Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Panther“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Panther“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Der Panther

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

1902

 

Kommentar

Das wohl berühmteste Gedicht Rilkes ist nicht umsonst so berühmt. Es ist nicht nur überzeugend formvollendet, es scheint auch gut verständlich (weshalb die Verstehenshilfe sich hier erübrigt) und thematisch überaus relevant. Wer könnte sich im Übrigen nicht mit einem gefangenen Tier identifizieren, solange er selbst noch wenigstens einen Rest Bedürfnis nach Freiheit hat? Wer hat dieses Bedürfnis nicht, solange er wachen Verstands ist und sich mindestens ein Quäntchen unabhängigen Denkens bewahrt hat? Die Lektüre, scheint es, ist hier ein humanitäres Politikum, bei dem freilich die zoologisch-tierethische (und neuerdings auch agrarwirtschaftliche) Bedeutung nicht zu kurz kommt. Das Gedicht betrifft also jeden, auch wenn sich längst nicht alle betroffen fühlen.
Der Perspektivenwechsel vom Mensch zum Tier gelingt deshalb so überzeugend, weil der Autor den geistigen Stillstand des Eingesperrten wörtlich nimmt, so dass alles andere herum in Bewegung erscheint. Diesen vorausgesetzt, defilieren also die Gitterstäbe vor ihm, nicht umgekehrt, und die Stäbe machen so sehr sein Leben aus, dass sie seine Weltsicht, sein Welt-Bild dominieren.
Die Welt ist „Vorstellung“, sagt Strophe eins, bevor die zweite von „Wille“ spricht und damit die Schopenhauer’sche Dualität komplettiert. Natur („Wille“) versus Geist („Vorstellung“) bilden hier ein Konfliktgerüst, das für alle, insbesondere aber die (westlichen) Zivilisationen nach der Aufklärung von beständiger Brisanz ist. Der Panther ist jetzt plötzlich mehr als ein Tier. Er wird zum hybriden Abbild der Menschenseele, die nach Freiheit lechzt, während sie in Gefangenschaft haust, sich „im allerkleinsten Kreise dreht“ und wohl auch noch nach einer Befreiung hinter imaginären Gitterstäben verbliebe.
Der Sachverhalt der geistigen Gefangenschaft ist so knapp auf den Punkt gebracht wie nur möglich, bevor die dritte Strophe die Haltbarkeit dieses Zustands, ja dessen Unausweichlichkeit begründet. Denn wenn tatsächlich einmal Außen- und Innenwelt differieren sollten, sprich: „ein Bild hinein [geht]“, das fremd und neu ist, wird dieses ausgelöscht „und hört im Herzen auf zu sein“. Der Hospitalismus kann nun gar als die wahre und einzige Freiheit erscheinen, der Radius der Bewegung als ein für allemal ausgeschöpft.
Indem Rilke so die hybride geistige Verfassung des Menschen zeigt, der einerseits unbewusste Natur, andererseits sapiens („wissend“, „bewusst“) ist, wird der Prozess der Hominisation im Allgemeinen und der der Zivilisation im Besonderen als traurige Sackgasse beschrieben. „Fortschritt“ oder gar „Freiheit“ sind so wenig Merkmale dieses Prozesses, wie das einmal eingesperrte Tier sich seiner tatsächlichen Freiheit im Befreiungsfall erfreuen würde.
Mit dieser Thematik befindet sich Rilke mitten im Abstammungsdiskurs des 19. Jahrhunderts und damit in Gesellschaft E.T.A. Hoffmanns (Nachricht von einem gebildeten jungen Mann) und Gustav Flauberts (Quidquid volueris), deren literarischen Versuchen, den Menschen als Primaten bzw. den Primaten als Mensch zu sehen, Franz Kafkas Bericht für eine Akademie bald nachfolgen sollte.
Nicht zufällig entstand dieses Gedicht in den ersten Monaten von Rilkes erstem Pariser Aufenthalt, der so entscheidend für sein weiteres Schaffen werden sollte. Nicht nur, „daß es in dieser weiten Stadt Heere von Kranken gibt, Armeen von Sterbenden, Völker von Toten“1, erschweren ihm das Einleben, sondern auch die „Sprache […] mit ihrem Alleskönnen“,2 die reduzierten menschlichen Kontakte ( außer zu Rodin), sein „Heimweh nach Rußland“3 und nicht zuletzt die Trennung von seiner Frau Clara, die ihm dann aber etwas über einen Monat später nachfolgt.
Wie die spätere Verarbeitung seiner Eindrücke im Malte zeigt, wird ihm Paris zu einer Simultanbühne der condition humaine und damit zu einer Weltstadt par excellence, geeignet, seine Zeit wie in einem Brennglas zu sehen. Hier findet er alias Malte „eine veränderte Welt. Ein neues Leben voll neuer Bedeutungen“, das ihn zu einem „Anfänger in meinen eigenen Verhältnissen“ macht.4 Paris schärft seine Sinne, vor allem den Sehsinn – „Ich lerne sehen“footnote]Rainer Maria Rilke: Werke in drei Bänden, Insel Verlag, Bd. 3, S. 110[/footnote] –, der durch Rodin zu einer neuen Kunstauffassung erzogen wird, wie sie schließlich zum Zyklus der Neuen Gedichte und mit ihnen zum sogenannten „Ding-Gedicht“ führt. Im Zuge dessen war, wie Rilke mitteilt, „das erste Ergebnis dieser strengen und guten Schulung das Gedicht ,Der Panther‘“.footnote]Rainer Maria Rilke: Briefe 1899–1926. Hg. Von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. 6 Bände, Insel Verlag, Bd. 2, S. 428[/footnote]

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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