Unbeschreiblich

Als gemeiner Schreiber, uniformiert und bewaffnet, hat der nachmals weithin bekannte Schriftsteller Isaak Babel … er wurde 1894 in Odessa geboren, 1940 wegen angeblich trotzkistischer Umtriebe in Moskau hingerichtet … vom Frühjahr bis zum Herbst 1920 an der Offensive der Sowjetarmee gegen die polnischen Interventionstruppen in Ostgalizien teilgenommen; sein Auftrag bestand offenbar darin, das Frontgeschehen chronikalisch festzuhalten und die Presse hin und wieder über besondere Vorfälle oder verdiente Militärführer zu informieren, doch scheint Babel, nach eigenem Bekunden, weit häufiger mit der Niederschrift von irgendwelchen »Bescheinigungen« … Krankenscheinen? Totenscheinen? … beschäftigt gewesen zu sein als mit den Aufgaben eines offiziellen Kriegsberichterstatters, ganz abgesehen davon, daß ihm der tägliche, der stündliche Kampf um das nackte Überleben, ein Kampf gegen Hunger und Hitze, gegen mörderische Angst und Müdigkeit, ohnehin nur sehr wenig Zeit und kaum noch Kraft zum Schreiben ließ.
Gleichwohl hat Babel während all der Monate, da er Seite an Seite mit den bolschewistischen Kavallerieverbänden in vorderster Kampflinie stand, regelmäßig Tagebuch geführt … eine physisch wie auch psychisch staunenswerte Leistung, die wohl nur dadurch möglich wurde, daß Babel seine dienstliche Pflicht stillschweigend für ein literarisches Vorhaben nutzbar machte, aus dem in der Folge sein erzählerisches Hauptwerk, »Die Reiterarmee« (1926), hervorgehen sollte. Das auch in deutscher Sprache vorliegende Kriegstagebuch ist demnach, einerseits, als skizzenhafte Urfassung der späteren Prosaarbeit zu betrachten, kann aber anderseits, zumindest teilweise, auch als faktographische Bestandsaufnahme einer inzwischen untergegangenen Welt gelten, der Welt des ostjüdischen Schtetl, der sich Babel kraft seiner Herkunft aus dem assimilierten städtischen Judentum Südrußlands zutiefst verbunden fühlte, dem er aber gleichzeitig zutiefst entfremdet war. [Isaak Babel, Tagebuch 1920. Aus dem Russischen übersetzt, herausgegeben und kommentiert von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 1990; vgl. dazu »Schreiben und Sterben unter Stalin (Isaak Babel)«, in Neue Rundschau, 1990, II.]
Der Zwiespalt hätte radikaler nicht sein können; als Jude, als Intellektueller mußte sich Babel unter seinen mehrheitlich antisemitisch und kulturfeindlich eingestellten Genossen ebenso fremd vorkommen wie unter der politisch reaktionären, religiös konservativen jüdischen Bevölkerung des einstigen »Ansiedelungsrayons«, die er, als engagierter Vertreter der Sowjetmacht, von Vorurteilen befreien, von der Notwendigkeit und vom Nutzen der Revolution überzeugen sollte. Babel hat den daraus sich ergebenden existentiellen Antagonismus zwischen Assimilationsbereitschaft und Selbstbehauptung, Loyalität und Eigensinn zeitlebens nicht zu überwinden vermocht, und er ist, kaum verwunderlich, auch in seiner literarischen Arbeit stark davon geprägt gewesen.
Gerade das frühe Kriegstagebuch läßt deutlich erkennen, daß Babels auktoriale Position eine Zwischenposition ist; daß sich der Erzähler nicht nur jeglicher ideologischen Festlegung entzieht, sondern auch jede moralische Wertung vermeidet … für ihn, der sich stets im Dazwischen, nie im Daheim aufhält, ist alles gleichermaßen gültig, und als Gleichgültiger macht er keinen Unterschied zwischen Gut und Böse, Freund und Feind, Eigenem und Fremdem. Einfach zu erzählen und einfach zu erzählen … das ist seine doppelte Devise; denn was da zu erzählen ist, ist von solcher Furchtbarkeit, von solch unvorstellbarer, wiewohl konkret erfahrener Niedertracht, daß ihm keine Erklärung, kein Vergleich, schon gar kein Urteil, auch kein Entsetzen, vielleicht nicht einmal die Erinnerung, sondern einzig die Erzählung selbst … das Erzählen, und nicht das Erzählte … gerecht werden kann.

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In diesem Sinn ist Babels Tagebuch, als Erzählleistung, ein Überlebensversuch; ein Versuch, das Leben auch dort zu bestehen, wo es zur realen Hölle wird. Und wenn der Versuch gelingt, dann eben deshalb, weil die Erzählung … einfach? … sich auf die Beschreibung des Unbeschreiblichen beschränkt. Darin bleibt Babel wohl bis heute unerreicht. Die Hölle … das sind für ihn nicht bloß die andern; die Hölle … das ist auch sein eigenes Tun. Der Tagebuchschreiber schont sich nicht; er beschreibt keineswegs nur die Greueltaten der verschiedenen Kampfparteien, die stupide Brutalität der Kommandeure und Kommissare, die Verschlagenheit und Unterwürfigkeit der Zivilbevölkerung … er beschreibt auch, wie er selbst zum Dieb, zum Plünderer, zum Schläger, zum Mörder wird, und er beschreibt es mit dem gleichen unerbittlich teilnahmslosen Kamerablick, den er bald auf eine Kinderhand mit abgehackten Fingern oder auf die schönen weißbestrumpften Beine einer Krankenschwester richtet, bald auf die Szene einer Vergewaltigung, einer Folterung, einer Synagogenschändung oder einer Zwangsrequirierung. Ob … und von wem … Leid zugefügt oder Schmerz erlitten wird, scheint den Erzähler wenig zu kümmern; ob es sich beim »Opfer« um einen Kosaken, einen Juden, ein Pferd, einen Baum, ein Haus handelt, ist ihm ebenso egal wie die Identität des jeweiligen »Täters«. Nicht zuletzt verhindert solche Gleichgültigkeit auch jede Emotionalität … der Babelsche Erzähler kennt weder Zorn noch Verachtung, er kennt aber auch keine Freude, kein Mitleid, keine Liebe; das einzige Gefühl, das ihn angesichts des alltäglichen Grauens gelegentlich ankommt, ist Trauer, Traurigkeit … davon berichtet das Tagebuch fast so oft wie vom unstillbaren Bedürfnis zu schreiben, zu beschreiben, was hier und jetzt geschieht, wofür es aber jetzt und hier noch keine passenden Worte gibt … Luft, Qual, Regen, Erschöpfung; das Unaufhörliche.

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Das Schreiben im Feld, an der Front, ist für Babel eine verzweifelte Sehnsuchtsgeste … sie bedeutet den Aufschub des Erzählens als Kunst und ist doch auch dessen überzeugtes, überzeugendes Versprechen. »Warum will meine Traurigkeit nicht enden?« fragt sich der Autor in einer Notiz vom 6. August 1920; und er antwortet: »Weil ich fern von zu Hause bin, weil wir zerstören, weiterziehen wie ein Wirbelsturm, ein Lavastrom, von allen gehaßt, das Leben zerstiebt, ich bin auf einer großen, nicht enden wollenden Totenmesse.« Babel, der sich selbst Ljutow, »der Grausame«, genannt hat und noch so gern als kaltblütiger Haudegen aufgefallen wäre, ist stets der melancholische Intellektuelle geblieben, der von seinen Kampf- und Gesinnungsgenossen schon deshalb verachtet wurde, weil er niemals seine Brille ablegte, niemals den klaren Blick verlor: »… wie klar das alles ist – das muß ich beschreiben …«

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Babels durchweg hektischer, bei all seiner Flüchtigkeit und Brüchigkeit aber höchst präziser Sprachduktus … man fühlt sich als Leser an die damals von Dsiga Wertow praktizierte kinematographische Schnitt- und Überblendungstechnik erinnert … ist die adäquate Entsprechung zu der in seinem Tagebuch dargestellten Realität eines Kriegs, dessen leerlaufende Absurdität die Menschen zu reißenden Wölfen, zu mordenden Maschinen werden läßt. Das auf sowjetischer wie auf polnischer Seite verheißene »Paradies« der Freiheit und Gerechtigkeit wird mit so viel roher Gewalt durchgesetzt und muß mit so vielen Opfern abgegolten werden, daß es tatsächlich nur noch als »Hölle« erfahrbar ist. Nur im Stakkato additiv aneinandergereihter Wirklichkeitsausschnitte, und nicht mehr in syntaktisch gefügten Aussagesätzen, vermag Babel diese »Hölle« zu vergegenwärtigen.
»Ein schreckliches Ereignis«, eines von vielen, spielt sich vor Babels Augen im Städtchen Berestetschko ab, wo die Polen die mehrheitlich jüdische Bevölkerung terrorisieren, bevor die sowjetischen Befreier … »Judenfresser und Plünderer« auch sie einrücken, um ihrerseits die katholische Kirche zu schänden: »… sie zerfetzen die Ornate, kostbare glänzende Stoffe sind zerrissen, auf dem Boden, die Krankenschwester hat drei Ballen fortgeschleppt, sie zerfetzen das Futter, die Kerzen sind geraubt, die Truhen aufgebrochen, die Bullen herausgerissen, das Geld geraubt, ein herrliches Gotteshaus – 200 Jahre alt … der aufgebrochene Sarkophag, die Gestalt des hl. Valentin. Der Meßdiener zittert wie Espenlaub, windet sich, vermengt Russisch und Polnisch, ich kann ihn nicht anrühren, er schluchzt. Bestien, sie sind gekommen, um zu plündern, das ist so klar, die alten Glitter werden zerstört.«
Die barbarische Kulturvernichtung wird von Babel, nicht anders als der permanente Pogrom zwischen den Fronten, mit melancholischer Aufmerksamkeit protokolliert; sie findet ihren zeichenhaften Ausdruck im sinnlosen, vielfach wiederholten bolschewistischen »Sturmangriff auf die unreifen Äpfel, auf die Bienenstöcke«, die in manchen polnischen Gärten vorgefunden werden. In Czesniki notiert Babel am 31. August: »Ein Vorwerk. Schattige Waldwiese. Die Zerstörung total. Nicht einmal Sachen sind übriggeblieben. Den Hafer holen wir uns bis zum letzten Rest. Der Obstgarten, Bienenstöcke, die Zerstörung des Bienenhauses, schrecklich, die Bienen summen verzweifelt, man sprengt mit Pulver, sie hüllen sich in Mäntel, gehen zum Angriff auf die Bienenstocke vor, ein Bacchanal, sie ziehen die Rahmen mit den Säbeln heraus, der Honig tropft auf die Erde, die Bienen stechen, man räuchert sie mit teergetränkten, brennenden Lappen aus. Tscherkaschin. In dem Bienenstock Chaos und totale Zerstörung, die Trümmer rauchen. – Ich schreibe im Garten, eine Waldwiese, Blumen, es tut mir weh um das alles
Wenn man bedenkt, daß schon Platon … in »Ion«, durch Sokrates … die Biene als ein »Ding ohne eigene Schwere«, als ein »ganz heiliges« Wesen bezeichnet hat, das »aus vielen Blumen den Honig« schöpft, so wie die Dichter »aus den süßen Quellen der Haine und Gärten ihrer Musen die süßen Lieder schöpfen«, dann wird wohl einsichtig, was die Ausrottung der Bienenvölker durch die Avantgarde der »Sowjetmacht« in Galizien für den Schriftsteller Isaak Babel bedeutet haben muß … der von Honig triefende Säbel des Rotarmisten kündigt, als reales Dingsymbol, die faktische Liquidierung der freien russischen Literatur an, läßt aber auch Babels eigenes Ende, seinen gewaltsamen Tod als »Säuberungsopfer«, erahnen.

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Erst im Krieg scheint Babel, angesichts der »furchtbaren Grausamkeit«, die hier … wie es in einem Briefentwurf vom 13. August 1920 heißt … »keinen Augenblick lang aussetzt«, begriffen zu haben, wie »untauglich« er für »das Werk der Zerstörung« war, an dem er selbst, im Namen der Revolution, sich beteiligen wollte, und wie schwer es ihm fiel, sich »vom Alten loszureißen«; »… von dem, was vielleicht schlecht war, für mich aber nach Poesie gerochen hat, wie der Bienenstock nach Honig, gehe ich jetzt weg, was soll sein? Die einen werden die Revolution machen, und ich werde … werde das besingen, was sich abseits befindet, das, was tiefer sitzt, ich habe es gespürt, daß ich, das können werde, dafür wird Zeit sein und auch Raum.«

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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