Felix Philipp Ingold: Unzeit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Felix Philipp Ingold: Unzeit

Ingold-Unzeit

FORTSCHRITT (2)

Der Atemmeiler treibt mit jedem
Fortschritt seinen Seim zum Ohr.
Wie toll und ratlos und in ödem
Vielerlei nimmt das Gebein, bevor

„Der Mensch“ das allerletzte Sagen
hat, geil über Hand, ist bald zu nah,
verpestet schon die Lust. Zu fragen,
wie „Der Mensch“ das Tier ins Da-

sein lockt, ist noch verfrüht, solang
das Rasseschwein, was Schön- und Frei-
heit sei, allein bestimmt. Der Drang
nach oben und voran im Drei-

stilspingen läßt die Gafferschaft
zum Himmel schreien: „Tat durch Kraft!“

 

 

 

Unzeit

ist ein Buch zu dieser (unserer) Zeit, ein heiteres, ein bitteres Buch: offen für alle. Die lesen wollen, werden verstehen; werden verstehen, daß es hier nicht zuerst ums Verstehen, vielmehr ums Mitdenken, ums Weiterdenken geht. Darum, daß man dort, wo das Verständnis (nicht aber das Versehen-Wollen) aufhört, aufmerkt; daß man die Entspannung, die das Nicht-Verstehen (auch das Miß-Verständnis) mit sich bringen kann, wenn immer möglich nutzt, um eigene, vielleicht ganz andere Intensitäten herzustellen; daß man, als Leser, seine bewegte Phantasie, seine bewegende Intelligenz walten läßt, welche die Dinge erst eigentlich in Szene setzt.
Der Autor hat sich die schwierigste (die am schwersten realisierbare und kaum noch zu legitimierende) Form literarischer Gestaltung auferlegt, das  S o n e t t.
Gesucht und eingegangen wird das Risiko dort, wo die Zeit uns am härtesten in der Hand hat, im Druckbereich der beständig zunehmenden politischen, wirtschaftlichen, ideologischen  Z w ä n g e, die indem sie einerseits minoritäres Bewußtsein radikalisieren, anderseits das Schweigen der Mehrheit institutionalisieren und somit verfügbar machen, unsere soziale Verfassung weitgehend bestimmen. Können sie umgesetzt werden in Freiheiten, genutzt werden für Rückgewinnung neuer Freiräume? Die poetische Praxis sucht diesen Weg: nicht durch Verletzung, sondern durch Verschärfung der Spielregeln den Spielraum zu erweitern – nach innen.
„Ein Gedicht?“ – „Es ist eine leise, sehr langsame Arbeit zu leisten, bis man einen winzigen, lebenswichtigen Zusammenhang vibrieren fühlt, eine Verbindung entdeckt, die zwischen zwei Aspekten eines Dings Sinn durchsickern läßt, zwischen einem Ding und einem Wesen.“ – „Aber welches Gedicht?“ – „… es gibt Gedichte-wie-offene-Hände, Gedichte-wie-Frauen, die Raum schaffen, die zu Fenstern werden, durchlässige Gedichte, die sich zu Welt hin öffnen – nach außen.“

Klett Cotta Verlag, Klappentext, 1981

 

Beiträge zu diesem Buch:

Zsuzsanna Gahse: Der Ichkönig liebt fahle Frauen
Stuttgarter Zeitung, 11. 11. 1981

Karl Krolow: Kleine Hetzjagd auf Rilke
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. 11. 1981

Vilem Flusser: Atomkraft und lyrische Tat
Basler Zeitung, 6. 3. 1982

Ernst Nef: Künstliche Gedichte
Neue Zürcher Zeitung, 22. 10. 1982

 

 

Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012

Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022

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