eine streunende Katze, Knacken von Holz – ich springe auf- schmiege mich an Mur auf seinem Bett (ohne ihn zu wecken) – und ich lese weiter… und springe wieder auf und so bis zum Tagesanbruch.11

Marina wußte nicht mehr, ob die Arbeit, die man ihr aufgetragen hatte, sie stumpfsinnig machte oder ob sie sich einfach nicht mehr dazu aufraffen konnte:

Ich weiß nicht mehr, was fader ist – meine wörtliche Übersetzung oder ich selbst. Und ich habe kein anderes Ich. Ohne die Übersetzungen gehe ich zugrunde!

Obgleich überzeugte Kommunisten im Sommer 1940 nichts mehr erschütterte als der Hitler-Stalin-Pakt, war Marina zu erschöpft, um mit Erstaunen zu reagieren. Sie wurde von dem Verlangen gequält, in Moskau für sich und Mur eine Bleibe zu finden. Ein unerwarteter Glücksfall war um diese Zeit das Eintreffen ihres Gepäcks aus Paris, das wenig Wertvolles, doch einige Dinge enthielt, die sie leicht verkaufen konnte. Auch Manuskripte von frühen Gedichten waren darunter, und Marina stellte daraus eine Auswahl für einen Moskauer Verlag zusammen; sie ließ sie sogar gegen Bezahlung ins Reine schreiben, obwohl sie nicht wirklich daran glaubte, daß aus dem Plan etwas werden würde.
Nachdem sie nun in die UdSSR zurückgekehrt war, konnten jene Gönner, mit denen Marina gerechnet hatte, ihr nicht länger mit Geschenken helfen, und ein anderer, Mirski, war seit 1937 spurlos verschwunden. Sie mußte auf Freunde bauen, deren Leben ebenso der Macht des Staates unterworfen war wie ihr eigenes. Und sie hatte keine Freundinnen mehr, an die sie sich vertrauensvoll wenden konnte, obgleich sie einige Briefe an Olga Alexejewna Motschalowa (eine Dichterfreundin) schrieb, mit der sie ein enges Verhältnis, nach dem sie sich so sehnte, aufzubauen suchte.
Monatelang hörte sie nichts von ihrem Mann und von ihrer Tochter. Viele Male reihte sie sich vor dem Gefängnis in die Schlange ein und versuchte, Lebensmittelpakete für Serjoscha abzugeben. In einem Brief (undatiert, doch vermutlich Anfang 1941 geschrieben) an einen Bekannten, Jewgeni Sormow, erwähnte Marina, daß sein Brief der erste gewesen sei, den sie seit vier Monaten von jemandem erhalten habe. Diese Vergessenheit und die Angst um Alja und Serjoscha waren unzweifelhaft die Ursache für ihr zurückhaltendes Wesen, von dem Antokolski sprach. Trotz des schrecklichen Schweigens schrieb Marina viele Briefe an ihre Tochter, wie z.B. diesen bewegenden aus dem Frühjahr 1941: 

Moskau, Frühjahr 1941
(…) Ich bin achtundvierzig, und ich schreibe seit vierzig, wenn nicht gar zweiundvierzig Jahren, und meiner Natur nach bin ich natürlich Philologe, und da erfahre ich heute aus einem winzigen Wörterbuch, ja sogar aus dreien, daß pashit eine Weide und nicht etwa ein Feld ist, daß niwa ein abgeerntetes, braches Feld ist. So habe ich also mein ganzen Leben lang pashit für Feld gehalten und (o Schreck!) es vielleicht sogar geschrieben, dabei ist es eine Wiese, eine kleine Wiese. Doch trotz der drei Wörterbücher (die nicht abgestimmt sind: eins ist ein französisches, altes, das andere eine sowjetische Ausgabe, das dritte eine deutsche) glaube ich es noch immer nicht. Pashit klingt wie shat, shatwa.12
Und da sagt doch gestern ein (mir unbekannter) Komponist im Radio: „Diese Oper muß ich schnell schreiben, weil das Theater schon dann und dann mit der Inszenierung beginnt.“ In Gedanken habe ich gefragt: Wie machen Sie das? Schnell schreiben? Hängt denn das von Ihnen (uns) ab? Schreiben Sie es etwa ab?
Und noch etwas: „… das Theater schon dann und dann mit der Inszenierung beginnt.“ Mit der Inszenierung einer ungeschriebenen, nicht existenten Oper! Der Name des Komponisten ist das einzig Gesicherte.
Schnell. Man kann schreiben ohne Unterbrechung, ohne den Rücken grade zu machen, und im Laufe eines ganzen Tages kommt nichts heraus. Man kann
nicht schreiben, sich nicht mal an den Tisch setzen – und auf einmal ist der ganze Vierzeiler fertig, während man gerade das letzte Hemd bei der Wäsche auswringt oder fieberhaft in der Tasche nach genau 50 Kopeken wühlt und dabei denkt: 20 und 20 und 10. Usw.
Jeden Tag schreiben. Ja. Ich mache das mein ganzes (bewußtes) Leben. Auf gut Glück. Vielleicht glückt es… Aber vom „Jeden Tag“ bis zum „Schnellschreiben“… Woher hat er die Gewißheit? Aus Erfahrung? Ich habe auch – Erfahrung. Die gleiche. Den „Rattenfänger“ lieferte ich an eine Zeitschrift, die monatlich ein Kapitel anforderte. Aber habe ich etwa jemals gewußt, ob ich zum Termin fertig werde? Habe ich etwa gewußt, wie lang das Kapitel wird, wann es endet? Das Kapitel endete – plötzlich – von ganz allein bei dem für das Kapitel nötigen Wort (damals – Silbe). Bei der für das Werk nötigen – Silbe. Ich hatte verzweifeln können, wie langsam es ging, aber von da bis zum Schnellschreiben…
Ja, ja, so gelangt man zu Wohlstand, so werden vielleicht geniale Opern geschrieben (glauben wir an das trügerische Wunder!), so entstehen sie,
so kommen sie zustande, doch die Würde des Schöpfers geht dabei verloren.
Kein Theater, kein Honorar, keine Not kann mich zwingen, ein Manuskript abzuliefern, bevor nicht der letzte Punkt gesetzt ist. Wann aber die Zeit für diesen Schlußpunkt gekommen ist, weiß Gott allein. Der Gott der Dichter.
„Mit Gott!“ oder „Geb’s Gott!“ – damit hat bei mir jede Sache begonnen, damit beginnt jede meiner Nachdichtungen, selbst die erbärmlichste. Das ist kein Gebet, schon deshalb nicht, weil es eine
Forderung ist. Ich habe nie „von oben“ einen Reim erbeten (das ist meine Sache!), ich erbat (forderte!) die Kraft, ihn zu finden, die Kraft für diese Qual. Und sie wurde mir gegeben; gewährt.13

Als Marina bald darauf Nachricht von ihrer Tochter erhielt, war sie vor Freude und Schmerz überwältigt. Endlich hatte sie den Beweis, daß Alja noch lebte, endlich konnte sie wirklich etwas tun und helfen: Sie konnte einkaufen, Zucker und Kakao beschaffen, Rat einholen, wie man unter harten Bedingungen am besten überlebte, und ihn weitergeben. Gleichzeitig machte sie keinen Versuch, vor Alja zu verbergen, daß, obgleich sie selbst in keiner Weise ungerecht behandelt wurde (die Arbeit an den Übersetzungen beschreibt sie ziemlich heiter), ihr körperlicher Zustand sich verschlechtert habe und sie inzwischen wie eine alte Frau aussehe.
Marinas Brief an Alja ist es wert, in vollem Umfang zitiert zu werden.

Liebe Alja!
Endlich Dein erster Brief – in einem blauen Umschlag, datiert vom 4. Ich habe ihn von 9 Uhr früh bis um 3 Uhr nachmittags angestarrt, als Mur aus der Schule kam. Er lag auf seinem Teller und er erblickte ihn, sobald er die Tür öffnete, und mit einem befriedigten, beinahe selbstgefälligen „Aha!“ stürzte er sich auf ihn. Er ließ ihn mich nicht lesen. Sowohl seinen als auch den an mich gerichteten Brief las er laut vor. Doch noch vor dem Lesen habe ich Dir – vor lauter Ungeduld – eine Postkarte geschickt. Das war gestern, am 11. Und am 10. habe ich Papa ein Paket gebracht, und sie haben es angenommen.
Ich habe gleich angefangen, mich um Lebensmittel für Dich zu kümmern, Alja. Ich habe schon Zucker und Kakao; jetzt will ich versuchen, Speck und Käse zu bekommen – den kräftigsten, den ich finden kann. Ich werde Dir einen Beutel mit gebackenen Karotten schicken; ich habe sie im Herbst auf dem Heizkörper getrocknet. Du kannst sie kochen. Wenigstens ist es Gemüse. Es ist ein Jammer, wenn auch nicht unnatürlich, daß Du keinen Knoblauch ißt. Ich habe für alle Fälle ein ganzes Kilo eingelagert. Aber vergiß nicht, daß eine rohe Kartoffel eine verläßliche und weniger unangenehme Methode ist. Sie wirkt gegen Vitaminmangel so gut wie eine Zitrone – das weiß ich mit Sicherheit.
Ich habe Dir schon geschrieben, daß Deine Sachen freigegeben sind. Man übertrug mir die Aufgabe, mich um sie zu kümmern – auf die Weise werden wir alles retten. Zum Glück haben die Motten nichts gefressen. Alle Deine Sachen sind in gutem Zustand – Bücher, Spielzeug und eine Menge Photos. Ich habe mir eine Art von Rindenkästchen genommen und bewahre meine Perlen darin auf. Soll ich Dir vielleicht das Armband aus Silber und Türkis für Deine andere Hand schicken? Du kannst es tragen, ohne es je abzunehmen; es ist sogar schwierig, es abzunehmen. Und
vielleicht einen der Ringe? Bitte beantworte diese Fragen. Welche Decke? (Deine blaue Reservedecke ist in Bolschewo verlorengegangen, zusammen mit vielen anderen, von denen keine Dir gehörte). Ich habe: meine farbige, gehäkelte (groß, aber nicht schwer; warm); das beige Plaid Deines Vaters (klein) und den dunkelblauen spanischen Schal. Ich würde die gehäkelte nehmen; den Schal schicke ich dann beim nächsten Mal (er gehört schließlich Dir). Ich werde auch Naphtalin schicken. Die Beutel sind fertig. Da sind auch noch zwei Kleider – eines streng und das andere verziert; wir werden die Ärmel ändern. Mulja schwört, daß er Nelkenöl gegen die Stechmücken herstellen kann. Ein wundervoller Geruch – seit meiner Kindheit habe ich ihn verehrt. Und da gibt es noch eine Menge Kleinigkeiten zum Verschenken.
Hier ist der Frühling noch ziemlich kühl. Das Eis ist noch nicht gebrochen. Gestern brachte mir die Putzfrau als Geschenk einen Zweig Weidenkätzchen. Und am Abend blickte ich durch das Fenster (ich habe ein riesiges Fenster, das die ganze Wand füllt) auf den großen gelben Mond, und der Mond blickte auf mich. Mit einem frischgeschälten Weidenzweig fühlt man sich selber wie gehäutet – und wie! Mur sagte gerade voller Entrüstung zu mir: „Mama, Du siehst aus wie eine schreckliche alte Dorfhexe!“ und ich war sehr froh, daß er „Dorf“ gesagt hatte. Armes Schätzchen! Er liebt Schönheit und Ordnung so sehr, und unser Zimmer ist wie das in der Boris-und-Gleb-Straße, alles übereinandergetürmt. Seine größte Freude ist das Radio, das, aus unbekanntem Grund, angefangen hat, alle Sender auszustrahlen. Kürzlich hörte ich Eva Curie aus Amerika. Alja, unter meinen Schätzen (ich schreibe absurdes Zeug) hüte ich Deine schnurrbärtige Lebkuchenkatze. Gib der Roten einen Kuß von mir – eine gute Katze. Ich werde nie eine andere Katze haben. Nach der, die Du hattest, die in Nikolkas Wiege kroch. Ich liebte sie wahnsinnig, und es war schrecklich, sie zurückzulassen. Sie ist wie ein Nagel in meinem Herzen geblieben.
Mit meinen weißrussischen Juden bin ich fertig. Ich übersetze jeden Tag. Die Hauptschwierigkeit ist der mangelnde Zusammenhang, die Ungenauigkeit und die fehlende Begründung der Bilder. Alles zerfällt in Einzelteile. Überall werden die Nähte sichtbar, wo sie zusammengeleimt sind. Einige schreiben ohne Reim oder Versmaß. Es scheint, daß nach den weißrussischen Juden die Balten kommen werden. Ich selbst schreibe nichts. Keine Zeit. Eine Menge Hausarbeit. Die Putzfrau kommt einmal in der Woche.

Ich habe auch Leskow wiedergelesen – im letzten Winter in Golizyno. Und ich las Benvenuto Cellini in Goethes Übersetzung, als ich siebzehn war. Besonders erinnere ich mich an den Salamander und an die Ohrfeige.
Während des Winters habe ich Nina ein paarmal besucht. Sie ist dauernd kränklich, aber sie arbeitet, und wenn es ihr gut geht, ist sie glücklich dabei. Ich habe ihr eine kurze unechte Pelzjacke geschenkt – sie hatte sich wirklich zu Tode gefroren – und zu ihrem Geburtstag schenkte ich ihr eine meiner Metalltassen, aus denen niemand trinkt, außer mir und ihr.
Ich will diesen Brief jetzt abschicken, also werde ich schließen. Halte Dich gesund und munter. Ich hoffe, daß Muljas Reise nur eine vorübergehende sein wird. Kürzlich bin ich zum Mitglied der hiesigen Sektion des Schriftstellerverbandes gewählt worden – einstimmig. Du siehst also, ich tue mein Bestes.
Laß es Dir gut gehen. Küsse…
Mur wird Dir selbst schreiben. 

Mama14

Marina schrieb weiterhin ausführliche Briefe an Serjoscha und ihre Tochter Alja, doch sind unglücklicherweise nur wenige erhalten geblieben. Die Beschreibung ihrer Aufnahme in den Schriftstellerverband im obigen Brief läßt kaum auf den wirklichen Verlauf der Sitzung schließen. Eine Frau hatte Marina als frühere Emigrantin heftig angegriffen und darauf hingewiesen, sie sei eine nahe Verwandte von Leuten, die in Haft seien. Marina hatte einen Behälter aus Bakelit ergriffen, wütend alle Federhalter und Bleistifte ausgekippt und dann ein Wortgefecht eröffnet. Diese Geste und ihre Worte hatten Folgen. Es war die unbehagliche Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, verwirrend für überzeugte Kommunisten, obgleich sich für Marina daraus keine ethischen Probleme ergaben. Bald nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion hatte sie die Hoffnung verloren und war inzwischen davon überzeugt, sie sei „dazu verdammt, zu schreiben, wie ein Wolf heult, unter welchem System auch immer“. Am 10. Juni funktionierte Marinas Telephon nicht mehr, und der Umzug in eine neue Datscha stand nahe bevor. Doch alle Pläne wurden durch die Tatsache des deutschen Einmarsches zunichte gemacht.
Ihre Situation verschlechterte sich mit einem Schlag. Aus einem einsamen, unglücklichen Geschöpf mit einer anrüchigen Vergangenheit hatte sie sich plötzlich zu einer potentiellen Spionin gewandelt. Ihre frühen Texte mit ihrem Lob Deutschlands und seiner Literatur wurden als politische Aussagen betrachtet. Es schien sogar unerwünscht, daß sie fließend Französisch und Deutsch konnte.
Erst jetzt, nach dem deutschen Einmarsch am 22. Juni 1941, hatte Marina ihre erste und letzte Begegnung mit dem einzigen Freund, der während der ganzen Zeit in der sowjetischen Hierarchie eine höchst einflußreiche Position bekleidet hatte – mit Ilja Ehrenburg. Er schilderte ihr Treffen kurz nach der Invasion als für beide Teile enttäuschend. Er sagte freimütig:

Das Wiedersehen mißlang – durch meine Schuld. Sie kam an einem Morgen, der Heeresbericht hatte bereits neue Hiobsbotschaften gebracht. Meine Gedanken weilten ganz woanders. Marina spürte das sofort und gab dem Gespräch eine geschäftsmäßige Wendung: Sie lenkte es auf Übersetzungen, an denen sie damals arbeitete.15

Nach Beginn der deutschen Invasion machte sich Marina Sorgen um den fünfzehnjährigen Mur, der einer Brandwache zugeteilt worden war, mit der Aufgabe, Brandbomben vom Dach des hohen Wohnhauses zu werfen, in dem sie im obersten Stockwerk ein winziges Zimmer gemietet hatte. Pasternak war ebenfalls zur Brandwache auf dem Dach des Schriftstellervereins abkommandiert worden, und Marina suchte ihn auf, um ihn um Rat zu fragen, wie sie Mur helfen könne. Sie trug sich bereits mit der Idee, in die Tatarische Autonome Sowjetrepublik zu gehen, wo, wie sie wußte, zahlreiche andere Schriftsteller des Verbandes evakuiert waren. Pasternak versuchte sie davon abzubringen, doch er bot ihr nicht an (was er sehr wohl hätte tun können), in seinem Heim in Peredelkino zu wohnen; das geschah in erster Linie, weil seine eigene häusliche Situation sehr gespannt war und er, wie immer, im Gespräch zu keinem Entschluß kommen konnte. Nichtsdestotrotz muß sie auf eine Einladung gewartet haben, die nie erfolgte.
Einer der Gründe für Marinas Verlangen, Moskau zu verlassen, ist vielleicht in den zunehmenden Verdächtigungen zu suchen, denen sie, je näher die Deutschen der Stadt kamen, von allen Seiten ausgesetzt war. Sie wußte, daß es Stimmen gab, die fälschlicherweise behaupteten, sie hoffe auf die Ankunft der Deutschen. So kam es, daß sie auf verhängnisvolle Weise ihre Evakuierung selbst in die Hand nahm.
Pasternak verabschiedete sich in den Außenbezirken Moskaus von ihnen; von dort war es möglich, auf dem Fluß Kama mit dem Schiff nach Tschistopol und anderen Städten zu gelangen. Dieses Lebewohl sollte ihr letztes sein.

Vorraum verwaist. Dieser blinde. So kam es doch
hier, daß der Hanfstrick als gut sich erwies,
Hier, wo vom eisigen Wasser der Kama noch
Letztmals die Kelle den Mund feuchten ließ.

Nagel. Kein Haken. Ein schwerer, der Kanten hat.
Dem haben Kummets und Kescher gereicht.
Niedrig. Sich hier zu erhängen – wer kann denn das.
Sich nur erdrosseln, das ginge ganz leicht.

Oma, bin bange im Vorraum und Zimmer drin,
hätt gern bei Euch an der Schulter geweint.
Morde nur gibt’s auf der Welt – merkt das immerhin.
Selbstmorde nicht. Sind anders gemeint.

J. Jewtuschenko16

August 1941, Jelabuga: die Fliegen schwärmten noch, der Fluß Kama floß noch. Seit zehn Tagen wohnte Marina Zwetajewa als eine aus Moskau Evakuierte bei der Familie Brodelschtschikow. Es war ein kleines, ruhiges Haus. Marina teilte mit Mur ein Zimmer. Aus dem Fenster blickte man auf Wiesen, noch frei vom sibirischen Schnee.
Sie wußte, daß sie ihren bäuerlichen Wirtsleuten komisch vorkam. Sie hatten nie von ihr gehört. Alles, was sie sahen, war ihr langes, dunkles Kleid, ihr alter brauner Mantel und die Linien der Erschöpfung und Furcht in ihrem Gesicht. Sie mußten über ihr gehäkeltes, erbsengrünes Käppchen und die große Schürze lachen, die sie im Haus trug, obwohl ihre magere, gebückte Gestalt etwas Hexenähnliches hatte, das ihnen ein unbehagliches Gefühl einflößte.
Auch ihr hektisches Benehmen verwirrte sie. Sie hatte keine Arbeitserlaubnis, doch sie ging jeden Tag auf Arbeitssuche. Einen Tag oder zwei ließ ein Polizist aus dem Ort sie in seinem Waschhaus helfen, doch er wurde gemaßregelt. Jelabuga war eine kleine Stadt, in der es nur wenige wohlhabende Leute gab. Es war unwahrscheinlich, daß sie jemanden fand, der ihr Silber kaufen wollte; trotzdem hatte sie es immer bei sich, für den Fall, daß sie einen Käufer fand. Am Abend war sie zu erschöpft, um zu kochen; statt dessen aßen Mur und sie in der örtlichen Kantine.
Marina wußte, daß Schriftsteller, die dem Staat genehm waren, in Tschistopol auf der anderen Seite des Flusses evakuiert waren, drei Tagesreisen entfernt; also beschloß sie, hinzugehen und einen letzten Versuch zu machen, Arbeit zu finden, gleich, welcher Art. Ein früherer Brief an den Präsidenten des Tatarischen Schriftstellerverbandes, in dem sie um Arbeit als Übersetzerin gebeten hatte, war unbeantwortet geblieben. Jetzt war sie bereit, jede Art von Arbeit anzunehmen, sogar in der Küche. Lydia Tschukowskaja, Anna Achmatowas Gefährtin, begriff das ganze Ausmaß ihrer Verzweiflung und konnte nicht verstehen, warum Marinas Schriftstellerkollegen nicht beschämt waren, sie in dieser Lage zu sehen. Nach ihrer Meinung hätte Anna Achmatowa eine solche Demütigung nicht zugelassen. Aber Marina wurde sogar die Erlaubnis verweigert, in der Küche zu arbeiten.
In einer normalen Welt hätte sie beim besten Willen nicht als eine Bedrohung erscheinen können. Doch Nikolai Assejew, der für die Zuteilung von Wohnraum verantwortlich war, hatte allen Grund, Schlimmes für sich zu befürchten, wenn man zu der Ansicht gelangte, er habe stillschweigend geduldet, daß man ihr half. Als das Komitee über den Antrag abstimmte, enthielt er sich der Stimme; doch er weigerte sich nicht nur, ihr eine Unterkunft zuzuweisen, sondern lehnte es sogar ab, ihr etwas Geld zu leihen. Nach dieser letzten Unterredung saß Marina lange auf einer Bank am Fluß, betäubt von der Endgültigkeit der Zurückweisung.
Von dieser Reise kam sie so trostlos und erschöpft zurück, daß sie nicht einmal die Kraft hatte, den Fisch auszunehmen, den ihr Wirt gefangen hatte, geschweige denn, ihn zu braten. Anastassja Iwanowna Brodelschtschikowa tat es für sie; in einer ähnlichen Stimmung hatte sie ihr früher gezeigt, wie man Zigaretten aus selbstangebautem Tabak drehte. Oft rauchten sie zusammen, ohne viel zu sprechen.
Marina verfiel in bitteres Schweigen. Es war nicht mehr möglich, die Feindseligkeit in Murs mürrischem Gesicht zu übersehen. Er war ein bäurischer Junge, seinen Kleidern entwachsen und zu kräftig für sein Alter. Er war unglücklich, weil ihn auf der Straße oft Leute fragten, warum er keine Uniform trage. Daran und an seiner Absonderung von den anderen Jungen seines Alters gab er seiner Mutter alle Schuld.
Am Sonnabend, 30. August, hörte man ihn heftig mit ihr streiten. Er warf Marina ihr unverantwortliches Leben vor, das dazu geführt habe, daß sein Vater in Haft und seine Schwester zu Zwangsarbeit verurteilt worden sei. Marinas Stimme wurde ebenfalls lauter, doch klang sie eher bittend als wütend, und sie machte keinen Versuch, seine Vorwürfe zu entkräften, und immer sprach sie ihn mit seinem Kosenamen an.
Am Morgen des darauf folgenden Sonntags waren alle Einwohner aufgerufen, bei der Planierung eines neuen Flugplatzes zu helfen; jeder, der diesen unbezahlten Arbeitseinsatz leistete, bekam einen Laib Brot. Frau Brodelschtschikowa ging mit Mur zu dieser Arbeit, während ihr Mann mit seinem Enkel fischen ging. Marina schien beschäftigt. Es machte ihr nichts aus, allein gelassen zu werden.
Sie war neunundvierzig Jahre alt: Eine einsame, gehetzte Frau, deren geistige Kraft erschöpft war. In allen ihren langen, von Armut heimgesuchten Jahren des Exils hatte sie nie aufgegeben. Jetzt verstand sie nicht mehr, was die Plackerei nützen sollte. Ihr Leben lang hatte sie überlebt, weil sie gewußt hatte, daß sie gebraucht wurde. Jetzt hatte Murs Groll die letzten Überreste ihres Glaubens an sich selbst zerstört.
Sie war nicht ohne wirtschaftliche Hilfsmittel. Sie verfügte über mehr als 400 Rubel, hatte, was noch wertvoller war, Vorräte an Grieß, Zucker und Reis. Es gab sogar noch einen Topf mit gekochtem Fisch.
Sie wußte, daß sie eine der größten europäischen Dichterinnen des Jahrhunderts war. Aber ihre innere Einsamkeit war nun vollkommen.
Keiner kann mit Sicherheit wissen, woran sie in ihren letzten Augenblicken dachte. Da war ihre Moskauer Kindheit in dem Holzhaus an der Straße der Drei Teiche. Serjoscha, dem zuliebe sie 1922 die Sowjetunion verlassen hatte und dessen Rückkehr dorthin auch zu der ihren geführt hatte. Das goldene Prag und die Elendsviertel von Paris. Spülwasser und Tränen. Vielleicht dachte sie an ihre Tochter im hellroten, tschechischen Kopftuch, in den wenigen Wochen des Glücks, die auf Marinas Rückkehr nach Moskau folgten. Vielleicht verfolgte sie aber auch ihr letzter Blick auf Alja, die sich bei ihrer Verhaftung mit einem Achselzucken langsam abwandte. Kurz danach hatte Marina notiert:

Im Augenblick bin ich tot. Im Augenblick existiere ich nicht. Ich weiß nicht, ob ich in der Zukunft lange existieren werde.

Falls Stalin keinen Sinn darin sah, Mühe auf die Evakuierung von Gefangenen aus der Lubjanka zu verwenden, war Serjoscha schon längst erschossen. Von dieser Möglichkeit mußte Marina gerüchteweise gehört haben. Und so hat sie vielleicht, als sie den Nagel zum Anschirren der Pferde fand und das Hanfseil daran befestigte, geglaubt, ihm noch einmal zu folgen, zum letzten Mal.
Mur nahm am Begräbnis seiner Mutter nicht teil, und falls er Kummer über ihren Tod empfand, zeigte er ihn niemandem. Anna Achmatowa, die sich nach Marinas Tod mit großer Freundlichkeit um ihn kümmerte, bemerkte die Kälte gegenüber dem Andenken seiner Mutter. Das ist um so trauriger, weil es durchaus möglich ist, daß seine Mutter sich seinetwegen das Leben nahm, um ihn von der Bürde der Ächtung zu befreien. Wenn das stimmt, war die Geste vergebens. Mur meldete sich rasch zur Armee und fiel später in der Schlacht um Moskau.
Serjoscha wurde in der Lubjanka erschossen. Alja, welche die beiden ersten Jahre ihrer Strafe ebenfalls dort verbüßte, verlor aufgrund grausamer Prügelstrafen ihr Kind. Sie wurde 1941 in ein Arbeitslager im hohen Norden verlegt, wo sie zu weiteren zehn Jahren Lager verurteilt wurde. Sie mußte die Strafe jedoch nicht ganz verbüßen. Pasternak (der mit ihr im Briefwechsel gestanden hatte) und Olga Iwinskaja nahmen sie, als sie 1955 nach sechzehnjähriger Haft entlassen wurde, auf und sorgten für sie, bis sie sich wieder erholt hatte. Sie blieb bei ihnen während der Zeit, in der Pasternak selbst heftigsten Angriffen ausgesetzt war, und zog später in ein Haus in Tarussa, wo Marina ihre Kindheit verbracht hatte. Dort widmete sie sich der Ordnung und Bewahrung des Werks ihrer Mutter und sorgte, sobald es möglich wurde, für die Veröffentlichung. Sie publizierte ihre Erinnerungen an die Mutter, bevor sie 1975 an einem Herzinfarkt starb.
Anastassja verbrachte die Jahre 1938 bis 1940 in Sibirien und hatte keine Gelegenheit, Marina nach deren Rückkehr in die Sowjetunion wiederzusehen. 1971 wurde in Moskau ein Band mit Erinnerungen an ihre Schwester veröffentlicht. Zur Zeit lebt sie in einem Altersheim für Schriftsteller nahe Moskau.
Marina Zwetajewas Tod verfolgte alle, die sie gekannt hatten bis zum Ende ihres Lebens. Pasternak beklagte sein willkürliches Spielen auf Zeit, weil er, voller Schuldgefühl meinte, daß er es vielleicht hätte schaffen können, Quartier und Arbeit für sie in Tschistopol zu finden, wenn sie nur noch einen Monat länger hätte durchhalten können. Lydia Tschukowskaja, deren fanatische Hingabe an Anna Achmatowa die Dichterin in ihren letzten Jahren am Leben erhielt, erinnerte sich an eine Begegnung mit Marina bei deren letztem Besuch in Tschistopol. Sie hatte bei dem Gespräch bezweifelt, ob Anna Achmatowa die dortigen schweren Bedingungen würde ertragen können, und Marina hatte voller Bitterkeit geantwortet, es sei doch bezeichnend, daß die Leute der Ansicht seien, sie dagegen könne alles ertragen. Marinas Tod beraubte Anna Achmatowa der Möglichkeit, Marina das Gedicht zu geben, das sie als Gegengabe für die vielen Gedichte, die Marina ihr gewidmet hatte, ihr zu Ehren geschrieben hatte. Sie bewahrte ein Photo von Marina zusammen mit einem von sich auf, weil sie beide darauf mit der gleichen Brosche zu sehen waren. Marina hatte sie ihr geschenkt.
Wenn in literarischen Arbeiten Vergleiche zwischen den beiden Schriftstellerinnen angestellt wurden, war Anna Achmatowa zu Recht ungehalten und verdächtigte die Verfasser, sie hauptsächlich deswegen nebeneinanderzustellen, weil sie beide Frauen seien. 1959 hatte sie zu der Tragödie soviel Abstand gewonnen, daß sie bemerkenswert skeptische Anmerkungen zu Marina Zwetajewa und Pasternak machen konnte, doch eines stand für sie nie in Frage: die glanzvolle Schöpferkraft Marina Zwetajewas.

 

 

 

Einleitung

Marina Zwetajewa ist eine der größten europäischen Dichterinnen dieses Jahrhunderts. Zu ihren Lebzeiten pries Boris Pasternak ihre Schöpferkraft als „golden, unvergleichlich“, und Anna Achmatowa zählte sie zu der erhabenen Schar von Ebenbürtigen, zu der auch Mandelstam gehörte. Nach ihrem Tod haben ihr so verschiedenartige Dichter wie Jewgenij Jewtuschenko und Josef Brodskij Anerkennung gezollt. Und doch nimmt sie erst allmählich im Westen den ihr gebührenden Platz ein. Die Jahre der Mißachtung haben ihre Ursachen ebenso in den Paradoxien ihrer Persönlichkeit wie in den Zufälligkeiten des Exils und der Isolation.

Seit jeher haben Dichter hingebungsvolle Diener angezogen, die sie in ihrer Weltfremdheit beschützten. Marina Zwetajewa, der dieses Glück nicht beschieden war, hat sich während des größten Teils ihres Lebens freiwillig der mühevollen Aufgabe unterzogen, ihre Familie zu ernähren. Trotz ihres leidenschaftlichen Wesens kannte sie in ihrem Leben keine tiefere Bindung als die an das eigene Blut. Und doch ist sie ihrer dichterischen Berufung nie untreu geworden. Ihren Mit-Emigranten, deren Selbstachtung darauf beruhte, mit dem hauszuhalten, was ihnen geblieben war, erschien ihr unpraktisches Naturell oft als zügellos. Sie begriffen die Ungeheuerlichkeit ihres Kampfes nicht.
Sie war keine rücksichtslose Frau, wenngleich ihre Tochter über sie schrieb:

Sie war imstande, alle Dinge ihrem Werk unterzuordnen. Ich betone: alle.17

Die meiste Zeit ihres Ehelebens mußte sie arbeiten und zugleich mit den Bedingungen unaufhörlicher Armut fertigwerden, eine Aufgabe, auf die ihre sorglose Kindheit sie nur wenig vorbereitet hatte. Als sie Boris Pasternak in einem Brief tadelte, daß er durch Deutschland reise, ohne seine Mutter zu besuchen, fügte sie ungläubig hinzu:

Unter euch, Über-Menschen, war ich nur Mensch… Ich selbst (meine Seele) war ich nur in meinen Heften und auf einsamen Wegen (die selten waren), denn das ganze Leben habe ich ein Kind an der Hand geführt.18

Zu diesen Kindern hätte sie sehr wohl auch ihren Gatten zählen können.
Trotz ihrer Vitalität fand sie sich schließlich ohne Bitterkeit damit ab, selber zu verehren, anstatt geliebt zu werden; vielleicht entschied sie sich sogar dafür. Eine Vorstellung davon, was Liebe sein konnte, ergriff zum ersten Mal von ihr Besitz, als man ihr als Kind Puschkins Eugen Onegin vorlas, und sie sehnte sich nach einer ebenso verzehrenden und intensiven Liebe. Ihre Freundschaft hatte eine Intensität, daß man, wie Mark Slonim bemerkte, das Gefühl hatte, „einer einsamen, nackten Seelee“19

zu begegnen, und es verwundert nicht, daß manche davon abgeschreckt wurden. Andererseits bewahrte sie jemandem, dem sie einmal Treue geschenkt hatte, diese ein Leben lang. Diese Hingabe war es, die sie trotz aller Schicksalsschläge an ihrer langen Ehe festhalten ließ.
Obgleich sie immer mit den Großen ihrer Zeit im Briefwechsel stand, konnte sie diese kaum zu ihrem täglichen Umgang rechnen. Nicht, daß sie diese Distanz für wünschenswert hielt, im Gegenteil, sie brauchte die Gesellschaft von Freunden und Kollegen, auch, wenn es beinahe unvermeidlich war, daß sie Widerspruch erregte, was nicht nur ihrem exzentrischen Wesen zuzuschreiben war.
Trotz ihrer Ablehnung des kommunistischen Regimes, war sie den großen Dichtern der Sowjetunion gegenüber immer loyal, denn sie, als wahre Dichterin, konnte an Ideologien kein Interesse haben. Für sie war der Zustand des Schaffens ein Zustand des Traumerlebens, „wenn du plötzlich, einer unbekannten Notwendigkeit gehorchend, ein Haus anzündest oder deinen Freund von einem Berg stößt“.20

Doch im politischen Kontext der 30er Jahre wurden solche hochfliegenden Ansichten mißdeutet; auch ohne die anderen Umstände mußte man ihr in der Emigration mißtrauen.
Nach ihrem Gefühl war nur Prag eine Stadt gewesen, die von intensivem, wenn auch quälendem Reiz erfüllt war. Schon 1926 schrieb sie aus Paris an Anna Tesková, wie sehr sie sich danach sehne, dorthin zurückzukehren und wie ein menschliches Wesen zu leben:

Ich habe nicht wie ein Mensch gelebt, und ich bin es leid, so zu leben. Ich habe es schon jetzt satt.21

Sie schrieb, sie wünsche sich, einen Platz mitten in der Stadt zu finden, der es ihr ermögliche, Konzerte und Ausstellungen zu besuchen, ohne durch die Verantwortung für ihre Kinder gänzlich eingeschränkt zu sein.
Doch es war so, daß ihr ganzes Leben eine unerbittliche Bewegung in die Isolation an den Peripherien war – von Moskau ins Exil, dann von der Stadt in die Vorstädte, wo, weit vom Mittelpunkt des Geschehens, die Plackerei des Alltagslebens noch schwerer erträglich war. Sie spürte die Gefährlichkeit solcher Situationen für ihr psychisches Überleben, weshalb sie auch verzweifelt versuchte, nicht in einem Dorf außerhalb Moskaus isoliert zu werden, als sie in die Sowjetunion zurückkehrte. Um so mehr begreift man ihre endgültige Einsamkeit, die sie 1941 in der kleinen Stadt Jelabuga umfing, dem Ort, der ihr zur letzten Prüfung bestimmt war.

Vor zwanzig Jahren habe ich begonnen, Marinas Gedichte zu übersetzen (sie erschienen schließlich 1971 als Selected Poems of Marina Zwetajewa bei der Oxford University Press); und in dieser Zeit habe ich begriffen, was es war, das mich an ihr so anzog. Ein Werk wie das der Zwetajewa gibt es in der englischen Literatur nicht. Es ist nicht nur die Leidenschaftlichkeit ihrer Empfindungen oder die Heftigkeit ihres Ausdrucks, sondern ihr außerordentlicher Mut zur Menschlichkeit und ihre Aufrichtigkeit. Als ich mehr über ihr Leben erfuhr, war ich beeindruckt von der Kraft, die dieses Werk überhaupt erst möglich gemacht hatte.
1975 übernahm ich erstmals einen Auftrag, eine Biographie über Marina Zwetajewa zu schreiben. Bevor ich im Herbst jenes Jahres nach Moskau fuhr, sorgten zwei glückliche Zufälle dafür, daß sich mir mehrere wichtige Türen öffneten.
Während eines Essens im Churchill College erfuhr Jewgenij Jewtuschenko, daß in Cambridge eine Zwetajewa-Übersetzerin lebte. Später am Abend machte er mir einen Besuch. Wir sprachen die ganze Nacht über die Zwetajewa und über ihre letzten Wochen in Jelabuga, und als ich in Moskau eintraf, tat er alles, um mir behilflich zu sein. Darüber hinaus hatte Mascha Enzensberger, damals Fellow des King’s College, Cambridge, dafür gesorgt, daß ich während meines Aufenthaltes mit ihrer Mutter, der Dichterin Margarita Aliger, zusammentreffen konnte. Durch deren Vermittlung war ich in der Lage, mit einigen Leuten (in erster Linie Viktoria Schweitzer) Kontakt aufzunehmen, die bei der Publikation des Werks von Marina Zwetajewa in der Sowjetunion geholfen hatten; und ich konnte auch mit Leuten sprechen, die, wie Pawel Antokolski, Marina Zwetajewa zur Zeit der Revolution und nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion gekannt hatten.
In Frau Aligers Wohnung lernte ich in Viktoria Schweitzer eine eindrucksvolle und kenntnisreiche Frau kennen, und ich befragte sie ausgiebig, besonders nach dem Charakter von Zwetajewas Gatten Sergej Efron. (Unglücklicherweise war Marinas Tochter Ariadna nur wenige Wochen vor meiner Ankunft verstorben.)
Pawel Antokolski war weniger zugänglich. Er war früher offenbar ein gutaussehender Mann gewesen und verwandte noch immer viel Mühe auf die Pflege seiner Haare und seines Schnurrbartes, doch seine Augenlider waren bräunlich und unter den Augen hatte er dicke Tränensäcke. Aber sein Erinnerungsvermögen war besser als er behauptete, und er erzählte anschaulich, wie sich Marinas Auftreten nach ihrer Rückkehr nach Moskau verändert hatte.
Es erwies sich als sehr nützlich, daß Frau Aliger mir die Pariser Adresse von Konstantin Rodzewitsch geben konnte, dem Helden von Zwetajewas „Poem vom Ende“. Im Frühling 1976 besuchte ich ihn in seiner Pariser Wohnung, und er erzählte mir sehr bereitwillig von seiner Beziehung zu Marina in Prag und Paris. Er beantwortete alle meine Fragen mit großem Charme und Entgegenkommen und zeigte großen Schmerz, als er eine Photographie von Marinas Sohn Georgi (der unter seinem Kosenamen „Mur“ besser bekannt war) betrachtete, der während des Zweiten Weltkrieges im Knabenalter gestorben war. Später, nachdem ich viele alte Freunde Marinas getroffen hatte, die schroff von dem Jungen sprachen und mit einiger Schärfe über ihn schrieben, wunderte ich mich über die Tränen von Rodzewitsch.
Bei meinem zweiten Moskau-Besuch 1978 stellte mir Frau Aliger ihr Auto zur Verfügung, und ich konnte den Ort besichtigen, wo früher in Marinas Kindheit das Haus in der Straße der Drei Teiche gestanden hatte, sowie auch die Wohnung in der Boris-und-Gleb-Straße, in der Marina zuerst als jungverheiratete Frau und später während der Hungersnot und des Bürgerkrieges gewohnt hatte.
Zwei weitere Zufälle brachten mich mit Leuten in Verbindung, die Marina persönlich gekannt hatten. Anna Kallin, eine Schulfreundin Zwetajewas, schrieb mir und lud mich zum Tee ein, nachdem sie eine Rundfunksendung von mir gehört hatte. Sie wohnte damals bei Salomea Halpern (früher Prinzessin Andronikowa und die „Solominka“ aus Mandelstams Gedichten). Die zwei Frauen beeindruckten mich außerordentlich, und ich wußte nicht, ob ich es wagen durfte, sie mit den zudringlichen Fragen zu belästigen, die ich stellen mußte. Bald darauf machte ich jedenfalls die Bekanntschaft einer weiteren russischen Emigrantin, Vera Traill (früher Suwtschinski). Sie war mit schweren Verbrennungen in das Addenbrooke-Krankenhaus in Cambridge eingeliefert worden, und im Laufe der folgenden Jahre besuchte ich sie oft. Vera, eine geistreiche, kluge Frau mit einem enormen Erinnerungsvermögen, vermittelte mir faszinierende Einblicke in das Leben der russischen Kolonie in Paris während der 20er und 3oer Jahre, als Salomea Halpern, der Kritiker D.P. Mirski (Fürst Swjatopolk) und Marina Zwetajewa und ihre Familie dort lebten. Daneben erwies sie sich als unschätzbare Hilfe bei der Korrespondenz mit Salomea Halpern und anderen, denen sie in meinem Auftrag eine Reihe taktloser Fragen über Marina Zwetajewas Verhalten stellte.
Ich hatte das große Glück, daß mich die Slawisten außerordentlich unterstützten, und ich möchte ihnen für die ungeheuren Mühen danken, die sie mit außerordentlicher Hilfsbereitschaft auf sich nahmen. Mein Dank gilt besonders Angela Livingstone und Simon Franklin, Dozent für Russisch an der Universität Cambridge; Richard Davies, Bibliothekar in der Russischen Sammlung der Universität Leeds, Jana Howlett, Dozentin für Russisch an der Universität Cambridge, Patrick Miles, Fellow von Gonville und Caius College, Cambridge, Bernard Comrie und Natascha Franklin. Ihre jeweiligen Beiträge sind in der Danksagung aufgezählt.
Schließlich möchte ich darauf hinweisen, daß mit diesem Buch keine kritische Analyse von Marina Zwetajewas Lyrik beabsichtigt wird, ausgenommen in Fällen, wo sich dieses unmittelbar aus dem Lebenszusammenhang ergibt. In der Auswahlbibliographie empfehle ich zahlreiche Bücher, die sich mit ihrem sprachlichen Reichtum befassen und sie in den Zusammenhang mit der russischen Lyrik ihrer Zeit stellen.
Auch bin ich mir sehr wohl des Mißtrauens bewußt, das russische Emigranten in den Vereinigten Staaten gegenüber in der Sowjetunion veröffentlichten Erinnerungen von Zwetajewa hegen, in denen notwendigerweise jene Fakten ausgespart sind, welche im Gegensatz zur Sowjetideologie stehen: ich hoffe gegen diese Art von Beschönigung gefeit zu sein. Da Marinas Kindheit von ihrer Schwester Anastassja anders geschildert wird als von Marina selbst, waren Abgrenzungen notwendig. Ich habe mich dafür entschieden, im Falle von Diskrepanzen, Marinas Darstellung der Ereignisse zu folgen, nicht weil sie genauer ist, sondern weil meine persönliche Anteilnahme mich dazu geführt hat, ihr Leben nach Möglichkeit mit ihren Augen zu sehen.

Elaine Feinstein, Vorwort

 

HERBST AN DER ELBE (nach Marina Zwetajewa)

Rücklings verstellt fängt der Herbst an
Blätter verschneien den Pool
Jemand setzt alles auf Anfang
Vieles wirkt cool

Dampfer mit lauten Sirenen
Schiffen Touristen flußauf
Allwärts ist herbstliches Sehnen
Was ich noch kauf

Soll es auch wieder das Wort sein
Das mich dem Sommer verband
Klingts in dem heimischen Sandstein
Nah und verwandt

Morgentau läg auf den Wiesen
Hat mir Dein Lächeln erzählt
Spüren könnt mans an den Füßen
Eilige Welt

Sicher, das Leben läuft weiter
Später im Herbst kommt der Wind
Macht in den Ästen das Laub schwer
Eh dann der Winter beginnt.

Andreas Paul

 

 

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

 

Zwiesprachen VI: Katharina Schultens spricht über Marina Zwetajewa am 24.1.2016 im Lyrik Kabinett, München

 

 

Katharina Kohm: Die Begegnung an der Naht. Zu der Vortragsreihe Zwiesprachen VI: Katharina Schultens über Marina Zwetajewa am 25.1.2016 im Lyrik Kabinett
signaturen-magazin.de

Zum 70. Todestag von Marina Zwetajewa:

Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011

Zum 75. Todestag von Marina Zwetajewa:

Doris Liebermann: Vor 75 Jahren – Dichterin Marina Zwetajewa gestorben
Deutschlandfunk Kultur, 31.8.2016

Fakten und Vermutungen zu Marina Zwetajewa + Nachlass +
Internet ArchiveKalliope

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + IMDb + Poetry Archive +
Internet Archive
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Elaine Feinstein liest ihr Gedicht „Song of Power“ und erläutert Hintergrund und Inhalt.

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