Szene I

Szene I
Titel: )
»Der Mann ohne Mantel«

 

 

 

 

 

 

 

 

AUTOR: He, du! Aufgewacht! Sie haben mich überfallen. Sie haben mir den Mantel weggenommen. Du!

 

 

KRITIKER: Was? Wer?
AUTOR: Weiß doch nicht. Sie sind schon abgehauen. Zwei. Schon verschwunden. Dorthin.

 

 

 

KRITIKER: Sie sind also weg? Alle?
AUTOR: Beide. Weg.

 

 

 

 

KRITIKER: Also beide weg. Fort.

 

 

KRITIKER: Kommen Sie!
AUTOR: Gehen wir?
KRITIKER: Los!

 

 

KRITIKER: Und wen darf ich melden?
AUTOR: Ich? Mich friert schon. Bitte.
KRITIKER: Und Ihr Name?
AUTOR: Nun ja, ich bin’s.
KRITIKER: Sie? Aber wie denn?
AUTOR: Ich sag’s doch. Ich. Verstehen Sie? Der Autor!
KRITIKER: Ich? Nie gehört.
AUTOR: Mein Mantel ist weg.
KRITIKER: und beide fort.

 

 

 

 

 

(Schweres Knirschen – fast ein Knarren – bei jedem Schritt.)

 

(Das Knirschen wird allmählich leiser, verliert sich.)

 

Nacht. Leichter Schneefall. An einer Straßenecke, unter der Laterne, steht, winterlich vermummt und mit gekreuzten Armen, der KRITIKER. Zehn Schritte von ihm entfernt wird ein AUTOR von zwei LESERN überfallen und seines Mantels beraubt. Der KRITIKER scheint den Vorfall nicht bemerken zu wollen. Die LESER entkommen unerkannt. Der AUTOR sieht sich um, bemerkt den KRITIKER, geht auf ihn zu und stellt beim Nähertreten fest: er schläft, ist stehend eingeschlafen.

 

 

Der AUTOR packt den KRITIKER an den Schultern, schüttelt ihn.

 

 

Eine Hand, schwarzweiß gemustert von Licht und Schatten, zeigt dorthin. Dann auf die Gegenseite. Doch nichts ist zu erkennen. Dichter Schneefall jetzt. Die Hand weist aus dem Bild; auf den Zuschauer.

 

Wieder die Hand. Der KRITIKER greift nach dem ausgestreckten Zeigefinger, zieht die Hand des AUTORS vor sein Gesicht, beobachtet das Schattenspiel, läßt die Hand schließlich fallen.

 

Der KRITIKER verstummt, läßt aber seine Lippen weitersprechen. Nach einer Weile kehrt dann die Stimme zurück.

 

Der KRITIKER und hinter ihm der AUTOR gehen langsam nach links ab. Unvermittelt bleibt der KRITIKER, dann auch der AUTOR stehen.

 

 

 

 

 

 

 

Der KRITIKER geht weiter. Der AUTOR folgt ihm; er verwirft, um sich zu wärmen, die Arme, dann die Beine, und schon scheint er zu tanzen. Jetzt sieht man, in Nahaufnahme von hinten, die Schuhe des AUTORS und gleich darauf jene des KRITIKERS; dann kommen die Schuhe beider von vorn ins Bild.

 

Der KRITIKER und der AUTOR, nunmehr nebeneinander gehend und wieder von hinten zu sehen, entfernen sich weiter; bald verschwinden sie im Bildhintergrund. Schneefall.

 

(Plötzlich dann, ganz nah und fast erschreckend, die Stimme des AUTORS aus dem Off, während gleichzeitig, von rechts außen, eine weitere Straßenlaterne ins Blickfeld rückt.)

 

AUTOR: Wo sind wir denn? Ich friere doch! Wohin gehen wir? Wer sind Sie eigentlich?

 

(Wieder das Knirschen im Schnee, rasch lauter werdend.)

 

AUTOR (schreit): Wwwas?

 

 

 

 

 

 

KRITIKER: Aber – hören Sie? – so geht das nicht. Wirklich! Was? ( für sich: ) Jaja.

 

Der AUTOR, noch immer leicht tänzelnd, steigt ruckartig ins Bild; zuerst wird, vom untern Rand her sein Hut sichtbar, dann die Augen, der Mund, Hals und Schultern usw., während er rasch näher kommt und schon bald mit seinem Oberkörper die ganze Bildfläche einnimmt. In diesem Augenblick ist der AUTOR aber auch gleich wieder verschwunden, nach unten; als wäre er gestürzt. Wieder Schneefall. Langsam beugt sich von links der KRITIKER ins Bild, schaut sich um, schüttelt müde den Kopf.

Der AUTOR bleibt verschwunden.

 

 

 

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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