Gertz Ueding: Zu Uwe Kolbes Gedicht „Diese Frau“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Uwe Kolbes Gedicht „Diese Frau“ aus Uwe Kolbe: Vineta. 

 

 

 

 

UWE KOLBE

Diese Frau

Diese Frau und die Reste von Häusern in Zeilen
von Häusern, die stehengeblieben sind,
und dieses Kind und kein Mann.
Nachkrieg, ein Ende der Kleinfamilie,
doch nicht der Beginn von etwas anderem.
Sehnsucht nach dem Muster des alten, wenn auch
umständehalber verschwommenen Bildes.
Beinahe nur einfach, beinahe nur schön, das Draußen
zu genießen, den tieferen, ruhigen Atem, diese wie neue
Sanftheit der Töne und Luft nach dem Lärmen und Brennen
und nach dem Unatembaren im Unterschlupf.
Unter dem Kopftuch die Locken hervor.
Dank einer Bö gibt das Kleid die Knie frei
im wieder erblühten Fleisch.
In Höhe der Taille der Kinderkopf.
Ohne Jahreszahl. Aber sehr deutlich mein Jahrhundert.

 

Die köstlichen einfachen Glücksgefühle

Gedichte sind auch Gedächtnishilfen, und es ist kein Zufall, daß der Erfinder einer bewußten Erinnerungstechnik ein einstmals berühmter Lyriker gewesen ist: Simonides von Keos, der im fünften Jahrhundert v. Chr. lebte. Reim und Rhythmus helfen dem Gedächtnis auf die Sprünge, die Verdichtung von Geschehnissen in prägnante, bewegende Bilder, die „imagines agentes“, entspricht der visuellen Anlage unseres Erinnerungsvermögens. Doch es gibt noch mehr, was dieses Gedicht aus unseren Tagen, oder genauer: aus den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, was Simonides und Kolbe zusammenschließt.
Vom griechischen Dichter erzählt man, als einziger sei er der Katastrophe entronnen, die sich durch den Zusammenbruch des Hallengewölbes über einer festlich speisenden Gesellschaft ereignete. Da man die Toten nicht mehr identifizieren konnte, fragte man den Überlebenden, und der erinnerte sich, indem er sich die Sitzordnung bei Tische vergegenwärtigte. Bewußte Erinnerung beginnt als Andenken, und die es üben und möglicherweise zelebrieren, sind die Überlebenden, die Davongekommenen, die dennoch gezeichnet bleiben – denn sie waren dabei, sind Zeugen des Geschehens, das sie nicht mehr losläßt.
Den Blick der Erinnerung fängt auch Uwe Kolbes Gedicht ein. Es ist offenbar inspiriert von einem Foto aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Eine Frau und ein Kind vor einer Ruinenlandschaft, fragmentarische Familie vor ihrer zerstörten Welt; auch sie schon waren Zeugen, Übriggebliebene aus einer Vorzeit und mit dem Andenken vertraut. Was fasziniert den späteren Betrachter des „umständehalber verschwommenen Bildes“ an dem Anblick, welches „Muster“ entzündet seine Sehnsucht? Eben nicht der Bann der zerbrochenen Welt, sondern was aus ihr hervorging, das Leben, das sich dennoch von ihr abhebt, die Zukunft, die aus dieser Vergangenheit leuchtet, ihre Strahlkraft gerade aus der dunklen Folie zieht (so wütete die Pest in Florenz, als die lebensbejahenden Geschichten des Decamerone erzählt wurden).
So dementiert das lyrische Erinnerungsbild sogar den Titel des ganzen Bandes, in dem es steht: „Vineta“, das ist der Name jener meerverschlungenen Stadt, deren Trümmer der Sage nach manchmal noch durchs Wasser hindurch zu sehen sind. Auch im Gedächtnis bleibt sie aber die Totenstadt auf dem Meeresgrund, und wer sie erblickt, dem antwortet das Nichts.
Der Dichter hat diese Bedeutungen nur wie hingetupft, fast bringt man ihn um den poetischen Gewinn, wenn man sie ans Licht bringt: Frau und Kind stehen abgewandt von der Trümmerstätte hinter ihnen, doch was sie wieder genießen, sind nicht etwa die heroischen Töne, die Kolbe noch in seiner DDR-Erinnerung nachhallen mögen (Auferstanden aus Ruinen), sondern die so köstlich einfachen Glücksgefühle, die durch Entbehrung berauschend wirken. So ist das ganze Bild voller Zeichen des Neuen, der noch zaghaft sich regenden Zukunft: die Locke, das zufällig entblößte Knie, der Kinderkopf, der hineinwächst in eine andere Zeit. Wenn der einfühlsame Betrachter des Fotos sich im Schlußvers zu dem Jahrhundert bekennt, dessen Wund- und Hoffnungsmale es trägt, dann stellt er sich dieser doppelten Zeugenschaft. Im Geflecht der sich kreuzenden Blicke hat die unaufdringliche, fast beiläufig notierte Erbschaft unseres Jahrhunderts ihr kunstvolles Emblem gefunden.

Gert Ueding, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2003

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