Mit dem ältern Plinius 

Im hohen Alter von 55 Jahren ist Gaius Plinius Secundus Maior im ersten nachchristlichen Jahrhundert während eines Vesuvausbruchs gestorben als Verfasser einer Naturgeschichte in 37 Büchern, die rund 20.000 Gegenstände erfassen − das Ergebnis umfangreicher Lektüren (ungefähr 2.000 Bände anderer Autoren) und eigener Recherchen; all dies unter den damals üblichen, vergleichsweise schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen.
Woher bezog ein Plinius − der Ältere wie übrigens auch der Jüngere − solche Arbeitskraft; das Interesse an so vielem, fast allem; den Willen zu enzyklopädischer Welterschliessung und gleichzeitig zur Unterrichtung nicht nur einer anonymen Leserschaft, sondern jedes einzelnen Lesers − mich eingeschlossen − weit über ihre Zeit hinaus?
Man liest sich in die Naturalis historia ein, fühlt sich als Person gemeint, angesprochen, bedeutet; alles für das Leben hienieden Wesentliche steht da, kann noch heute gelten, ist intellektuell und stilistisch von letzter (schlichtester) Schönheit.

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Doch Plinius lässt es keineswegs beim Inventarisieren bewenden. Die Naturgeschichte ist auch ein moralischer Traktat, eine Ethik in nuce, Warnung und Prophezeiung zugleich. Das hier festgehaltene, völlig illusionslose Menschenbild weist tief verschattete Züge auf, weist voraus auf moderne Skeptiker und Misanthropen wie Beckett oder Cioran. − „Als eine Strafe beginnt sein Leben“, stellt Plinius mit Blick auf den Menschen fest: „Nur wegen der einzigen Schuld, geboren zu sein!“
Von Natur aus vermöge der Mensch („unter allen Wesen das Schwächste“) gar nichts, ohne dass er es gelernt hat; einzig die Fähigkeit zu trauern und zu weinen bringe er naturgemäss mit, derweil er, seiner Sterblichkeit unliebsam bewusst, beliebig viele Untugenden − Gier, Ehrgeiz, Eitelkeit, Aberglauben, Lüge, Neid, Hass und Rache − sich ohne Not zur Gewohnheit mache. „Es ist doch geradezu eine seltsame Krankheit des menschlichen Geistes“, notiert Plinius an einer Stelle in Buch 18, „dass es uns gefällt, in unserem Geschichtsbüchern nur Kriege und Blutvergiessen festzuhalten, so dass man von der menschlichen Schlechtigkeit erfährt, aber gleichzeitig nichts weiss über das Walten der Natur.“
Das Walten der Natur konterkariert der Mensch mit seinen aufgemischten „Giften“ (venena), die er gezielt nicht nur gegen die Natur, sondern auch gegen seinesgleichen einsetzt. Plinius meint damit alle selbsterworbenen Schlechtigkeiten − von Wollust bis Ruhmsucht und Besitzgier − und er betont, dass allein der Mensch unter allen andern Tieren sich ständiger Giftattacken auf seine eigene Umwelt schuldig mache. „Wir vergiften auch die Flüsse und die Elemente der Natur, und selbst unser Lebenselement, die Luft, verderben wir“, erklärt er − und fügt hinzu: „Mit fremdem Gift kämpft ausser dem Menschen kein Lebewesen: Bekennen wir also unsere Schuld: Wir sind nicht einmal mit den Giften zufrieden, die auf der Erde wachsen − wie viel mehr Arten werden vielmehr von menschlicher Hand zubereitet! Und wahrlich: Kommen denn nicht Menschen hervor wie Gift?“
Die Menschen selbst − „wir“ Menschen, wie Plinius selbstkritisch unterstreicht − sind demnach das „Gift“, das alles „verdirbt und verzehrt“, was es berührt … Desolater könnte das Verdikt über das Menschengeschlecht insgesamt nicht ausfallen. Als gottferner Kenner, Bewunderer, Liebhaber der Natur scheint sich Plinius umso mehr zu grämen über die ausbeuterische Rücksichtslosigkeit der Spezies, der er − wie „wir“ alle − angehört und die es gleichwohl darauf anlegt, ihre Lebenswelt und letztlich sich selbst zu zerstören.
Als Grund dafür nennt er die Sterblichkeit des Menschen. Der Tod, eigentlich doch eine „Wohltat der Natur“, setze ihn in Furcht und Horror, wecke in ihm niedrige, ja verbrecherische, dabei ohnmächtige Instinkte, die das Sterben aufschieben, verdrängen, vergessen machen sollen. „Das sind“, heisst es im 7. Buch der Naturgeschichte, „kindische Einbildungen, Beschwichtigungsmittel für die zur Sterblichkeit verurteilte Menschennatur, die gierig danach strebt, niemals aufzuhören.“ − Mehr ist zu unsrer Bestimmung auch heute, zweitausend Jahre danach, nicht zu sagen, und Besserung, gar Heilung − nicht zu erwarten.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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