21. Dezember

Ich habe merkwürdige, eher unerquickliche Tage hinter mir. Begonnen hat’s mit dem unglücklichen Vorfall in der Küche – Verbrühung der Schreibhand mit kochendem Wasser, vor Schmerz und Schrecken ein ungeschickter Schritt schräg nach hinten, wobei ich mir den rechten Fuß verstauche, den ich seither, dick geschwollen und in manchen Farben glühend, hinter mir her ziehe. Fuß und Hand! Ein Moment der Unachtsamkeit, ein zweiter Moment der Ungeschicklichkeit, und beides ist außer Kraft. Auf meinen täglichen Ausgang muss ich wohl für länger verzichten, ebenso aufs Schreiben, Rasieren, Autofahren, Liebemachen, Schneeschippen; vor lauter Frustration sehe ich mir auf Eurosport auch keine Tennisspiele mehr an – das Quietschen der Hightec-Schuhe und das Knacken der bandagierten Handgelenke könnte ich zur Zeit nur schwer ertragen, ich käme mir mit meinen Schmerzen lächerlich vor; und dazu kommen reichlich Redaktionsquerelen, Verlagsärger, Migräneanfälle, unerbetene Frauenbesuche, zunehmende Resignation, Probleme mit der Heizung und am PC. Um meine heruntergekommene Autobatterie zu ersetzen, muss ich einen »gelben Engel« vom Touring Club zu Hilfe rufen. Der Patrouilleur verfährt sich im Gelände, weil sein Navigationsgerät defekt ist, und kommt mit einer Stunde Verspätung in meinem hinterwäldlerischen Wohnort an. Bei strömendem Regen und einfallender Nacht baut er die alte Batterie aus, baut die neue ein, prüft die Spannung, kontrolliert die Elektronik. Ich verabschiede den »gelben Engel« mit einem satten Trinkgeld. Plötzlich kann ich die dicken Regentropfen nicht mehr von den Sternen unterscheiden. Weihnacht wirft ihre Schlagschatten und Schlagzeilen voraus. Was noch feiern? – Wen noch freien? Nie sind die Frauen nicht in der Mehrzahl, und sie werden immer jünger, immer schneller, wollen’s wissen, wollen’s haben, sind allhie und immer schon dagewesen. »Nichts Rares!«, würde meine Mutter kurz und bündig dazu sagen; sie ist dreiundneunzig und meint … und glaubt mich weiterhin »vor diesen Weibern« warnen zu müssen. – Und die dort drüben? Denkt mit vollem
aaaaaMund! Versteht sich und die Welt nicht mehr und hat
aaaaa(solang die Spucke wegbleibt)
aaaaanoch manches zu entdecken. In ihren Augen
aaaaa– schaut! –
aaaaasteht schon als matter Glanz das nächste
aaaaaDate. Wozu denn also nach- und weiterdenken
aaaaawenn die erste Person nur noch
aaaaain der Mehrzahl boomt. Wenn im wiedereröffneten
aaaaaEden
aaaaaohnehin der Ahorn ganz allein
aaaaaden Garten pflegt.
– Für heute sieht der periodische Kalender der Maya eine Zeitenwende vor, Beginn einer neuen … einer qualitativ neuen Epoche der Menschheit und damit der Geschichte oder auch (in den Medien streiten sich Experten darüber) das Ende der bestehenden Welt. Es ist neun Uhr vierzehn. Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es, soweit meine Wahrnehmung reicht, kein Anzeichen für den definitiven Untergang, kein Hügel in der Umgebung ist eingestürzt, kein Großfeuer, kein Erdbeben, keine Seuche ausgebrochen, keine Flut, kein Sturm über uns hinweggegangen; aber es bleibt noch ein wenig Zeit bis Null Uhr. – In den Frühnachrichten kommen die üblichen Meldungen, es braucht keinen letzten Tag dafür, dass eine »von der Mutterschaft überforderte« junge Frau irgendwo im schweizerischen Mittelland ihre drei Kleinkinder wie überzählige Katzen in der Badewanne erwürgt und ersäuft; dass in Luzern ein ad hoc gebildeter Verein von »Lärmenden« mehr Rechte für Krawallmacher fordert, will heißen: zwei, drei Stadtteile, in denen zeitlich unbeschränkt gelärmt werden darf – noch ein Menschenrecht! Gemeldet wird aber auch, dass gemäß jüngsten Erhebungen der Weltgesundheitsbehörde die Men und Schen in den ärmsten Ländern – etwa in Peru, Guatemala, Kolumbien – auch die sind, die sich am glücklichsten schätzen, derweil Bevölkerungen wie die der USA, Armeniens, Litauens, Singapurs vom allgemeinen Glücksvorrat am wenigsten mitbekommen. Usf. – Habe in diesen unguten Tagen mal wieder mein seit Jahren stagnierendes Erzählprojekt (›Kirilliza‹? ›Alias‹?) vorgenommen, um die Chancen der Realisierung abzuschätzen. Es geht um einen russischen (mittlerweile verstorbenen) ehemaligen Stalinisten und Kriegsverbrecher, der später zu einem engagierten Dissidenten wurde. Ich habe den Mann vor einem halben Jahrhundert in Leningrad kennengelernt, in der Folge wurde er zum väterlichen Freund. Auf weitläufigen Spaziergängen in der überfrorenen Stadt hat er mir (seine Wohnung war verwanzt und also für Gespräche mit Ausländern nicht geeignet) seine Lebensgeschichte referiert, die an unwahrscheinlichen Episoden so reich ist, dass sie als Tatsachenbericht unglaubwürdig wirken würde. Der Bericht müsste als literarische Fiktion stilisiert werden, um seinen dokumentarischen Charakter zu erhalten und seinen Realitätsgehalt plausibel zu machen. In den 1980er Jahren, noch während der Perestrojka, wurde mein Gesprächspartner, mit dem ich zwischenzeitlich eine umfangreiche Korrespondenz geführt hatte, aus der UdSSR ausgebürgert. Auf der »jüdischen Linie« kam er, wie damals üblich, nach Wien, wo wir, nach mehrjähriger Unterbrechung, unsre Gespräche und Spaziergänge wieder aufnahmen. In Wien fühlte er sich »wie zu Hause«, als Oberst der Roten Armee hatte er kurz vor Kriegsende an der Befreiung der Stadt teilgenommen, hatte sich für die zahlreichen sowjetischen Insassen der Konzentrationslager von Mauthausen und Gusen eingesetzt. Da er nun aber nicht, wie von den Behörden vorgesehen, nach Israel weiterreisen, sondern in den USA um Aufnahme bitten wollte, verlängerte sich seine Quarantäne in Wien um mehrere Wochen. Auf der Durchreise von dort nach Boston machte er dann einen Zwischenhalt in Zürich. So trafen wir einander erneut, redeten viel. Mit bekenntnishaftem Eifer berichtete er über immer noch mehr Einzelheiten aus seinem Leben als Parteimitglied, als Sowjetliterat, als Armeekommandeur, als Gulaghäftling, als engagierter Dissident. Dabei kam mir erstmals die Idee, ihn zum Protagonisten einer Erzählung, allenfalls eines Romans zu machen. Doch sein abenteuerlicher Lebensgang sollte nicht das Thema … sollte bloß die Folie für ein Robotbild des modernen beziehungsweise des von der europäischen Moderne geprägten Menschen sein – des Gleichgültigen, des Renegaten, des Anpassers, für den alles gleichermaßen gültig ist, wenn es nur den eigenen Bedürfnissen, dem eigenen Nutzen, letztlich dem eigenen Überleben entspricht. Ein solcher Mensch verzichtet auf die Fülle des Lebens zugunsten seines viel engeren Interesses am Überleben, dem geraden Weg zieht er den opportunistischen Schleuderkurs zwischen Anpassung und Widerstand vor. Mein Freund und Vertrauter hätte, unter gegebenen Umständen, durchaus auch mein Feind, mein Verderber sein können; statt Sympathie hätte er bei mir Verachtung oder Hass provozieren können. Der Mann hat eingestandenermaßen gemordet, aber ist er … muss er deshalb auch für mich ein Mörder sein? Hätte er mir von seinen Verbrechen nicht berichtet und wüsste ich also nichts von jenen Mordtaten und von ihm als Mörder, was genau wäre anders gewesen? Und was wäre gewesen … was hätte es für mich bedeutet, wenn er erst nach unsrer Begegnung zum Mörder geworden wäre? Hätte ich ihm dann meine Freundschaft aufkündigen müssen? Aber nein. Denn integral kann ich den Andern ohnehin nicht erkennen, nicht in seiner ganzen Eigenart, nicht in all seinen gleichzeitig vorhandenen Eigenschaften, nur in den Rollen, in denen er sich jeweils hier und jetzt – mehr oder minder souverän – präsentiert. Das würde ich zeigen wollen: Die ganz natürliche Gleichgültigkeit eines Menschen, der den Horror immer wieder neuer Ausnahmesituationen wie auch den Horror alltäglicher Normalität nur dadurch zu überstehen vermag, dass er sich von nichts berühren, verunsichern oder gar verpflichten lässt. Was unter den Extrembedingungen der Straf- und Todeslager stattfindet, geschieht jederzeit auch, bis zur Unkenntlichkeit sublimiert, in Familien, Großraumbüros, Schulen, Spitälern, Montagehallen, Sport- und Gesangsvereinen, Parteien, Bergwerken, Verwaltungsräten und andernorts, und es sind durchweg Menschen wie du und ich, die mal helfen, mal hindern, mal streicheln, mal treten, mal retten, mal lügen, mal lieben, mal morden. Was eben heute wieder in Gaza, in Afghanistan, in Samedan, in Vincennes, im Oberwallis, in Mali, in Amstetten verbrochen wird, ist durchweg Menschenwerk und ist als solches gleichgültig. Ich gestehe allerdings, dass mich die Einsicht in diese Gleichgültigkeit nicht gleichgültig lässt. Da ich selbst der Gattung angehöre … da ich selbst Mensch und Mitmensch und auch Unmensch bin, kann ich nicht umhin, mich involviert, mitverantwortlich, sogar schuldig zu fühlen. Zu allen denkbaren Taten und Missetaten finde ich irgendwelche Impulse auch bei mir. Von daher meine häufigen Verdüsterungen … von daher meine persönliche Zerknirschung, meine Angst, meine Wut, wenn ich über Krieg, Kriminalität, Korruption in aller Welt auch nur lesen kann und mich doch jedes Mal fragen muss, welchen Schuldanteil ich daran habe. Insofern wäre die Thematik von ungebrochener Aktualität und persönlichem Interesse, muss aber das Ganze historisch unterfüttert sein? Brauche ich dafür die Geschichte … muss ich dafür die Biografie eines Zeitzeugen als historisches Referenzsystem einsetzen? Ließe sich das Phänomen der Gleichgültigkeit nicht auch (natürlich ließe sie sich!) auf einer zeitgenössischen Handlungsebene ausfalten? Mag sein. Doch dazu fehlt mir das literarische Instrumentarium, fehlt mir auch das detaillierte Wissen, die verlässliche Erfahrung – ich habe keine Ahnung davon, was heute in einer Chefetage, einer Autowerkstatt, einem Fanclub, einer Parteizentrale abläuft und welche Intrigen sich dort in welcher Weise und mit welchen Konsequenzen ausleben. Nun gut, ich habe den »Roman« in diesen Tagen konzipiert, habe dazu zahlreiche Einzelheiten formaler und thematischer Relevanz festgelegt, bin zeitgeschichtlich sehr gut dokumentiert, verfüge über viele mündliche und schriftliche Zeugnisse meines einstigen Gesprächspartners. Das Dilemma besteht darin, dass ich all diese Materialien beim Schreiben zwar nutzen, mich davon aber auch freimachen muss. Das wird mein Hauptproblem … wird die Hauptaufgabe beim Schreiben sein: Möglichkeiten, auch noch so unwahrscheinliche, wahrzumachen. – Zu Weihnachten kommt mir weder Balthasar noch der Esel noch irgendeiner der beliebig vielen Sterne in den Sinn – selbst der Duft des feuchten Heus hat sich verflüchtigt; und im Stall liegt schon alles bereit, was es für später braucht: zwei Balken (einer davon ein Drittel so lang und etwas schmaler als der andere), eine Leiter, eine Lanze, ein Kübel, ein Schwamm, ein paar dicke, schon leicht angerostete Nägel … – Sprinkeliger Dauerregen schwemmt allmählich den verdreckten Restschnee fort und lässt die wenigen verbliebenen Farben um eine Spur deutlicher hervortreten, Rot aus Braun, Blau aus Schwarz, Gelb aus Grün.

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