Felix Philipp Ingold: „Gekriegte“ Harmonie

Mashup von Juliane Duda zu der Kategorie „adhoc“

adhoc

In seinen enzyklopädischen Notaten zum Stichwort „Kriegskunst“ (Enzyklopädie, VII) stellt Novalis das Militärwesen als einen interdisziplinären Kulturbetrieb dar, der nebst „Schiesskunst“, „Rechenkunst“ und andern einschlägigen Fähigkeiten auch die „Tanzkunst“ zu pflegen habe. Diese und weitere „Künste“, dazu diverse Wissenschaften (Psychologie, Mathematik, Ökonomie) seien für die „Kriegskunst“ insgesamt unverzichtbar.
Der Krieg als solcher ist für ihn, den Dichter, kein Verlustgeschäft, sondern, ganz im Gegenteil, ein grundsätzlich gewinnträchtiges Unterfangen. Zur Begründung dieser These beruft er sich auf die etymologische Vermutung, wonach das Wort „Krieg“ von „kriegen“ herzuleiten sei, mithin von „erhalten“, „bekommen“ – der Krieg als Gabe, als „erkriegtes“ Gut.
Ob diese Erklärung (fast schon eine Rechtfertigung!) tauglich ist oder nicht, fällt für mich weniger ins Gewicht als die Tatsache, dass hier auf Grund einer blossen Lautähnlichkeit ein gängiger, durchweg negativ besetzter Begriff in einen ungewohnten Bedeutungszusammenhang gebracht und damit völlig neu gewertet wird. Das romantische Sprachvertrauen des Novalis ist in erster Linie ein Vertrauen auf den Eigensinn der Sprache, auf die Sprache als selbständigen Akkumulator von Bedeutung. Darin ist auch seine Poetik begründet.
Was die Dichtung vor andern, diskursiven Textsorten auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie „sich unmittelbar auf die Sprache“ bezieht (Enzyklopädie, VI). Unmittelbar auf die Sprache – das heisst auf die Unmittelbarkeit des sprachlichen Ausdrucks, wie er sich im Wortklang, in Melodie und Rhythmus des Verses oder der Strophe manifestiert.
Auf der Lautebene ist die Dichtung, nach Novalis, „ein sich selbst bildendes Wesen“, also ein primär aus der Sprache selbst erwachsendes Wesen. Von daher wird auch seine Gleichsetzung der Wortkunst mit musikalischem Komponieren plausibel. Die Klangstruktur des Sprachmaterials ist die Prämisse dichterischer Rede und bestimmt weitgehend deren Bedeutungsgehalt. „Jedes Wort sollte eine akustische Formel seiner Konstruktion, seiner Aussprache sein“, heisst es in der Enzyklopädie (VI): „Die Aussprache selbst ist ein höheres, mimisches Zeichen einer höhern Aussprache – Sinnkonstruktion des Worts.“
Doch selbst den Nicht-Sinn, den Un-Sinn nimmt Novalis zu Gunsten reiner Klanglichkeit in Kauf, wenn er festhält: „Gedichte – bloss wohlklingend und voll schöner Worte – aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang …“ − Eine Ergänzung und Bestätigung dazu findet sich in den Logologischen Fragmenten, wo die freie Rede des Dichters der begrifflich ordnenden Rede des Philosophen entgegengehalten wird: Dichterische Worte „sind nicht allgemeine Zeichen“ mit konventioneller Bedeutung, sondern „Töne sind es – Zauberworte, die schöne Gruppen um sich her bewegen“.
Wenn Novalis an anderer Stelle die Dichterrede mit den Orakelsprüchen von Delphi nicht nur vergleicht, sie vielmehr damit gleichsetzt, nimmt sich dies, dem Rückgriff zum Trotz, wie eine Vorwegnahme modernistischer Poetiken aus: Bei Stéphane Mallarmé, bei Welimir Chlebnikow und manch einem andern Autor der europäischen Moderne wären ähnliche Aussagen in nahezu identischem Wortlaut ausfindig zu machen.
Was für Novalis wie für die späteren Modernisten dichterische Normalität war, haben sich bekanntlich Jacques Lacan und Jacques Derrida gleichermassen zueigen gemacht, um ihre doktrinären Lehren zu begründen. Auch hier beherrscht die Lautlichkeit die Semantik, das Sagen die Aussage – dies mit dem freilich schwerwiegenden Vorbehalt, dass das Verfahren lediglich innerhalb einer und derselben Sprache anwendbar ist.
Was im Französischen oder im Deutschen gleich oder ähnlich klingt, findet im Russischen oder im Englischen keinerlei Entsprechung. „Sein / Seyn“ bei Heidegger, „abîme / abyme“ bei Derrida, „n’être / naître“ und „Dieu / d’yeux“ bei Jabès sind Beispiele dafür. − Das ist die Krux aller Wortspiele, aller assonantischen Aphorismen und, mehr noch, aller philosophischen (oder zumindest sophistischen) Versuche, den Wortklang als Generator von Bedeutung zu instrumentalisieren, eine Krux, die den Lacanismus wie den Derridismus, deren Lehren weitgehend auf innersprachliche Assonanzen abheben, obsolet erscheinen lässt.
Um aufs Deutsche und auf Novalis zurückzukommen: Evoziert der Begriff „Krieg“ (wenn man von seiner Aussprache ausgeht) nicht vielleicht eher ein „Kriechen“ als ein „Kriegen“? Und was mag es bedeuten, dass das deutsche Wort „Krieg“, russisch ausgesprochen (krik), unversehens als „Schrei“ verstanden wird? Oder im Englischen (crick) als „Steingalle“ oder als „Verrenkung“? Und in andern Sprachen nochmals anders!

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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