Sprachmechanik

In neun Bänden, als Kassette verpackt, legt Franz Josef Czernin »die aphorismen« vor, ein numerisch rubriziertes, rund elfhundert Druckseiten umfassendes Kompendium, das laut Untertitel als »einführung in die mechanik« zu lesen ist. [Franz Josef Czernin, die aphorismen (eine einführung in die mechanik). 8 Textbände und 1 Registerband in Kassette. Verlagsgemeinschaft Sonderzahl, Wien 1992.]

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Aphorismen, Mechanik … was haben pointierte Gedankensplitter mit den ehernen Gesetzen der klassischen Physik zu schaffen? Kaum etwas ist ihnen gemeinsam, es sei denn ihre Unwiderlegbarkeit. Doch nicht darum geht’s dem Verfasser; nicht darum, ob er recht hat beziehungsweise ob seine Sätze richtig oder gar gerecht sind. Was ihn interessiert und was er, im Rahmen einer hochkomplexen Versuchsanordnung, mit sturer Konsequenz erprobt, ist die syntaktische, die logische, aber auch die poetische Eigengesetzlichkeit, welche in und zwischen den Sätzen sich auslebt und durch die letztlich die »Mechanik« der Sätze insgesamt … mithin die Gravitation des Textganzen … bestimmt wird, während diese »Mechanik« wiederum, als ein selbstbezügliches und selbstorganisierendes System von Sätzen, auf jeden einzelnen Satz zurückwirkt.
Czernins enzyklopädisches Universum ist ein Sprachraum, innerhalb dessen mit literarischen Mitteln philosophiert wird, und das heißt … der Autor setzt eine literarische Form, hier den Aphorismus, auf unterschiedlichste Weise und in immer wieder neuem Zusammenhang ins Werk, jedoch nicht, um einen vorgefaßten Gedanken auf den Punkt zu bringen, sondern, im Gegenteil, um seine aphoristischen Sätze, die er zunächst als rein grammatikalische Konstrukte vorführt, als Anlaß … statt als Ergebnis … des Nachdenkens plausibel zu machen.
Statt das immer schon Verstandene mit Hilfe der Sprache lediglich zu vermitteln oder es rhetorisch durchzusetzen, beharrt Czernin auf der Fragwürdigkeit jedweder Aussage und sprachlicher Kommunikation überhaupt … der Satz, der Aphorismus kann für ihn kein Wahrheitsträger sein, er gibt keine Antwort, er stellt, als das zu Verstehende, ein Problem.
Und so spricht der Aphorismus auch nicht mehr, wie üblich, das Selbstverständliche in überraschender, jäh erhellender Wendung aus. Vielmehr wird er … ob er nun apodiktisch, definitorisch, sophistisch, hypothetisch, tautologisch oder bloß trivial daherkommt … seinerseits, selbst für den Autor, zum Prüfstein des Verstehens und damit zum Gegenstand kritischer Befragung. »Manchmal also«, betont Czernin, »ist der klassifikatorische Ort, den ein Aphorismus einnimmt, auch eine Weise, auf das hinzuweisen, was entgeht, wenn einzig und allein seinem Wahrheitsanspruch gefolgt wird und nicht auch den Implikationen seiner Rhetorik, die ihrerseits wieder als etwas gedacht werden kann, das durch den klassifikatorischen Ort des Aphorismus suggeriert wird.«
Die Rück- und Selbstbezüglichkeit, die in der syntaktischen Struktur dieses Satzes sich zeigt, bevor sie als solche, auf der Aussageebene, verständlich wird, ist für die Mehrzahl von Czernins Aphorismen durchaus charakteristisch; das Paradoxon, oftmals bis zur Selbstaufhebung radikalisiert, erweist sich als deren philosophische Grundfigur, als eine gleichermaßen gedankliche und sprachliche Fügung, die in sich leerläuft oder kurzgeschlossen ist, die jedoch als Kurzschluß, als Leerlauf Einsichten ermöglicht, welche bei all ihrer Absurdität einleuchtender, nutzbringender oder wahrer sein können als die »letzten Wahrheiten«.

Sätze … zum Beispiel … wie diese: »gesicht: jeder satz ist jedem anderen gleich.« – »worauf sich, was ich glaube, bezieht, ist das, was ich nicht sein kann, ohne nicht zu sein.« – »dichten: so sprechen, daß, was man ausspricht, ein teil dessen wird, was die sache vernichtet, die man auszusprechen meint.« – »definition: nur wenn das, was zu zeigen scheint, daß es schon gut ist, nicht wahr ist, ist es schon gut.« – Oder: »ich: das, was alles vorwegnimmt, – auch sich selbst.« Etc.

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Czernin hat seine gesammelten Aphorismen, von denen ihm, wie er selbst bekundet, »einige hundert« durch Benedikt Ledebur zugetragen wurden, in neun »Haupt-« und fünf »Neben-Kategorien« eingeteilt, und er hat ihnen, in Form eines beweglichen Lesezeichens, eine Anleitung zu adäquater Lektüre beigegeben. Die insgesamt fünfzehn Kategorien entsprechen ebenso vielen verschiedenen Typen von »Ich«-Bewußtsein, etwa dem »selbst-denker«, dem »selbst-faller«, dem »selbst-teiler«, dem »selbst-verbesserer« oder auch dem »selbst-zweifler«, und all diesen Typen ist eine entsprechende Kennziffer, von 1 bis 15, zugeordnet, welche … einzeln oder in Kombination mit andern … jeden Aphorismus kategorial definiert, wobei ein Punkt zwischen zwei Ziffern als »als«, ein Doppelpunkt als »über« zu lesen ist.
Da findet sich beispielsweise im ersten Band unter der Ziffernfolge 1.5:.7 der konstatierende Satz: »ich bin, was mir an mir noch verständlich ist.« – Laut Anleitung wäre dieser Satz zu lesen als Aussage eines »selbst-denkers«, der »als selbst-faller« über einen (oder als ein) »selbst-teiler« spricht.
Wenn auf solche Weise die Subjektstellung dessen, der spricht, für jeden Aphorismus eigens festgehalten wird, so hat der Leser, anderseits, die Möglichkeit, anhand des Registerbands, in dem alle rekurrenten Begriffe … von »abhängen« und »ablehnen« bis »zweifeln« und »zwingen« … verzeichnet sind, sich in Czernins labyrinthischer Textarchitektur am Leitfaden der Nomenklatur auf stets wieder neue Denkwege zu begeben, von denen freilich manche in beklemmender Leere enden, und nicht, wie man es nach anspruchsvoller Lektüre gemeinhin erwartet, in einer so oder anders gearteten Lehre, die als abgeschlossen gelten könnte und zitierbar wäre.
Doch bei allem intellektuellen Rigorismus und Asketismus, den Czernin in impliziter Polemik gegen die belletristisch verbrämten Philosophien der Postmoderne, aber auch gegen den sogenannten gesunden Menschenverstand aufbietet, mangelt es seiner präzisen Denkmechanik und Sprachphysik keineswegs an Witz, will sagen … an jener befreienden Heiterkeit, die dort sich einstellt, wo forcierte Rationalität unversehens in puren Nonsens umschlägt. Diesen Kippeffekt zwischen Sinn und Unsinn erreicht Czernin in der Regel dadurch, daß er einen schlichten alltagsweltlichen Gegenstand … einen Hammer, eine Schraube … mit einem davon völlig abgehobenen Philosophem zusammendenkt und solchermaßen einen »Punkt« zum »Springen« bringt, der eben noch als räumliche oder als begriffliche Koordinate festzustehen schien. Und so gibt es … ein Beispiel mag dafür genügen … auch zwischen dem König der Lüfte und dem Ich-König einen gemeinsamen, notwendigerweise nun eben springenden Punkt: »adler: was als völlig unsinnig erscheint, und das, was als vollkommen sinnvoll erscheint, sind jene äußersten punkte, zwischen welchen ich mir selbst erscheine.«

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Czernins groß angelegtes Buchwerk hat den doppelten Anspruch, als poetische Enzyklopädie wie auch als enzyklopädische Poetik gelten zu können und benutzt zu werden. Doch dafür bräuchte es die Aufmerksamkeit, die Geduld, die Einbildungskraft von mindestens 300 Lesern. Mag sein, daß 300 Leser durchaus alle Leser wären, die einem Buch wie diesem zu entsprechen … darauf zu antworten vermöchten mit adäquater, nämlich eigensinniger Lektüre. Für jene 300 Leser jedenfalls hat Franz Josef Czernin 300 Exemplare seines Werks handschriftlich signiert und numeriert; und an jenen Lesern läge es nun, »die aphorismen« lesbar zu machen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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