Friederike Reents: Zu Gottfried Benns Gedicht „März. Brief nach Meran“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gottfried Benns Gedicht „März. Brief nach Meran“ aus Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Band I: Gedichte. 

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

März. Brief nach Meran

Blüht nicht zu früh, ach blüht erst, wenn ich komme,
dann sprüht erst euer Meer und euren Schaum,
Mandeln, Forsythien, unzerspaltene Sonne –
dem Tal den Schimmer und dem Ich den Traum.

Ich, kaum verzweigt, im Tiefen unverbunden,
Ich, ohne Wesen, doch auch ohne Schein,
meistens im Überfall von Trauerstunden,
es hat schon seinen Namen überwunden,
nur manchmal fällt er ihm noch flüchtig ein.

So hin und her – ach blüht erst, wenn ich komme,
ich suche so und finde keinen Rat,
daß einmal noch das Reich, das Glück, das fromme,
der abgeschlossenen Erfüllung naht.

 

 

Die Sehnsucht nach dem Reich der dichterischen Erfüllung

Anfang März, wenn die Schneeglöckchen ihre Spitzen durch den Winterboden treiben, hält man auch die allerletzten Tage der Kälte nur aus, weil man weiß, bald ist es vorbei – oder noch besser: eine Reise in den Süden steht bevor. Benn hat immer viel deutsches Sitzfleisch gehabt, von den „kleinen Badeorten am Golf de Lyon, von Zürich, Prag und Paris“ hielt er nicht viel, auch in politisch heiklen Situationen zog er es vor, in Deutschland zu bleiben. 1952 beläßt er es nicht bei der wie so oft rein imaginierten Reise mit rauschhafter, surrealistisch verfremdeter Sehnsucht nach dem Süden. Er will nun tatsächlich raus aus Berlin, aber nicht etwa in Richtung Locarno, das ihm „sehr snobig und emigratenüberladen“ scheint, sondern nach „dem stillen, alten Meran“.
Benn schreibt hier keine Postkarte aus dem Urlaub, die Bericht erstattet von Sonne, Wein und gutem Essen. Im zähen Berliner Vorfrühling kündet er dem kleinen Kurort sein Kommen an, dessen Pracht man vielleicht am eindrucksvollsten erlebt, wenn man vom Spazieren müde im Sessellift, die Beine über dem Weinberg baumelnd, langsam in das schräg von der Nachmittagssonne durchflutete, hellgrüne Tal einschwebt. Er beschwört die von Blütenduft durchtränkte Stimmung, die nicht nur das Passeier-Tal zum Schimmern bringt, sondern auch das lyrische Ich in einen traumgleichen, glühenden und sprühenden, produktiven Zustand zu versetzen vermag, der quasisakrale Erfüllung verspricht. Der Sehnsuchts- und Schmerzenslaut „ach“ drückt Vorfreude und die Angst davor aus, das Blühen könnte schon vorbei sein, wenn er kommt.
Dies ist keines der späten „Nicht-Gedichte“, die ohne Rücksicht auf Reim und Metrik im Parlando-Ton daherkommen – es gilt noch einmal Benns Ethos von der Form als höchstem Inhalt: Durch die Mitte der von Vierzeilern umarmten zweiten Strophe verläuft die Achse des Gedichts, sein Gravitationszentrum bildet der „Überfall von Trauerstunden“. Aber wer überfällt hier wen? Es ist das nunmehr großgeschriebene Lyrische Ich, das abrupt die düstere Grundierung des Daseins durchbricht und den Weg frei macht für den schöpferischen Augenblick. Hat es die unerträgliche Mitte ausgehalten und überwunden, dann ist dichterisches Schweben möglich. So sprach das lyrische Ich schon in den Rönne-Novellen „Bitte geben Sie mir den Weg frei, ich schwinge wieder.“ Das Schwingen bedeutet aber nicht ohne weiteres Leichtigkeit – um abzuheben, bedarf es einer Schwere, die Hauptbestandteil auch des dichterischen Daseins ist. Den nur singulär und singularisch auftauchenden Glücksmomenten gehen ein rat- und rastloses Suchen und, wie in unserem Gedicht, ein drängendes Beschwören voran. So, wie ein Kind die Eltern anfleht, „bitte noch einmal, ein letztes Mal“, das Lieblingsspiel zu spielen, will auch der alte Benn noch einmal das glück- und sinnstiftende Reich der dichterischen Erfüllung erfahren.
In Meran angekommen, ist er zunächst „reichlich enttäuscht“. Es ist naßkalt, „von Gebirge keine Spur und es blühte nichts weiter als das, was in Berlin auch schon in den Vorgärten blühte“, schreibt er in einem Brief. Von den Einwohnern hört er das, was man im Urlaub, trotz aller Naturverbundenheit, nie hören möchte: daß es nämlich seit vier Monaten keinen Tropfen geregnet habe und der jetzige Niederschlag ein Segen sei. Noch in Unkenntnis von Ozonlöchern und Erderwärmung lautet seine Klimakritik:

Der Frühling ist auch entartet in ganz Europa.

Aber schon vierundzwanzig Stunden später sieht die Welt ganz anders aus, „die Sonne ist da und alles ist herrlich, und es blüht doch schon viel und ich bin entzückt.“ Vorbei sind erst mal die Trauerstunden, und der sonst so reiseunlustige Benn blieb immerhin sechzehn Tage im Hotel in der Via Speckbacher. Er sprach, wie er dem Freund Friedrich Wilhelm Oelze anvertraute, hier kaum ein Wort und gesteht diesem – wen wundert’s? -, daß „keine Frau aufkommen könnte gegen den Ort, die Blüten, die Sonne und den Espresso auf dem Sesselliftrestaurant“. Es rauscht wieder.

Friederike Reentsaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einunddreißigster Band, Insel Verlag, 2007

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